53 Wegetore

Pevara hielt den Mund, als sie zusammen mit Javindhra und Mazrim Taim durch das Dorf der Schwarzen Burg ging.

Hier herrschte überall Beschäftigung. In der Schwarzen Burg war immer jemand beschäftigt. In der Nähe fällten Soldaten Bäume; Geweihte schälten die Rinde ab und schnitten die Baumstämme dann mit konzentrierten Luftströmen zu Bauholz. Der Weg war mit Sägemehl bedeckt; fröstelnd wurde sich Pevara bewusst, dass der Bretterstapel in der Nähe vermutlich von Asha’man gesägt worden war.

Beim Licht! Sie hatte ja gewusst, was sie hier finden würde. Aber es war viel schwerer zu ertragen, als sie je gedacht hätte.

»Und seht Ihr«, sagte Taim, der mit einer hinter dem Rücken zur Faust geballten Hand ging. Mit der anderen Hand zeigte er auf eine zum Teil fertiggestellte Mauer aus schwarzem Stein. »Wachtposten im Abstand von fünfzig Fuß. Jeder mit zwei Asha’man besetzt.« Er lächelte zufrieden. »Dieser Ort wird uneinnehmbar sein.«

»Ja, in der Tat«, sagte Javindhra. »Beeindruckend.« Ihre Stimme klang leblos und desinteressiert. »Aber die Sache, über die ich mit Euch sprechen wollte. Wenn wir uns Männer mit der Drachennadel aussuchen könnten …«

»Schon wieder das?«, sagte Taim. Seine Augen hatten Feuer, das hatte dieser Mazrim Taim. Ein hochgewachsener schwarzhaariger Mann mit hohen saldaeanischen Wangenknochen. Er lächelte. Oder zeigte zumindest das, mit dem er noch am nächsten an einen derartigen Gesichtsausdruck herankam – ein schmales Verziehen der Lippen, das seine Augen nicht erreichte. Es sah … raubtierhaft aus. »Ich habe meinen Willen zum Ausdruck gebracht. Und doch hört Ihr nicht auf, darauf herumzureiten. Nein. Nur Soldaten und Geweihte.«

»Wie Ihr verlangt«, sagte Javindhra. »Wir denken weiter darüber nach.«

»Wochen sind vergangen«, erwiderte Taim, »und Ihr denkt noch immer darüber nach? Nun, es liegt mir fern, Aes Sedai infrage zu stellen. Mir ist egal, was Ihr macht. Aber die Frauen vor meinen Toren behaupten ebenfalls, von der Weißen Burg zu kommen. Wollt Ihr nicht, dass ich sie hereinbitte, damit sie sich mit Euch treffen können?«

Pevara fröstelte. Er schien immer so viel zu wissen und anzudeuten, dass er viel zu viel über die Innenpolitik der Weißen Burg wusste.

»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Javindhra kühl.

»Wie Ihr wollt. Aber Ihr solltet Eure Entscheidung bald treffen. Sie werden ungeduldig, und al’Thor hat ihnen die Erlaubnis gegeben, mit meinen Männern den Bund einzugehen. Sie werden sich nicht ewig damit abfinden, dass ich sie warten lasse.«

»Sie sind Rebellen. Ihr müsst sie überhaupt nicht beachten.«

»Rebellen mit einer viel größeren Gruppe als ihr. Wie viele seid Ihr noch mal? Sechs Frauen? Wenn man Euch so reden hört, könnte man glauben, dass Ihr den Bund mit der ganzen Schwarzen Burg eingehen wollt!«

»Vielleicht tun wir das auch«, sagte Pevara ruhig. »Uns sind keinerlei Einschränkungen auferlegt worden.«

Taim sah sie an, und sie hatte das eindeutige Gefühl, von einem Wolf gemustert zu werden, der sich fragte, ob sie wohl eine gute Mahlzeit abgab. Sie schob das Gefühl zur Seite. Sie war eine Aes Sedai, keine leichte Beute. Trotzdem dachte sie unwillkürlich daran, dass sie nur zu sechst waren. In einem Lager mit Hunderten von Männern, die die Macht lenken konnten.

»Ich habe mal an den Docks von Illian einen Himmelsfischer verenden sehen«, sagte Taim. »Der Vogel erstickte, weil er versucht hatte, zwei Fische gleichzeitig hinunterzuwürgen.«

»Habt Ihr dem armen Ding geholfen?«, fragte Javindhra.

»Narren ersticken immer, wenn sie zu viel hinunterschlingen, Aes Sedai«, antwortete Taim. »Was ging das mich an? Ich hatte an diesem Abend eine schöne Mahlzeit. Den Vogel und den Fisch. Ich muss gehen. Aber seid gewarnt, jetzt, da ich eine wehrhafte Mauer habe, müsst Ihr mir vorher Bescheid geben, wenn Ihr hinauswollt.«

»Ihr wollt das Kommen und Gehen reglementieren?«, fragte Pevara.

»Die Welt wird zu einem gefährlichen Ort«, sagte Taim. »Ich muss an die Bedürfnisse meiner Männer denken.«

Pevara war nicht entgangen, wie er sich um die »Bedürfnisse« seiner Männer kümmerte. Eine Gruppe junger Soldaten kam vorbei und salutierte Taim. Zwei hatten Prellungen im Gesicht, einer ein zugeschwollenes Auge. Asha’man wurden brutal geschlagen, wenn sie bei ihrer Ausbildung Fehler machten, dann enthielt man ihnen das Heilen vor.

Den Aes Sedai krümmte man kein Haar. Tatsächlich grenzte die ihnen erwiesene Ehrerbietung schon an Verhöhnung.

Taim nickte, dann ging er weiter und traf sich mit zwei seiner Asha’man, die in der Nähe neben einer Schmiede warteten. Sie begannen sofort, sich in gedämpften Tonfall zu unterhalten.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Pevara, sobald die Männer weg waren. Vielleicht sagte sie es zu schnell und verriet ihre Sorge, aber dieser Ort machte sie einfach nervös. »Das könnte sich unversehens in eine Katastrophe verwandeln. Allmählich glaube ich, wir sollten tun, was ich ursprünglich sagte – soll jede von uns ein paar Geweihte an sich binden und in die Weiße Burg zurückkehren. Es war nie die Rede davon, die ganze Schwarze Burg an die Kette zu legen, sondern den Zugang zu den Asha’man zu gewinnen und mehr über sie zu erfahren.«

»Genau das tun wir«, erwiderte Javindhra. »Ich habe in den letzten Wochen viel erfahren. Was habt Ihr gemacht?«

Pevara ließ sich von dem Tonfall der anderen Frau nicht herausfordern. Musste sie so widerborstig sein? Pevara hatte die Führung über diese Gruppe, und die anderen würden sich nach ihr richten. Was nicht bedeutete, dass sie es immer mit einem Lächeln taten.

»Das war eine interessante Gelegenheit«, fuhr Javindhra fort und schaute sich auf dem Gelände der Burg um. »Und ich bin der Meinung, dass er schließlich nachgeben wird, was die vollwertigen Asha’man angeht.«

Pevara runzelte die Stirn. Das konnte unmöglich Javindhras Ernst sein, oder? Nachdem Taim die ganze Zeit so stur gewesen war? Ja, sie hatte dem Vorschlag nachgegeben, länger in der Schwarzen Burg zu bleiben, um mehr über ihre Organisation in Erfahrung zu bringen und Taim zu bitten, ihnen den Zugang zu den mächtigeren Asha’man zu gestatten. Aber mittlerweile war offensichtlich, dass er nicht nachgeben würde. Das musste Javindhra doch erkennen.

Unglücklicherweise hatte Pevara in letzter Zeit ihre Probleme, Javindhra zu verstehen. Zuerst war die Frau anscheinend vehement gegen den Besuch bei der Schwarzen Burg gewesen und hatte sich nur mit der Mission einverstanden erklärt, weil die Höchste es befohlen hatte. Aber jetzt sprach sie von Gründen, hier zu bleiben.

