45 Ein Wiedersehen

Die letzten Erinnerungen an den Traum lösten sich auf wie Honig in warmem Tee, aber Egwenes Worte blieben fest in Elaynes Bewusstsein verankert. Die Schlange ist gefallen, hatte Egwene übermittelt. Die Rückkehr deines Bruders erfolgte zur rechten Zeit.

Elayne setzte sich auf und verspürte eine ungeheure Erleichterung. Sie hatte die ganze Nacht mit dem Versuch verbracht, ausreichend Macht für ihr Traum-Ter’angreal zu lenken, aber es war sinnlos gewesen. Als sie herausgefunden hatte, dass Birgitte Gawyn fortgeschickt hatte – während sie wütend im Zimmer saß und einfach nicht dazu in der Lage war, an dem Treffen bei Egwene teilzunehmen -, war sie außer sich vor Wut gewesen.

Nun, anscheinend hatte man Mesaana besiegen können. Und was war das mit ihrem Bruder? Sie lächelte. Vielleicht hatten er und Egwene ihre Probleme ja lösen können.

Morgenlicht bahnte sich seinen Weg vorbei an den Vorhängen. Elayne lehnte sich zurück in die Kissen und spürte die mächtige Wärme, die in dem Bund mit Rand erschienen war. Beim Licht, was für ein wunderbares Gefühl. In dem Moment, in dem sie es das erste Mal gefühlt hatte, war die Wolkendecke über Andor aufgebrochen.

Seit dem Test der Drachen war ungefähr eine Woche vergangen, und sie hatte sämtliche Glockengießer in ihrem Reich zur Mitwirkung verpflichtet. Mittlerweile gab es in Caemlyn ein stetiges Geräusch zu hören, ein sich ständig wiederholendes Donnern, weil sich die Mitglieder der Bande auf den Hügeln außerhalb der Stadt an ihren Waffen übten. Bis jetzt hatte sie nur ein paar der Waffen zur Ausbildung freigegeben; die diversen Gruppen wechselten sich daran ab. Die größere Zahl wurde in einem geheimen Lagerhaus in Caemlyn sicher aufbewahrt.

Sie dachte wieder an die Traumbotschaft. Sie hungerte nach Einzelheiten. Nun, irgendwann würde Egwene vermutlich einen Boten durch ein Wegetor schicken.

Die Tür öffnete sich einen Spalt, und Melfane schaute herein. »Euer Majestät?«, fragte die kleine Frau mit dem runden Gesicht. »Ist alles in Ordnung? Ich glaubte einen Schmerzensschrei gehört zu haben.« Seit die Hebamme wieder erlaubt hatte, dass Elayne aufstand, hatte sie entschieden, in dem Vorraum von Elaynes Schlafzimmer zu schlafen, um sie im Auge zu behalten.

»Das war ein Ausdruck der Freude, Melfane. Ein Gruß an den wunderbaren Morgen, der zu uns gekommen ist.«

Melfane runzelte die Stirn. In Gegenwart dieser Frau bemühte sich Elayne fröhlich zu erscheinen, um ihr begreiflich zu machen, dass keine weitere Bettruhe erforderlich war, aber vielleicht war das Letztere etwas übertrieben gewesen. Sie konnte es sich nicht leisten, den Eindruck zu erwecken, sich zum Glücklichsein zwingen zu müssen. Selbst wenn sie es tat. Diese unerträgliche Frau.

Melfane trat ein und zog die Vorhänge zurück – Sonnenlicht war gut für eine schwangere Frau, behauptete sie. In letzter Zeit hatte ein Teil von Elaynes Behandlung darin bestanden, mit zurückgeschlagener Decke auf dem Bett zu sitzen und sich von der Frühlingssonne wärmen zu lassen. Während Melfane ihren Pflichten nachkam, verspürte Elayne ein kleines Zittern im Inneren. »Oh! Da war wieder einer. Sie treten, Melfane! Kommt und fühlt!«

»Ich kann das noch nicht fühlen, Euer Majestät. Nicht bevor sie stärker sind.« Sie begann mit der üblichen täglichen Routine. Sie hörte Elaynes Herzschlag ab, dann lauschte sie nach dem des Kindes. Melfane wollte noch immer nicht glauben, dass es Zwillinge waren. Danach untersuchte und tastete sie Elayne ab und führte sämtliche Untersuchungen ihrer geheimnisvollen Liste ärgerlicher und peinlicher Dinge durch, die man mit einer Frau machen konnte.