»Javindhra.« Pevara trat näher an sie heran. »Ihr habt ihn doch gehört. Wir brauchen zur Abreise jetzt eine Erlaubnis. Dieser Ort verwandelt sich in einen Käfig.«

»Ich glaube, wir sind sicher«, sagte Javindhra und winkte ab. » Er weiß nicht über unsere Wegetore Bescheid.«

»Soweit wir das wissen.«

»Wenn Ihr es befehlt, dann bin ich sicher, dass die anderen gehen wollen. Aber ich beabsichtige, die Gelegenheit, etwas zu lernen, weiterhin zu nutzen.«

Pevara holte tief Luft. Diese unerträgliche Frau! Sicherlich würde sie doch nicht so weit gehen und ihren Befehl über die Gruppe ignorieren? Nachdem die Höchste selbst Pevara das Kommando übertragen hatte? Beim Licht, Javindhra wurde immer sprunghafter.

Sie trennten sich ohne ein weiteres Wort, Pevara fuhr auf dem Absatz herum und ging den Weg zurück. Nur mühsam beherrschte sie sich. Diese letzte Bemerkung war fast schon offener Ungehorsam gewesen. Nun, wenn sie nicht gehorchen und bleiben wollte, dann musste sie das eben tun. Es war Zeit, in die Weiße Burg zurückzukehren.

Überall um sie herum bewegten sich Männer in schwarzen Mänteln. Viele nickten ihr mit unterwürfigem Grinsen, Respekt vortäuschend, zu. Die hier verbrachten Wochen hatten nicht dafür sorgen können, dass sie sich in Gegenwart dieser Männer sicherer fühlte. Sie würde ein paar von ihnen zu Behütern machen. Drei. Drei von ihnen würde sie kontrollieren können, oder?

Immer dieser finstere Ausdruck, wie die Augen von Scharfrichtern, die darauf warteten, dass die nächsten Hälse vor ihnen aufgereiht wurden. Wie ein paar von ihnen vor sich hinmurmelten oder bei jedem Schatten zusammenzuckten oder sich den Kopf hielten und benommen aussahen. Sie stand im Zentrum des Wahnsinns, und es verschaffte ihr eine Gänsehaut, als wäre sie am ganzen Körper mit Tausendfüßlern bedeckt. Unwillkürlich schritt sie schneller aus. Nein, dachte sie. Ich kann Javindhra nicht hier lassen, nicht ohne es noch einmal zu versuchen. Sie würde es den anderen erklären, ihnen die Abreise befehlen. Dann würde sie sie bitten, Tarna zuerst, Javindhra anzusprechen. Sicherlich würden gemeinsame Argumente sie überzeugen.

Pevara erreichte die Hütten, die man ihnen überlassen hatte. Absichtlich schaute sie nicht zur Seite, auf die Reihe der kleinen Gebäude, in denen sich die mit dem Bund belegten Aes Sedai eingerichtet hatten. Sie hatte gehört, was einige von ihnen taten, wie sie ihre Asha’man mit… verschiedenen Methoden zu kontrollieren versuchten. Auch das verschaffte ihr eine Gänsehaut. Auch wenn sie die Ansicht vertrat, dass die meisten Roten eine zu schlechte Meinung über Männer hatten, was diese Frauen da taten, überschritt die Grenze nicht nur, sondern ließ sie mit einem Sprung hinter sich.

Sie betrat ihre Hütte und fand Tarna an ihrem Schreibtisch sitzen, wo sie einen Brief schrieb. Die Aes Sedai mussten sich ihre Hütten teilen, und sie hatte Tarna ganz bewusst gewählt. Man mochte sie ja zur Anführerin dieser Gruppe gemacht haben, aber Tarna war die Behüterin der Chroniken. Die Politik dieser Expedition war sehr kompliziert, da es so viele einflussreiche Mitglieder und so viele Meinungen gab.

Vergangene Nacht hatte Tarna zugestimmt, dass die Zeit zur Abreise gekommen war. Sie würde ihr helfen, sich um Javindhra zu kümmern.

»Taim hat die Schwarze Burg abgeriegelt«, sagte Pevara ruhig und setzte sich auf ihr Bett in dem kleinen, runden Raum. »Wir brauchen jetzt seine Erlaubnis, wenn wir gehen wollen. Er sagte es ganz nebensächlich, als sollte es gar nicht uns aufhalten. Als hätte er vergessen, uns eine Ausnahmeregelung für diese Regel zu geben.«

»Vermutlich war es auch so«, sagte Tarna. »Ich bin sicher, es ist nicht wichtig.«

Pevara hielt inne. Was? Sie versuchte es erneut. »Javindhra glaubt immer noch irrationalerweise, dass er seine Meinung ändern und uns den Bund mit vollwertigen Asha’man eingehen lässt. Es ist Zeit, Geweihte an uns zu binden und zu gehen, aber sie hat angedeutet, dass sie trotz meiner Absicht bleiben wird. Ich will, dass Ihr mit ihr sprecht.«

»Ehrlich gesagt habe ich über das nachgedacht, worüber wir gestern Abend gesprochen haben«, sagte Tarna und schrieb weiter. »Vielleicht war ich voreilig. Es gibt hier noch so viel zu lernen, und da ist die Angelegenheit mit den Rebellen draußen. Wenn wir gehen, werden sie sich mit den Asha’man verbinden, was nicht erlaubt sein dürfte.«

Die Frau schaute auf, und Pevara erstarrte. Da war etwas anderes in Tarnas Augen, etwas Kaltes. Sie war schon immer sehr distanziert gewesen, aber das hier war schlimmer.

Tarna lächelte, eine Grimasse, die in ihrem Gesicht völlig unnatürlich aussah. Wie das Lächeln auf den Lippen einer Leiche. Sie wandte sich wieder ihrem Bericht zu.

Hier läuft etwas ganz schrecklich falsch, dachte Pevara. »Nun, vielleicht habt Ihr ja recht«, hörte sie sich sagen. Ihr Mund arbeitete, auch wenn ihr Verstand schwankte.» Schließlich war diese Expedition ja Euer Vorschlag. Ich denke noch eine Weile darüber nach. Wenn Ihr mich entschuldigt.«

Tarna winkte doppeldeutig. Pevara stand auf, und ihre Jahre als Aes Sedai verhinderten, dass sich ihre Sorge in ihrer Haltung zeigte. Sie trat hinaus und ging nach Osten, die noch nicht fertig gestellte Mauer entlang. Ja, man hatte tatsächlich in regelmäßigen Abständen Postenstellungen eingebaut. Früher an diesem Morgen waren sie unbemannt gewesen. Jetzt standen dort Männer, die die Macht lenken konnten. Jeder dieser Männer konnte sie töten, bevor sie reagieren konnte. Sie konnte ihre Gewebe nicht sehen, und wegen ihrer Eide konnte sie nicht als Erste zuschlagen.

Sie wandte sich ab und begab sich zu einer kleinen Baumgruppe, ein Ort, der zu einem Garten werden sollte. Dort setzte sie sich auf einen Baumstumpf und atmete tief ein und aus. Die Kälte, die sie in Tarnas Augen gesehen hatte, die beinahe schon Leblosigkeit gewesen war, ließ sie noch immer frösteln.

Sie hatte von der Höchsten den Befehl erhalten, nur in einer völlig verzweifelten Situation Wegetore zu riskieren. Diese Situation erschien ihr durchaus verzweifelt. Sie umarmte die Quelle und lenkte die Stränge.

Das Gewebe zerfiel in dem Augenblick, in dem sie es vervollständigte. Es bildete sich kein Wegetor. Mit weit aufgerissenen Augen versuchte sie es erneut, erhielt aber das gleiche Ergebnis. Sie versuchte andere Gewebe, und sie funktionierten alle, aber Wegetore scheiterten jedes Mal.

Das Frösteln verwandelte sich tief in ihrem Inneren in Eiseskälte. Sie war gefangen.

Das waren sie alle.

Perrin ergriff Mats Hand. »Viel Glück, mein Freund.«

Mat grinste und zog den dunklen Hut an seiner breiten Krempe in die Stirn. »Glück? Ich hoffe, das alles läuft auf Glück hinaus. In Glück bin ich gut.«

Mat trug ein pralles Bündel über der einen Schulter, genau wie der knochige, knorrige Mann, den er als Noal vorgestellt hatte. Thom hatte sich seine Laute auf den Rücken geschnallt und trug ein ähnliches Bündel. Perrin war sich noch immer nicht sicher, was sie da eigentlich mitschleppten. Mat wollte nur wenige Tage bei dem Turm bleiben, also brauchten sie keine großen Vorräte.

Die kleine Gruppe stand auf dem Reisegelände neben Perrins Lager. Hinter ihnen bauten Perrins Leute lautstark das Lager ab. Keiner von ihnen hatte auch nur eine Ahnung, wie wichtig dieser Tag sein konnte. Moiraine. Moiraine lebte. Beim Licht, wenn das bloß die Wahrheit war.

»Bist du sicher, dass ich dich nicht überzeugen kann, mehr Hilfe mitzunehmen?«, fragte Perrin.

Mat nickte. »Tut mir leid. Diese Dinge… nun, sie sind meistens recht schwierig. Die Nachricht war eindeutig. Nur drei von uns können eintreten, sonst scheitern wir. Und wenn wir trotzdem scheitern … nun, dann hat sie eben selbst schuld daran, nicht wahr?«

Perrin runzelte die Stirn. »Sei einfach vorsichtig. Ich erwarte, mich nach deiner Rückkehr in Meister Denezels Schenke wieder von deinem Tabaksbeutel bedienen zu können. «

»Den bekommst du«, versicherte Thom und ergriff Perrins ausgestreckte Hand. Lächelnd zögerte er, ein leichtes Funkeln in den Augen.

»Was?«, wollte Perrin wissen.

Thom legte sich sein Bündel zurecht. »Wird sich jeder Bauernjunge, den ich kenne, in einen Edelmann verwandelt haben, wenn das alles hier vorbei ist?«

»Ich bin kein Edelmann«, sagte Mat.

»Ach ja?«, fragte Thom. »Prinz der Raben?«

Mat zog den Hut noch tiefer. »Die Leute können mich nennen, wie sie wollen. Das bedeutet nicht, dass ich so einer bin.« »Tatsächlich ist es …«, sagte Thom.

»Offne das Wegetor, damit wir aufbrechen können«, sagte Mat. »Schluss mit dem Unsinn.«

Perrin nickte Grady zu. Die Luft zerriss, ein sich verdrehender Lichtstreifen öffnete ein Portal, das einen breiten, langsam fließenden Fluss überblickte. »Das ist so nahe, wie er heran kann«, sagte Perrin. »Zumindest nicht ohne eine bessere Beschreibung. «

»Das reicht«, sagte Mat und streckte den Kopf durch das Tor. »Ihr öffnet eins für uns, damit wir zurückkommen können?«

»Jeden Tag zur Mittagszeit«, sagte Grady und wiederholte Perrins Befehl. »An derselben Stelle.« Er grinste. »Passt auf, dass Ihr Euch nicht die Zehen abschneidet, wenn es erscheint, Meister Cauthon.«

»Ich tue mein Bestes«, erwiderte Mat. »Ich hänge an diesen Zehen.« Er holte tief Luft und trat durch das Tor. Der stumme Noal, der nach Entschlossenheit roch, folgte ihm. Dieser Mann war viel zäher, als er aussah. Thom nickte Perrin zu, dann sprang er ebenfalls hindurch. Er war agil, auch wenn sein Bein noch immer von dem Kampf gegen den Blassen vor zwei Jahren steif war.

Das Licht leite euch, betete Perrin und winkte den dreien zu, als sie das Flussufer entlanggingen.

Moiraine. Eigentlich sollte er Rand Bescheid geben. Die Farben erschienen und zeigten Rand, der mit einer Gruppe Grenzländer sprach. Aber … Nein. Er konnte Rand nichts sagen, bevor er nicht sicher war, dass sie lebte. Etwas anderes zu tun wäre einfach nur grausam und würde bloß eine Einladung für Rand sein, sich in Mats Mission einzumischen.

Perrin drehte sich um, als sich das Portal schloss. Dabei fühlte er ein leichtes Pochen im Bein, wo ihn der Pfeil des Schlächters getroffen hatte. Diese Wunde war Geheilt worden, und soweit er es zu sagen vermochte, war die Heilung erfolgreich gewesen. Es gab keine Verletzung mehr. Aber sein Bein… es fühlte sich an, als könnte es sich trotzdem an die Wunde erinnern. Es war wie ein Schatten, beinahe nicht zu bemerken.

Faile kam mit neugierigem Gesichtsausdruck auf ihn zu. Gaul begleitete sie, und Perrin musste lächeln, als er sah, wie er Bain und Chiad immer wieder über die Schulter einen Blick zuwarf. Die eine trug seine Speere, die andere seinen Bogen. Anscheinend, damit er das nicht tun musste.

»Ich habe den Abschied verpasst?«, fragte Faile.

»Genau wie du es geplant hast«, erwiderte Perrin.

Sie schnaubte. »Matrim Cauthon hat einen schlechten Einfluss auf dich. Ich bin überrascht, dass er dich vor seinem Aufbruch nicht in eine weitere Schenke gezerrt hat.«

Witzigerweise erschienen die Farben und zeigten ihm Mat – der gerade gegangen war -, der an dem Fluss entlang ging. »So schlimm ist er gar nicht«, sagte Perrin. »Sind wir so weit?«

» Aravine hat alles organisiert und jeden auf Trab gebracht«, sagte Faile. »Wir sollten innerhalb der nächsten Stunde aufbrechen können.«

Diese Schätzung erwies sich als zutreffend. Etwa eine halbe Stunde später trat Perrin zur Seite, als ein gewaltiges Wegetor die Luft zerschnitt, erschaffen von Grady und Neald, die sich mit den Aes Sedai und Edarra verbunden hatten. Niemand hatte Perrins Entscheidung zum Aufbruch infrage gestellt. Falls Rand zu diesem Ort namens Feld von Merrilor reiste, dann wollte Perrin dort sein. Musste er dort sein.

Das Land auf der anderen Seite des Tors war wilder als das südliche Andor. Weniger Bäume, mehr Präriegras. In der Ferne erhoben sich ein paar Ruinen. Die offene Fläche vor ihnen war voller Zelte, Banner und Lager. Anscheinend hatte sich Egwenes Koalition versammelt.

Grady schaute hindurch, dann stieß einen leisen Pfiff aus. »Wie viele Menschen sind das?«

»Das sind die Halbmonde von Tear«, bemerkte Perrin und zeigte auf ein Banner. »Das da ist Illian. Auf der anderen Seite des Zeltes.« Ein grünes Banner mit neun goldenen Bienen kennzeichnete dieses Heer.

»Eine große Anzahl cairhienischer Häuser«, sagte Faile. » Nicht viele Aiel… keine Flaggen der Grenzlande.«

»Ich habe noch nie so viele Truppen an einem Ort gesehen«, sagte Grady.

Es geschieht tatsächlich, dachte Perrin mit klopfendem Herzen. Die Letzte Schlacht.

»Glaubst du, das reicht, um Rand aufzuhalten?«, fragte Faile. »Um uns dabei zu helfen, ihn davon abzuhalten, die Siegel zu brechen?«

»Uns zu helfen?«, fragte Perrin.

»Du hast Elayne gesagt, dass du zum Feld von Merrilor gehen würdest«, sagte Faile. »Um Egwenes Bitte zu entsprechen. «

»Oh, ich habe ihr gesagt, ich müsste dort sein«, erwiderte Perrin. »Aber ich habe nie gesagt, dass ich Egwenes Partei ergreife. Ich vertraue Rand, Faile, und es scheint mir richtig zu sein, dass er die Siegel zerbrechen muss. Das ist, als würde man ein Schwert schmieden. Für gewöhnlich nimmt man dazu nicht die Stücke einer zerbrochenen Waffe. Man holt sich neuen guten Stahl, den man schmiedet. Statt die alten Siegel zu flicken, wird er neue machen müssen.«

»Vielleicht«, sagte Faile. »Aber das wird ein schmaler Weg. So viele Heere an einem Ort. Wenn sich einige auf Rands Seite schlagen und die anderen auf die der Weißen Burg …«

Wenn sie sich gegeneinander wendeten, würde niemand gewinnen. Nun, Perrin würde eben dafür sorgen müssen, dass das nicht passierte.

Die Soldaten nahmen bereits in Reihen Aufstellung, um losmarschieren zu können. Perrin wandte sich ihnen zu. »Rand hat uns losgeschickt, um einen Feind zu suchen«, rief er lautstark. »Mit neuen Verbündeten kehren wir zu ihm zurück. Vorwärts, zur Letzten Schlacht!«

Nur die Leute in den ersten Reihen konnten ihn hören, aber sie jubelten und gaben die Worte nach hinten weiter. Rand oder Elayne hätten eine bedeutend mitreißendere Rede gehalten. Perrin würde die Dinge auf seine Weise tun müssen.