Schließlich stemmte sie die Hände in die Hüften und musterte Elayne, die ihr Nachthemd schloss. »Ich glaube, Ihr habt Euch in letzter Zeit zu sehr verausgabt. Ich will, dass Ihr Euch auf jeden Fall genug ausruht. Die Kusine meiner Tochter Tess hat vor nicht einmal zwei Jahren ein Kind zur Welt gebracht, das bei der Geburt kaum atmen konnte. Dank dem Licht hat das Kind überlebt, aber sie musste ja bis zum Tag der Geburt bis spät in die Nacht auf dem Feld arbeiten und nicht vernünftig essen. Stellt Euch das nur vor! Achtet auf Euch, meine Königin. Eure Kinder werden es Euch danken.«

Elayne nickte und entspannte sich. »Wartet!«, sagte sie dann und richtete sich wieder auf. »Kinder?«

»Ja«, erwiderte Melfane und ging zur Tür. »In Eurem Schoß gibt es zwei Herzschläge, so wie ich zwei Arme habe. Ich kann nicht verstehen, woher Ihr das wusstet.«

»Ihr habt die Herzschläge gehört!«, rief Elayne aufgeregt.

»Ja, sie sind da, so sicher wie die Sonne.« Melfane schüttelte den Kopf und ging, schickte Naris und Sephanie herein, damit sie sie ankleiden und ihr Haar machen konnten.

Elayne ließ alles in einem Zustand des Staunens über sich ergehen. Melfane glaubte ihr! Sie konnte nicht aufhören zu lächeln.

Eine Stunde später machte sie es sich in ihrem kleinen Wohnzimmer gemütlich, in dem alle Fenster weit geöffnet waren, um das Sonnenlicht hereinzulassen, und trank warme Ziegenmilch. Meister Norry trat auf seinen langen dürren Beinen ein; hinter seinen Ohren standen Haarbüschel ab, sein Gesicht war lang und spitz wie immer, unter dem Arm klemmte die Ledermappe. Begleitet wurde er von Dyelin, die normalerweise nicht zu den Morgenkonferenzen erschien. Elayne sah die Frau stirnrunzelnd an.

»Ich habe die Informationen, um die Ihr gebeten habt, Elayne«, sagte Dyelin und schenkte sich eine Tasse des morgendlichen Tees ein. Heute war es Wolkenbeere. »Wie ich höre, hat Melfane Herzschläge gehört?«

»Das hat sie in der Tat.«

»Meinen Glückwunsch, Euer Majestät«, sagte Meister Norry. Er schlug seine Mappe auf und fing an, auf dem hohen schmalen Tisch neben ihrem Stuhl Papiere zu arrangieren. In Elaynes Gegenwart setzte er sich nur selten. Dyelin wählte einen der anderen bequemen Stühle neben dem Kamin.

Um welche Informationen hatte sie denn noch einmal gebeten? Elayne konnte sich nicht mehr erinnern. Die Frage beschäftigte sie die ganze Zeit, während Norry seinen täglichen Bericht über die verschiedenen in der Nähe befindlichen Heere vortrug. Es gab eine Liste mit Streitigkeiten zwischen Söldnergruppen.

Außerdem sprach er von Problemen der Lebensmittelversorgung. Obwohl die Kusinen Wegetore in Rands Länder im Süden erschufen, damit man Vorräte herbeischaffte – und trotz der unerwarteten Vorräte, die man in der Stadt entdeckt hatte -, wurden in Caemlyn die Lebensmittel knapp.

»Und was unsere, äh, Gäste angeht«, sagte Norry. »Boten haben die erwarteten Antworten gebracht.«

Keines der drei Häuser, deren Adlige in Gefangenschaft saßen, konnte sich das Lösegeld leisten. Einst hatten die Güter von Arawn, Sarand und Marne zu den größten und produktivsten in ganz Andor gehört – und jetzt waren sie bettelarm, ihre Geldtruhen leer und ihre Felder verdorrt. Und Elayne hatte zwei von ihnen ihrer Führung beraubt. Beim Licht, was für ein Schlamassel!

Norry fuhr fort. Sie hatte einen Brief von Talmanes bekommen, der sich einverstanden erklärte, mehrere Kompanien der Bande der Roten Hand nach Cairhien zu verlegen. Also befahl sie Norry, ihm einen Erlass mit ihrem Siegel zu schicken, der die Soldaten autorisierte, bei der »Wiederherstellung der Ordnung« zu helfen. Das war natürlich völliger Unsinn. Es musste keine Ordnung wiederhergestellt werden. Aber wollte sich Elayne jemals um den Sonnenthron bemühen, musste sie langsam ein paar Schritte in diese Richtung unternehmen.

»Darüber wollte ich sprechen, Elayne«, sagte Dyelin, als Norry seine Papiere zusammensuchte und jedes Blatt mit ausgesuchter Sorgfalt an Ort und Stelle legte. Das Licht stehe ihnen bei, sollte auch nur eine dieser kostbaren Seiten einen Riss oder gar einen Fleck davontragen.