»Aravine«, rief er der molligen Amadicianerin zu. »Geht vor und sorgt dafür, dass es keine Streitereien gibt, wer wo sein Lager aufschlägt.«

»Ja, Lord Goldauge.«

»Sorgt für Abstand zu den anderen Heeren«, sagte Perrin und zeigte in die Richtung. »Lasst Gaul und Sulin einen guten Platz aussuchen. Richtet allen die folgende Botschaft aus, während sie aufbauen. Es gibt keine Verbrüderung mit anderen Streitkräften, sie werden auch nicht schief angesehen. Und es soll auch keiner einen Ausflug nach Süden machen! Wir befinden uns nicht mehr in der Wildnis, und ich will nicht, dass die Bauern sich wegen irgendeines Unsinns beschweren. «

»Ja, mein Lord«, sagte sie.

Er hatte Aravine nie gefragt, warum sie sich nicht einer der Gruppen angeschlossen hatte, die nach Amadicia zurückkehrten. Aber vermutlich lag das an den Seanchanern. Sie war offensichtlich eine Adlige, auch wenn sie nie viel über ihre Vergangenheit sprach. Er war froh, sie zu haben. Als seine Lagerverwalterin war sie die Verbindungsoffizierin zwischen den verschiedenen Fraktionen, aus denen sich sein Heer zusammensetzte.

Die Wolfsgarde hatte bei der Auslosung den ersten Platz gezogen, also führten sie das Heer an. Die große Marschkolonne setzte sich in Bewegung. Perrin schritt zu den Reihen, gab Befehle und wies noch einmal darauf hin, dass er keinen Ärger mit dem Landvolk oder den anderen Heeren haben wollte. Er blieb stehen, als er zu den Weißmänteln kam, die darauf warteten, dass sie an der Reihe waren. Berelain ritt wieder an Galads Seite; sie schienen völlig in ihre Unterhaltung vertieft. Beim Licht, in den vergangenen paar Tagen hatte die Frau so gut wie jeden wachen Augenblick mit Galad verbracht.

Perrin hatte die Weißmäntel und die Mayener nicht zusammen aufgestellt, aber dennoch schien sich das so ergeben zu haben. Als sie sich in Bewegung setzten, ritten Galads Weißmäntel in einer perfekten, vier Männer breiten Kolonne; auf ihren weißen Wappenröcken war das Sonnensymbol zu sehen. Perrins Bauch reagierte bei ihrem Anblick noch immer mit so etwas wie Panik, aber seit dem Prozess hatten sie überraschend wenig Ärger gemacht.

Mayenes Geflügelte Wachen ritten auf der anderen Seite, Gallenne direkt hinter Berelain. Sie hielten die Lanzen mit den roten Wimpeln erhoben; Harnische und Helme waren auf Hochglanz poliert. Sie sahen aus, als wollten sie zu einer Parade. Und vielleicht waren sie ja genau dorthin unterwegs. Wenn man zur Letzten Schlacht ritt, dann mit erhobener Lanze und polierter Rüstung.

Perrin setzte seinen Weg fort. Als Nächstes kam Alliandres Heer, das in der engen Formation der schweren Kavallerie ritt, acht Männer in einer Reihe, Arganda an der Spitze. Er bellte einen Befehl, als er Perrin erblickte, und die Soldaten des Heerwurms drehten sich um und salutierten.

Perrin erwiderte den Gruß. Er hatte Alliandre danach gefragt, und sie hatte angedeutet, dass das die angemessene Erwiderung war. Sie ritt auf einem Damensattel neben Arganda und trug ein weinrotes Gewand mit Goldbesatz. Eine unpraktische Reitkleidung, aber sie würden ja nicht lange im Sattel sitzen. Dreihundert Schritte und fast eintausendzweihundert Meilen.

Ihre Zufriedenheit, als er ihren Soldaten salutierte, blieb ihm nicht verborgen. Es freute sie zu sehen, dass er in seine Rolle als Anführer der Koalition schlüpfte. Tatsächlich taten das viele im Lager. Vielleicht hatten sie ja zuvor mitbekommen, wie sehr er die Führung verabscheute. Wie schafften die Leute das nur, wo sie doch keine Gefühle riechen konnten?

»Lord Perrin«, sagte Alliandre, als sie an ihm vorbeiritt. Sie machte eine knappe Verbeugung, das Äquivalent eines Hofknickses im Sattel. »Solltet Ihr nicht auf einem Pferd sitzen?«

»Ich gehe gern zu Fuß«, erwiderte Perrin.

»Es sieht kühner aus, wenn ein Kommandant reitet.«

»Ich habe mich entschieden, diesen Haufen anzuführen, Alliandre«, sagte Perrin barsch, »aber ich werde das auf meine Weise machen. Das bedeutet, ich gehe, wenn ich das will.« Sie gingen doch bloß ein paar Schritte durch das Wegetor. Da reichten seine Füße auf jeden Fall aus.

» Natürlich, mein Lord.«

»Sobald wir uns eingerichtet haben, möchte ich, dass Ihr ein paar Männer zurück nach jehannah schickt. Seht, ob Ihr noch andere rekrutieren könnt, nehmt jeden Stadtwächter, den Ihr kriegen könnt. Bringt sie her. Wir brauchen jeden, der kann, und ich will ihnen so viel Zeit wie möglich für ihre Ausbildung verschaffen, bevor dieser Krieg losbricht.«

»Gern, mein Lord.«

»Ich habe bereits Leute nach Mayene geschickt«, fuhr Perrin fort. »Und Tarn sammelt in den Zwei Flüssen so viele Leute ein, wie er kann.« Beim Licht, wie sehr er sich doch wünschte, er könnte sie daheim auf ihren Höfen lassen, wo sie in Frieden lebten, während anderswo der Sturm tobte. Aber das war jetzt wirklich das Ende. Er konnte es spüren. Wenn sie diesen Kampf verloren, dann verloren sie alles. Die Welt. Das Muster selbst. Damit konfrontiert, würde er selbst Jungen, die kaum ein Schwert halten konnten, in den Kampf schicken, und Großväter, die kaum noch laufen konnten. Es drehte ihm den Magen um, das zuzugeben, aber das war nun einmal die Wahrheit.

Er schritt die Reihen weiter ab und gab noch anderen Gruppen Befehle. Als er mit der letzten fertig war, bemerkte er eine Handvoll Männer aus den Zwei Flüssen. Einer, Azi, hielt das Wolfskopfbanner. Jori Congar verlangsamte das Tempo. Er blieb stehen und winkte die anderen drei weiter, bevor er zu Perrin herüberkam. Stimmte etwas nicht?

»Lord Perrin.« Der lange und schlanke Jori stand da wie ein Vogel auf einem Bein. »Ich …«

»Ja?«, sagte Perrin. »Heraus damit.«

»Ich möchte mich entschuldigen.« Die Worte überstürzten sich fast.

»Weswegen?«

»Ein paar Dinge, die ich sagte.« Jori schaute zu Boden. »Ich meine, dumme Dinge. Das war, nachdem Ihr krank wart, wisst Ihr, und man hatte Euch in das Zelt der Ersten gebracht und … nun, ich …«

»Schon gut, Jori«, sagte Perrin. »Ich verstehe.«

Jori schaute lächelnd auf. »Es ist ein Vergnügen, hier bei Euch sein zu können, Lord Perrin. Ein echtes Vergnügen. Wir folgen Euch überall hin, die anderen und ich.«

Und damit salutierte Jori und lief los. Perrin kratzte sich am Bart und sah dem Mann hinterher. Jori war einer von einem guten Dutzend Männer von den Zwei Flüssen, die in den letzten Tagen an ihn herangetreten waren, um sich zu entschuldigen. Anscheinend hatten sich alle schuldig gefühlt, weil sie Gerüchte über ihn und Berelain in die Welt gesetzt hatten, obwohl das keiner von ihnen geradeheraus gesagt hatte.

Er segnete Faile für das, was auch immer sie hier getan hatte.

Da nun alles erledigt war, holte er tief Luft, schritt die Marschkolonne entlang und trat durch das Tor.

Komm schnell, Rand, dachte er, und Farben erfüllten sein Blickfeld. Ich kann fühlen, wie es anfängt.


Mat stand da, Thom zu seiner Linken, Noal zu seiner Rechten, und schaute an den Bäumen vorbei zu dem sich vor ihnen erhebenden Turm. Hinter ihnen plätscherte ein sprudelnder Bach, ein Nebenarm des in der Nähe liegenden Arinelle. Außerdem lag eine grasige Ebene hinter ihnen, und dahinter lag der große Fluss.

War er diesen Weg schon einmal gegangen? So viele Erinnerungen aus dieser Zeit bestanden nur noch aus Fragmenten. Aber dieser Turm stand immer noch ganz deutlich vor seinem inneren Auge, wie er ihn aus der Ferne sah. Nicht einmal die Dunkelheit von Shadar Logoth hatte das aus seinem Gedächtnis tilgen können.

Der Turm schien nur aus Metall zu bestehen; der solide Stahl funkelte im durch die Wolkendecke dringenden Sonnenlicht. Mat verspürte Eiseskälte zwischen den Schulterblättern. Viele Reisende auf dem Fluss hielten ihn für ein Relikt aus dem Zeitalter der Legenden. Was sollte man sonst von einer scheinbar unbewohnten Stahlsäule halten, die sich aus dem Wald erhob? Sie war so natürlich und fehl am Platz wie die verdrehten roten Türdurchgänge. Die einem den Blick verzerrten.

Der Wald fühlte sich viel zu still an; abgesehen von ihren Schritten war kein Laut zu hören. Noal ging mit einem langen Stab, der größer als er selbst war. Wo hatte er den denn her? Er hatte das glatte, ölige Aussehen von Holz, das beträchtlich mehr Jahre als Wandererstab verbracht hatte als zuvor als Baum. Noal hatte auch Hosen angezogen, die so dunkelblau waren, dass sie fast schwarz wirkten, und dazu ein Hemd in einem seltsamen, fremden Schnitt. Die Schultern waren steifer, als Mat es kannte, und der dazugehörige Mantel war länger, er reichte fast bis über Noals Knie. Er war bis zur Taille zugeknöpft und klaffte dann an den Beinen auf. Sehr seltsam, in der Tat. Der alte Mann beantwortete nie Fragen über seine Vergangenheit.

Thom hatte sich für seine Gauklerkleidung entschieden. Es war gut, ihn wieder darin zu sehen, statt in der plüschigen Hofbarden-Ausstattung. Der Flickenmantel, das einfache, an der Vorderseite verschnürte Hemd, die engen Hosen, die in den Stiefeln steckten. Als Mat ihn nach seiner Wahl gefragt hatte, hatte Thom nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Es fühlt sich einfach richtig an, das anzuziehen, wenn ich zu ihr gehe.«

Mit »ihr« war Moiraine gemeint. Aber was hatten die Schlangen und Füchse mit ihr gemacht? So viel Zeit war vergangen, aber er wollte verdammt sein, wenn er noch eine weitere Stunde verstreichen ließ. Er hatte sich für eine waldgrüne und erdbraune Ausstattung entschieden, zusammen mit einem dunkelbraunen Umhang. Sein Bündel hatte er über den einen Arm gelegt, den Ashandarei hielt er in der Hand. Er hatte mit dem neuen eisernen Gegengewicht am Schaftende geübt und war damit sehr zufrieden.

Die Eelfinn hatten ihm diese Waffe gegeben. Nun, sollten sie es wagen, sich zwischen ihn und Moiraine zu stellen, dann würden sie erleben, was er mit ihrem Geschenk alles machen konnte. Sollte man ihn doch zu Asche verbrennen, das würden sie.

Die drei Männer traten vor den Turm. Nirgendwo auf der zweihundert Fuß hohen Fläche schien es eine Öffnung zu geben. Kein Fenster, keine Fuge, kein Kratzer. Mat schaute nach oben und fühlte sich desorientiert, als er die funkelnde Länge entlang in den fernen grauen Himmel schaute. Reflektierte der Turm nicht eigentlich zu viel Licht?

Er erschauderte und wandte sich Thom zu. Dann nickte er.

Thom zögerte nur kurz, dann zog er ein Bronzemesser aus der Scheide an seinem Gürtel und trat vor, um die Spitze auf den Turm aufzusetzen. Grimmig beschrieb er mit der Klinge ein Dreieck, das etwa eine Handfläche breit war und dessen Spitze nach unten zeigte. Metall kratzte auf Metall, hinterließ aber keine Spuren. Abschließend zeichnete Thom eine Wellenlinie in die Mitte, wie man das am Anfang einer jeden Partie Schlangen und Füchse tat.

Keiner sagte ein Wort. Mat sah Thom an. »Hast du das auch richtig gemacht?«

»Ich glaube schon«, erwiderte Thom. »Aber woher sollen wir wissen, was ›richtig‹ ist? Das Spiel gibt es seit…«

Er verstummte, als ein Lichtstreifen auf der Turmwand erschien. Mat sprang zurück und hob den Speer. Die glühenden Linien bildeten ein Dreieck, das dem entsprach, welches Thom gezeichnet hatte, dann verschwand der Stahl in der Mitte des Dreiecks – so schnell wie der Flügelschlag einer Motte.

Noal betrachtete das handflächengroße Loch. »Das ist etwas klein, um hindurchzukriechen.« Er trat heran und schaute hinein. »Auf der anderen Seite ist nur Dunkelheit zu sehen.«

Thom schaute auf sein Messer. »Ich vermute, das Dreieck ist in Wirklichkeit ein Eingang. Darum zeichnet man es, wenn man das Spiel beginnt. Soll ich ein Größeres aufmalen?«

»Ja, klar«, sagte Mat. »Es sei denn, der Gholam hat dir beigebracht, wie man sich durch faustgroße Löcher quetschen kann.«

»Kein Grund, so verbiestert zu sein«, meinte Thom und zeichnete ein weiteres Dreieck um das Erste, dieses Mal aber groß genug, um hindurchgehen zu können. Er schloss mit der Wellenlinie.

Mat zählte. Es dauerte sieben Herzschläge, bis die weißen Linien erschienen. Zwischen ihnen löste sich der Stahl auf und gab den Weg in einen dreieckigen Korridor frei, der in den Turm führte. Das Innere schien aus solidem Stahl zu bestehen.

»Soll mich doch das Licht verbrennen«, flüsterte Noal. Der Korridor verschwand in der Dunkelheit; das Sonnenlicht schien zu zögern, in die Öffnung zu dringen, obwohl das vermutlich nur eine Sinnestäuschung war.

»Und so beginnen wir ein Spiel, das man nicht gewinnen kann«, sagte Thom und schob das Messer zurück in die Scheide.

»Mut, um zu stärken«, flüsterte Noal, hob eine Laterne mit flackernder Flamme und trat einen Schritt vor. »Feuer, um zu blenden. Musik, um zu verwirren. Eisen, um zu binden.«

»Und Matrim Cauthon«, fügte Mat hinzu. »Um die Chancen verdammt noch mal zu verbessern.« Er trat durch den Eingang.

Licht blitzte auf, grell, weiß, blendend. Fluchend kniff er die Augen zusammen und senkte den Ashandarei in einer wie er hoffte drohenden Geste. Er blinzelte, und das Weiß verschwand. Er stand in der Mitte eines großen Raumes, genau hinter ihm gab es eine freistehende dreieckige Öffnung, deren Spitze sich auf dem Boden befand. Sie war tiefschwarz, und ihr Rahmen bestand aus verdrehten Schnüren, die an einigen Stellen aus Metall und an anderen aus Holz zu bestehen schienen.

Der Raum war ebenfalls schwarz und wie ein verzogenes Quadrat geformt. Aus Löchern in allen vier Ecken strömte weißer Dampf empor; der Nebel glühte mit einem weißen Licht. Aus dem Raum führten vier Gänge, einer in jede Richtung.

Das Gemach war nicht genau quadratisch. Jede Seite wies eine leicht unterschiedliche Länge auf, was in den Ecken für seltsame Winkel sorgte. Und dieser Dampf! Er sonderte einen schwefeligen Gestank ab, der Mat durch den Mund atmen lassen wollte. Die onyxfarbenen Steine waren kein Stein, sondern ein spiegelndes Material, das an die Schuppen eines gewaltigen Fisches erinnerte. Der Dampf sammelte sich unter der Decke und glühte leicht.

Sollte man ihn doch zu Asche verbrennen! Das glich nicht einmal annähernd dem Ort, den er damals besucht hatte, der Ort mit den runden Durchgängen, aber er hatte auch keine Ähnlichkeit wie der zweite Ort mit den sternförmigen Räumen und Streifen aus gelbem Licht! Wo war er? Wo war er da nur reingeraten? Nervös drehte er sich um.