»Die Situation in Cairhien ist… kompliziert«, sagte Dyelin.

»Wann ist sie das nicht?«, fragte Elayne seufzend. »Ihr habt Informationen über das derzeitige politische Klima dort?«

»Es ist ein Durcheinander«, sagte Dyelin schlicht. »Wir müssen uns darüber unterhalten, wie Ihr zwei Nationen führen wollt und Euch doch nur in einer aufhaltet.«

»Wir haben Wegetore«, erwiderte Elayne.

»Das stimmt. Aber Ihr müsst eine Möglichkeit finden, Euch den Sonnenthron zu nehmen, ohne es aussehen zu lassen, als würde Andor Cairhien unterdrücken. Der dortige Adel würde Euch möglicherweise als seine Königin akzeptieren, aber nur, wenn sie sich den Andoranern gleichwertig fühlen. Ansonsten werden die Intrigen in dem Augenblick, in dem Ihr Euch umdreht, wie Hefe in warmem Wasser aufquellen.«

»Sie werden den Andoranern gleichgestellt sein.«

» Das werden sie nicht so sehen, wenn Ihr dort mit Euren Heeren einmarschiert«, meinte Dyelin. »Die Cairhiener sind ein stolzes Volk. Wenn sie den Eindruck haben, von Andors Krone erobert worden zu sein …«

»Sie leben alle unter Rands Macht.«

»Bei allem nötigen Respekt, Elayne. Er ist der Wiedergeborene Drache. Ihr nicht.«

Elayne runzelte die Stirn, aber da konnte sie kaum widersprechen.

Meister Norry räusperte sich. »Euer Majestät, Lady Dyelins Rat basiert nicht allein auf müßigen Spekulationen. Ich, äh, habe Dinge gehört. Da ich ja Euer Interesse an Cairhien kenne …«

Er wurde besser darin, Informationen zu sammeln. Sie würde ihn noch zu einem richtigen Spionmeister machen!

»Euer Majestät«, fuhr Norry mit gesenkter Stimme fort, »es kursieren Gerüchte, nach denen Ihr bald kommen wollt, um den Sonnenthron an Euch zu reißen. Man spricht bereits von einer Rebellion gegen Euch. Ich bin sicher, das sind bloß müßige Spekulationen, aber …«

»Die Cairhiener könnten Rand al’Thor als Kaiser betrachten«, sagte Dyelin. »Nicht als fremden König. Das ist etwas ganz anderes.«

»Nun, wir brauchen keine Heere auszusenden, um den Sonnenthron zu übernehmen«, sagte Elayne nachdenklich.

»Ich… bin mir da nicht so sicher, Euer Majestät«, sagte Norry. » Die Gerüchte sind ziemlich hartnäckig. Anscheinend haben gewisse Elemente sofort nach der Ankündigung des Lord Drachen, dass der Thron Euch übergeben werden soll, mit sehr subtilen Bemühungen angefangen, um zu verhindern, dass das jemals geschieht. Aufgrund dieser Gerüchte sorgen sich viele Leute, dass Ihr dem cairhienischen Adel seine Titel aberkennt und an Andoraner weiterreicht. Andere behaupten, dass Ihr jeden Cairhiener zu einem Bürger zweiter Klasse zurückstufen werdet.«

»Unsinn«, sagte Elayne. »Das ist doch völlig idiotisch!«

»Offensichtlich.« Norry nickte. »Aber es gibt viele Gerüchte. Sie neigen dazu, wie Schlingpflanzen zu wuchern. Diese Ansicht ist weit verbreitet.«

Elayne knirschte mit den Zähnen. Die Welt verwandelte sich schnell in einen Ort für jene mit starken Bündnissen, geknüpft mit Banden aus Blut und Papier. Sie hatte eine bessere Chance als jede andere Königin seit Generationen, Cairhien und Andor zu vereinen. »Wissen wir, wer diese Gerüchte in Umlauf gebracht hat?«

»Das ist sehr schwierig genau festzustellen, meine Lady«, sagte Norry.

»Wer hat den größten Nutzen?«, wollte Elayne wissen. »Dort sollten wir zuerst nach der Quelle suchen.« Norry sah Dyelin an.

»Alle möglichen Leute könnten daraus Nutzen ziehen«, sagte Dyelin und rührte ihren Tee um. »Ich würde sagen, dass diejenigen am meisten profitieren, die die größten Aussichten auf den Thron haben.«

»Die, die sich Rand widersetzt haben«, mutmaßte Elayne.