Thom stolperte blinzelnd und benommen durch das Tor. Mat ließ sein Bündel fallen und packte den Gaukler am Arm. Noal kam als Nächster. Der knochige Mann verlor nicht den Halt, war aber offensichtlich geblendet und hielt seine Laterne schützend vor sich.

Beide blinzelten, Noals Augen tränten, aber schließlich fanden sie sich zurecht und schauten sich um. Der Raum war so leer wie die in alle vier Richtungen abzweigenden Gänge.

»Das sieht gar nicht so aus, wie du es beschrieben hast, Mat«, sagte Thom. Seine Stimme hallte leicht, allerdings klang sie auf unheimliche Weise verzerrt. Beinahe wie ein Flüstern, das zu ihnen zurückgeworfen wurde. Mats Nackenhaare stellten sich auf.

»Ich weiß.« Mat zog eine Fackel aus seinem Bündel. »Dieser Ort macht keinen Sinn. Zumindest stimmen die Geschichten darin überein. Hier, entzündet die, Noal.«

Thom holte ebenfalls eine Fackel hervor, und sie entzündeten beide an Noals Laterne. Von Aludra hatten sie Zündhölzer, aber die wollte Mat sparen. Er hatte befürchtet, dass Flammen im Turm sofort wieder erloschen, wenn man sie entzündete. Aber das Licht brannte gleichmäßig. Das machte ihm etwas Mut.

»Wo sind sie also?«, fragte Thom und schritt die Wände des schwarzen Raumes ab.

»Sie sind nie da, wenn man reinkommt«, sagte Mat, hielt seine Fackel hoch und untersuchte eine der Wände. Hatte man da Schriftzeichen in den Nicht-Stein gekratzt? Die fremdartige Schrift war so zierlich, dass er sie kaum erkennen konnte. »Aber passt auf. Sie erscheinen schneller hinter einem als ein Wirt, der Münzen in deinem Geldbeutel klirren hört.«

Noal untersuchte das Dreieckstor, durch das sie gekommen waren. »Glaubt ihr, wir kommen hier auch wieder raus?« Es ähnelte den Stein-Ter’angrealen, durch die Mat getreten war. Hatte nur eine andere Form.

»Das hoffe ich doch«, sagte er.

»Vielleicht sollten wir es ausprobieren«, schlug Noal vor.

Mat nickte ihm zu. Er wollte nicht, dass sie getrennt wurden, aber sie mussten wissen, ob das ein Rückweg war oder nicht. Mit entschlossener Miene trat Noal hindurch. Er verschwand.

Einen langen Augenblick hielt Mat die Luft an, aber er kehrte nicht zurück. War das ein Trick? War dieser Durchgang hier platziert worden um …

Noal stolperte durch die Öffnung wieder in den Raum. Thom ließ seine Fackel auf den Boden fallen und lief herbei, um ihm zu helfen. Dieses Mal erholte sich Noal schneller und blinzelte die Blindheit fort. »Es hat mich ausgesperrt«, erklärte er. »Ich musste ein weiteres Dreieck zeichnen, um wieder hereinzukommen.«

»Wenigstens wissen wir, dass wir einen Fluchtweg haben«, sagte Thom.

Solange die verdammten Aelfinn und Eelfinn es nicht verschieben, dachte Mat und erinnerte sich an seinen vorherigen Besuch, der damit geendet hatte, dass man ihn aufhängte. Damals hatten sich Räume und Korridore auf geheimnisvolle Weise verändert, in völligem Widerspruch zu allem, was richtig war.

»Seht euch das an«, sagte Thom.

Mat senkte den Speer, und Noal hatte plötzlich ein eisernes Kurzschwert in der Hand. Thom zeigte auf seine Fackel, die neben einer der glühenden Dampföffnungen auf dem Boden brannte.

Der weiße Dampf wich vor den Flammen zurück, wie von einem Luftzug bewegt. Aber kein Luftzug hatte jemals Dampf sich auf so unnatürliche Weise bewegen lassen. Er krümmte sich über dem Feuer zu einer Schlinge. Thom hob die Fackel auf, hielt sie an die Dampfsäule, und sie wich einfach aus. Thom stieß sie in den Dampf hinein, und er riss auseinander, umging die Flamme und verschmolz darüber wieder zu einem Strom.

Thom sah die anderen an.

»Frag nicht mich«, sagte Mat stirnrunzelnd. »Ich habe gesagt, dass dieser Ort keinen Sinn ergibt. Wenn das das Verrückteste ist, was wir hier zu sehen bekommen, dann bin ich ein murandianischer Schnurrbart. Kommt weiter.«

Er wählte einen Korridor aus und betrat ihn. Die anderen beiden beeilten sich, mit ihm Schritt zu halten. Der Dampf glühte an der Decke und tauchte den schwarzen Gang in sein milchiges Licht. Der Boden setzte sich aus dreieckigen Fliesen zusammen, die wieder auf beunruhigende Weise an Schuppen erinnerten. Der Korridor war breit und lang, das andere Ende war dunkel und schien in weiter Ferne zu liegen.

»Wenn man bedenkt«, sagte Noal und hielt seine Laterne hoch, »dass das alles in einem einzelnen Turm verborgen ist.«

»Ich bezweifle, dass wir uns noch im Turm befinden«, meinte Mat. Ein Stück voraus konnte er einen Spalt in der Wand sehen, eine Art Fenster. Es war ein Stück zu weit oben, um natürlich zu erscheinen.

»Wo denn dann …« Noal verstummte, als sie das Fenster erreichten, das ein schiefes Quadrat darstellte. Es gab den Blick auf eine unnatürliche Landschaft frei. Sie befanden sich mehrere Stockwerke hoch in einer Art Turm, aber das da draußen war mit Sicherheit nicht Andor.

Das Fenster schaute auf Baumwipfel aus dichter Vegetation hinaus, die zu gelb war. Mat erkannte die schmächtigen Bäume mit dem hängenden Geäst hoch oben, obwohl er sie zuvor nur vom Boden aus gesehen hatte. Die Fächerbäume mit ihren ausgebreiteten Blättern waren ebenfalls vertraut, obwohl nun tiefschwarze Früchte daran baumelten. Sie zogen die Blätter nach unten.

»Der Kornschwinger habe Gnade«, flüsterte Noal, ein Satz, den Mat noch nie zuvor gehört hatte.

Noal hatte jedes Recht, erstaunt zu sein; Mat erinnerte sich, wie er das erste Mal diesen Wald erblickt und erkannt hatte, dass ihn der verdrehte Türrahmen nicht an einen anderen Ort gebracht hatte, sondern auf eine andere Welt.

Er schaute zur Seite hinaus. Konnte er die drei Türme sehen, die ihm bei seinem ersten Besuch aufgefallen waren? Sie schienen nicht da zu sein, aber an diesem Ort konnte bereits das nächste Fenster einen ganz anderen Anblick zeigen. Sie konnten …

Er hielt inne, dann blickte er noch einmal scharf hin. Links war ein Turm auszumachen. Und dann wusste er Bescheid. Er befand sich in einem der Türme, die er bei seinem ersten Besuch in der Ferne gesehen hatte.

Ein Frösteln unterdrückend, wandte er sich ab. Zumindest wusste er jetzt mit Sicherheit, dass er sich am selben Ort befand. Bedeutete das, dass die Welten der Aelfinn und Eelfinn miteinander identisch waren? Er hoffte es. Moiraine war durch den zweiten der verdrehten roten Türrahmen gestürzt, was bedeutete, dass sie vermutlich von den Eelfinn, den Füchsen, gefangen genommen worden war.

Das waren die, die Mat gehängt hatten; die Schlangen hatten ihn wenigstens ohne vernünftige Antworten aus ihrem Reich geworfen. Das machte er ihnen noch immer zum Vorwurf, aber die Füchse … sie hatten sich geweigert, seine Fragen zu beantworten und ihm stattdessen diese verdammten Erinnerungen gegeben!

Sie gingen weiter, und ihre Schritte hallten laut. Bald hatte Mat das Gefühl, beobachtet zu werden. Das kannte er bereits von seinen vorherigen Besuchen. Er wandte den Kopf und sah weit hinter sich den Hauch einer Bewegung.

Er fuhr herum, darauf gefasst, die Fackel zur Seite zu schleudern und mit dem Ashandarei zu kämpfen, aber da war nichts. Seine Gefährten erstarrten, dann schauten sie sich nervös um. Mat setzte sich wieder in Bewegung und kam sich albern vor, aber das legte sich, nachdem Thom kurze Zeit später das Gleiche tat. Thom ging sogar einen Schritt weiter und schleuderte ein Messer gegen eine dunkle Stelle an der Wand.

Die Eisenwaffe klirrte gegen die Oberfläche. Der dumpfe Aufprall hallte viel zu lang durch den Gang. »Tut mir leid«, sagte Thom. »Schon gut«, erwiderte Mat.

»Sie beobachten uns, nicht wahr?« Noals Stimme war leise und klang gepresst. Beim Licht! Mat fühlte sich, als würde er jeden Augenblick aus der Haut fahren, loslaufen und sie hinter sich zurückgelassen. Verglichen damit schien Noal die Ruhe selbst zu sein.

»Das vermute ich«, sagte Mat.

Augenblicke später erreichten sie das Ende des viel zu langen Korridors. Hier betraten sie einen Raum, der mit dem ersten identisch war, wenn man einmal davon absah, dass in der Mitte die Dreieckstür fehlte. Wieder gab es vier Ein- und Ausgänge, und jeder Korridor führte in undurchdringliche Dunkelheit.

Sie wählten eine andere Richtung und vertrauten den Weg, den sie nahmen, ihrer Erinnerung an, während sich unsichtbare Augen in ihre Rücken zu bohren schienen. Mats Schritte wurden eiliger, als sie den Korridor hinter sich ließen und ein weiteres Gemach betraten. Es war genau wie das vorherige.

»An so einem Ort kann man leicht die Orientierung verlieren«, sagte Noal. Er öffnete sein Bündel und nahm ein Blatt Papier und einen Kohlestift heraus. Er malte drei Punkte auf, dann verband er sie mit Strichen; das alles repräsentierte die Korridore und Räume, durch die sie gekommen waren. »Es kommt nur darauf an, eine gute Karte anzufertigen. Eine gute Karte kann den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten, das könnt ihr mir glauben.«

Mat drehte sich um und schaute den Weg zurück, den sie gekommen waren. Ein Teil von ihm wollte einfach weitergehen und nicht zurückblicken, aber er musste es wissen. »Kommt schon«, sagte er und ging den Weg zurück, den sie gekommen waren.

Thom und Noal wechselten einen Blick, dann eilten sie ihm wieder hinterher. Sie brauchten eine gute halbe Stunde für den Rückweg zu dem ersten Raum, den mit der Dreieckstür. Sie fanden ihn leer vor. Aus den Ecken stiegen die Dampfsäulen auf, so wie in den anderen beiden Räumen auch.

»Unmöglich!«, sagte Noal. »Wir sind den Weg genau zurückgegangen! Der Ausgang müsste hier sein.«

In der Ferne hörte Mat Gelächter, leise, fast nicht wahrnehmbar. Ein zischendes, gefährliches Gelächter. Bösartig.

Mats Haut wurde eiskalt. »Thom«, sagte er, »hast du je eine Geschichte über Birgitte Silberbogen und ihren Besuch im Turm von Ghenjei gehört?«

»Birgitte?«, fragte Thom und schaute vom Boden auf, den er gemeinsam mit Noal untersucht hatte. Sie schienen davon überzeugt zu sein, dass das Dreieck durch eine verborgene Falltür in die Tiefe gezogen worden sein musste. »Nein, könnte ich nicht behaupten.«

»Was ist mit einer Geschichte über eine Frau, die zwei Monate lang in einem Korridorlabyrinth in einer Festung gefangen saß?«

»Zwei Monate? Nein. Aber da gibt es die Geschichte von Elmiara und den Schattenaugen. Sie wanderte hundert Tage durch ein Labyrinth und suchte nach der berüchtigten Heilquelle von Sund, um das Leben ihres Geliebten zu retten.«

Das war es vermutlich. Die Geschichte hatte überlebt; sie hatte nur eine andere Form, wie es mit so vielen von ihnen geschah. »Sie fand keinen Weg hinaus, oder?«

»Nein. Am Ende starb sie, nur zwei Schritte von dem Brunnen entfernt, aber durch eine Wand von ihm getrennt. Sie konnte sein Plätschern hören, es war der letzte Laut, den sie hörte, bevor sie verdurstete.« Unbehaglich blickte er sich um, als wäre er sich unsicher, ob er eine solche Geschichte an diesem Ort erzählen wollte.

Mat schüttelte besorgt den Kopf. Verflucht, wie er diese Füchse doch hasste. Es musste doch einen Weg geben …

»Ihr habt die Vereinbarung gebrochen«, sagte eine leise Stimme.

Mat fuhr herum, und die anderen beiden fluchten, standen auf und legten die Hände auf die Waffen. Im Korridor hinter ihnen stand eine Gestalt. Es war eines der Geschöpfe, an die sich Mat erinnerte, vielleicht sogar dasselbe, das er das letzte Mal getroffen hatte. Kurzes hellrotes Haar spross aus der bleichen Kopfhaut. Enganliegende Ohren liefen oben in einer angedeuteten Spitze aus. Die Gestalt war groß und sehnig, aber die Schultern waren zu breit für die schmale Taille. Über ihrer Brust kreuzten sich helle Lederstreifen – Mat wollte noch immer nicht darüber nachdenken, woraus sie wohl bestanden -, darunter schloss sich ein langer schwarzer Kilt an.

Es war das Gesicht, das am eindrucksvollsten war. Große unnatürliche Augen, beinahe farblos mit dem Schatten einer Iris in der Mitte. Ein schmaler Kiefer und eckige Züge. Wie ein Fuchs. Einer der Eelfinn, die Herren dieses Reichs.

Die Kreatur war gekommen, um mit den Mäusen zu spielen.

»Bei unserem Weg gilt keine Vereinbarung«, erwiderte Mat und versuchte ganz ruhig zu klingen. »Wir können verdammt noch mal mitbringen, was wir wollen.«

»Keine Vereinbarung zu haben ist gefährlich«, sagte der Eelfinn mit glatter Stimme. »Für Euch. Glücklicherweise kann ich Euch an den Ort bringen, an den Ihr wollt.«

»Nun, dann tut das.«

»Lasst Euer Eisen zurück«, sagte der Eelfinn. »Eure Musikinstrumente. Euer Feuer.« »Niemals«, sagte Mat.

Der Eelfinn blinzelte. Langsam, überlegt. Mit leisen Schritten trat er näher. Mat hob seinen Ashandarei, aber der Eelfinn machte keine bedrohlichen Bewegungen. Er glitt um die drei Männer herum und sprach leise.

»Nun hört aber auf. Können wir nicht mit Höflichkeit sprechen? Ihr seid als Suchende in unser Reich gekommen. Wir haben die Macht, Euch zu geben, was Ihr wünscht, was Ihr braucht. Warum nicht guten Glauben zeigen? Lasst Eure Werkzeuge zum Feuermachen zurück. Nur die, und ich verspreche Euch, eine Weile zu führen.«

Seine Stimme war hypnotisch, beruhigend. Was er sagte, machte Sinn. Wozu brauchten sie Feuer? Der Nebel sorgte für genug Helligkeit. Er …

»Thom«, sagte Mat. »Musik.«

»Was?«, sagte Thom, der leicht zitterte.

»Spiel was. Egal was.«

Thom holte seine Flöte heraus, und der Eelfinn kniff die Augen zusammen. Thom fing an zu spielen. Es war ein bekanntes Lied. »Der Wind, der die Weiden schaukelt«. Mat hatte den Eelfinn beruhigen wollen, ihn vielleicht aus dem Gleichgewicht bringen. Aber die vertraute Melodie half, den Nebel aus seinem Verstand zu verscheuchen.

»Das ist unnötig«, sagte der Eelfinn und starrte Thom böse an.

»Doch, ist es«, erwiderte Mat. »Und wir lassen unser Feuer verflucht noch mal nicht zurück. Es sei denn, Ihr versprecht mir, uns bis zum Zentralgemach zu führen und Moiraine zu übergeben.«

»Diese Vereinbarung kann ich nicht treffen«, sagte das Geschöpf und schlich weiterhin um sie herum. Mat drehte sich mit ihm und wandte ihm keinen Augenblick lang den Rücken zu. »Dazu bin ich nicht befugt.«

»Holt jemanden, der es ist.«

»Unmöglich«, sagte der Eelfinn. »Hört mir zu. Feuer ist unnötig. Ich führe Euch den halben Weg zum Zentralgemach, dem Gemach der Verträge, wenn Ihr dieses schreckliche Feuer zurücklasst. Es beleidigt uns. Wir wollen doch nur Eure Wünsche erfüllen.«

Das Geschöpf versuchte offensichtlich wieder, sie einzulullen, aber Thoms Spiel brachte seinen Rhythmus durcheinander. Mat beobachtete es, dann fing er zur Melodie der Flöte an zu singen. Er hatte nicht die beste aller Stimmen, aber er war auch nicht ganz schlecht. Der Eelfinn gähnte, dann setzte er sich an die Wand und schloss die Augen. Wenige Augenblicke später war er eingeschlafen.

Thom nahm die Flöte von den Lippen und sah beeindruckt aus.

»Gut gemacht«, flüsterte Noal. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass Ihr die Alte Sprache so flüssig sprecht.«

Mat zögerte. Ihm war nicht einmal bewusst geworden, dass er sie benutzt hatte.

»Meine Alte Sprache ist ziemlich eingerostet«, sagte Noal nachdenklich, »aber hier habe ich doch vieles verstehen können. Das Problem ist nur, wir kennen noch immer nicht den richtigen Weg. Wie sollen wir ihn finden, ohne dass uns einer von ihnen führt?«

Er hatte recht. Birgitte war monatelang umhergewandert, ohne zu ahnen, ob ihr Ziel nur noch ein paar Schritte entfernt war. Das Gemach, in dem Mat die Anführer der Eelfinn getroffen hatte … Birgitte hatte gesagt, dass die fremden Wesen mit einem verhandeln mussten, wenn man es bis dorthin schaffte. Das konnte nur das Gemach der Verträge sein, das der Eelfinn erwähnt hatte.

Die arme Moiraine. Sie war durch einen roten Türrahmen gekommen; eigentlich hätte sie das Bündnis beschützen müssen, das die Eelfinn mit den uralten Aes Sedai geschlossen hatten. Aber dieser Durchgang war zerstört worden. Kein Rückweg mehr.

Bei seinem ersten Besuch hatte man Mat für seine Klugheit gelobt, um einen Ausgang zu bitten. Auch wenn es ihn noch immer aufbrachte, dass die Eelfinn seine Fragen nicht beantwortet hatten, sah er doch ein, dass es bei ihnen nicht darum ging. Die Aelfinn waren für die Fragen da; die Eelfinn erfüllten Bitten. Aber sie verdrehten diese Bitten und nahmen den Preis, den sie wollten. Unbedacht hatte’ Mat darum gebeten, die Lücken in seiner Erinnerung gefüllt zu bekommen, die Aes Sedai loszuwerden und den Weg aus dem Turm hinaus gezeigt zu bekommen.

Wenn Moiraine das nicht gewusst und nicht so wie er um einen Ausgang gebeten hatte … oder wenn sie um den Weg zurück zum Eingang gebeten hatte, ohne zu wissen, dass er zerstört worden war …

Mat hatte nach dem Ausgang gefragt. Den hatten sie ihm gegeben, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie genau er ausgesehen hatte. Alles war schwarz geworden, und als er erwachte, hatte er an dem Ashandarei gebaumelt.

Er zog etwas aus der Tasche und hielt es fest mit der Faust umklammert. »Aelfinn und Eelfinn finden hier ihren Weg«, flüsterte er. »Es muss einen richtigen Gang geben.«

»Ein Weg«, sagte Noal. »Vier Auswahlmöglichkeiten, gefolgt von vier weiteren Möglichkeiten, gefolgt von vier weiteren Möglichkeiten … Die Chancen, die gegen uns stehen, sind astronomisch hoch!«

»Die Chancen«, sagte Mat und streckte die Hand aus. Er öffnete sie und enthüllte zwei Würfel. »Was kümmern mich die Chancen?«

Seine beiden Gefährten schauten die Elfenbeinwürfel an, dann schauten sie wieder hoch zu seinem Gesicht. Mat konnte fühlen, wie sein Glück in einer Woge in ihm aufstieg. »Zwölf Augen. Drei für jede Tür. Werfe ich eine Eins, eine Zwei oder eine Drei, gehen wir geradeaus. Vier, Fünf oder Sechs, dann nehmen wir die rechte Abzweigung und so weiter.«

»Aber Mat«, flüsterte Noal mit einem Blick auf den schlafenden Eelfinn. »Die Würfe ergeben doch nicht alle Möglichkeiten. Zum Beispiel könnt Ihr keine Eins würfeln, und bei einer Sieben ist es viel wahrscheinlicher …«

»Ihr versteht nicht, Noal«, sagte Mat und warf die Würfel zu Boden. Sie rollten über die schuppenähnlichen Fliesen und klapperten wie Zähne. »Es spielt keine Rolle, was wahrscheinlich ist. Nicht, wenn ich in der Nähe bin.«

Die Würfel blieben liegen. Einer von ihnen verfing sich in dem Spalt zwischen zwei Fliesen und balancierte wackelig. Der andere zeigte ein Auge.

»Seht Euch das an, Noal«, sagte Thom. »Anscheinend kann er ja doch eine Eins würfeln.«

Noal rieb sich das Kinn. »Das ist wirklich erstaunlich.«

Mat nahm seinen Ashandarei, hob die Würfel auf und ging geradeaus weiter. Die anderen folgten ihm und ließen den schlafenden Eelfinn zurück.

Im nächsten Raum würfelte Mat erneut und bekam eine Neun. »Den Weg zurück, den wir gekommen sind?«, fragte Thom stirnrunzelnd. »Das ist…«

»Genau das, was wir tun werden«, sagte Mat, drehte sich um und ging zurück. Der schlafende Eelfinn war aus dem Gemach verschwunden.

»Sie könnten ihn aufgeweckt haben«, meinte Noal.

»Oder es könnte ein anderes Gemach sein«, erwiderte Mat und würfelte erneut. Wieder eine Neun. Er stand in der Richtung, aus der sie ursprünglich gekommen waren, also bedeutete eine Neun erneut zurückzugehen. »Aelfinn und Eelfinn haben Regeln«, sagte Mat, drehte sich um und rannte den Korridor entlang, während die anderen ihm hinterherjagten. »Und dieser Ort hat Regeln.«

»Regeln müssen einen Sinn ergeben, Mat«, meinte Noal.

»Sie müssen beständig sein«, antwortete Mat. »Aber sie müssen nicht unserer Logik folgen. Warum sollten sie?«

Ihm erschien das vernünftig. Sie rannten eine Weile – diese Korridor erschien viel länger als die anderen. Langsam ging ihm die Puste aus, als sie den nächsten Raum erreichten. Wieder würfelte er, hatte aber bereits einen Verdacht, wie das Ergebnis aussehen würde. Neun. Zurück zum ersten Raum.

»Das ist doch Blödsinn!«, sagte Noal, als sie sich umdrehten und zurückliefen. »So kommen wir nie irgendwohin!«

Mat ignorierte ihn und lief weiter. Bald näherten sie sich wieder dem ersten Raum.

»Mat«, sagte Noal flehend. »Können wir denn nicht zumindest …«

Noal verstummte, als sie in den ersten Raum stürmten. Nur, dass es nicht der erste Raum war. Dieses Gemach wies einen weißen Boden auf und war von gewaltigen Ausmaßen, dicke schwarze Säulen strebten einer nicht auszumachenden Decke entgegen.

Der glühende weiße Dampf, der sich an der Korridordecke gesammelt hatte, strömte in den Raum und wogte in die Dunkelheit hinauf, wie ein Wasserfall, der in die verkehrte Richtung stürzte. Obwohl Boden und Säulen wie Glas aussahen, wusste Mat, dass sie sich wie Stein anfühlen würden. Erhellt wurde der Raum von einer Reihe glühender gelber Streifen, die an jeder Säule auf den Kanten der schmückenden Kannelierungen in den Glassteinen emporliefen.

Thom schlug ihm auf die Schulter. »Mat, mein Junge, das war verrückt. Und effektiv. Irgendwie.«

»Was du auch von mir erwarten solltest«, erwiderte Mat und zog die Hutkrempe tiefer. »Ich war schon einmal in diesem Raum. Wir sind richtig. Falls Moiraine noch lebt, muss sie irgendwo hier in der Nähe sein.«

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