»Vielleicht.« Dyelin zuckte mit den Schultern. »Vielleicht auch nicht. Der Drache hat den stärksten rebellischen Elementen große Aufmerksamkeit geschenkt, und viele von ihnen wurden entweder gebrochen oder bekehrt. Also sollten wir vermutlich seine Verbündeten in Betracht ziehen, denen er am meisten vertraut oder die ihm von ganzem Herzen die Treue schworen. Schließlich reden wir hier von Cairhien.«

Daes Dae’mar. Ja, es war gut vorstellbar, dass Rands Verbündete gegen ihre Thronbesteigung waren. Sollte sich Elayne als unfähig erweisen, dann würden die, die Rand bevorzugt hatte, auch für den Thron bevorzugt werden. Allerdings würden dieselben Leute ihre Chancen unterminiert haben, weil sie ihre Treue für einen ausländischen Anführer bekundet hatten.

»Man sollte annehmen«, sagte Elayne nachdenklich, »dass die im Mittelfeld die besten Aussichten auf den Thron haben. Jeder, der sich nicht gegen Rand stellte und so seinen Zorn auf sich zog. Aber auch jemand, der ihn nicht zu übertrieben unterstützt hat – jemand, den man als Patrioten betrachten kann und der zögernd vortritt und die Macht ergreift, nachdem ich gescheitert bin.« Sie musterte die beiden. »Besorgt mir die Namen von allen, die in letzter Zeit beträchtlich an Einfluss gewonnen haben, ein Adliger oder eine Frau, die diese Kriterien erfüllen.«

Dyelin und Meister Norry nickten. Irgendwann würde sie vermutlich ein stärkeres Netzwerk aus Augen-und-Ohren erschaffen müssen, da keiner der beiden übermäßig dazu geeignet war, sie zu leiten. Norry war zu durchschaubar, und er hatte bereits genug zu tun mit seinen anderen Pflichten. Dyelin war … nun. Elayne war sich nicht sicher, was genau Dyelin war.

Sie stand tief in Dyelins Schuld, die sich anscheinend zur Aufgabe gemacht hatte, für sie eine Ersatzmutter zu sein. Eine Stimme der Erfahrung und Weisheit. Aber irgendwann würde sie ein paar Schritte zurücktreten müssen. Keiner von ihnen konnte es sich leisten, den Eindruck zu unterstützen, dass Dyelin die wahre Macht hinter dem Thron darstellte.

Aber beim Licht! Was hätte sie nur ohne diese Frau gemacht? Elayne musste sich gegen die plötzliche Gefühlsaufwallung stählen. Blut und verdammte Asche, wann würde sie endlich diese verdammten Gemütsschwankungen los sein? Eine Königin konnte es sich nicht erlauben, dass man sie bei jeder lächerlichen Gelegenheit weinen sah!

Elayne tupfte sich die Augen ab. Klugerweise enthielt sich Dyelin jeden Kommentars.

»Das wird das Beste sein«, sagte Elayne fest, um die Aufmerksamkeit von ihren verräterischen Augen abzulenken. »Ich mache mir noch immer Sorgen wegen der Invasion.«

Dazu sagte Dyelin nichts. Sie glaubte nicht, dass Chesmal von einer bestimmten Invasion Andors gesprochen hatte; ihrer Meinung nach hatte die Schwarze Schwester die Trolloc-Invasion der Grenzlande gemeint. Birgitte nahm das viel ernster und verstärkte die Truppen an den Grenzen. Trotzdem hätte Elayne wirklich gern die Kontrolle über Cairhien gehabt; falls Trollocs gegen Andor marschierten, würde ihr Schwesterreich möglicherweise einer der Aufmarschwege sein.

Aber bevor die Unterhaltung weitergehen konnte, öffnete sich die Tür zum Korridor, und Elayne wäre alarmiert zusammengezuckt, hätte sie nicht gefühlt, dass es sich um Birgitte handelte. Die Behüterin klopfte nie an. Sie trug ein Schwert, das sie nur zögernd angelegt hatte, und ihre kniehohen schwarzen Stiefel. Seltsamerweise folgten ihr zwei in Umhänge gehüllte Gestalten, deren Gesichter im Schatten der Kapuzen lagen. Norry trat zurück und legte irritiert die Hand an die Brust, weil das so ungewöhnlich war. Jeder wusste, dass Elayne im kleinen Wohnzimmer nicht gern Besucher empfing. Falls Birgitte Leute herbrachte … »Mat?«, riet Elayne.

»Wohl kaum«, sagte eine vertraute, klare und feste Stimme. Die größere der Gestalten schlug die Kapuze zurück und enthüllte ein perfektes männlich-schönes Gesicht. Er hatte ein kantiges Kinn und eindringliche Augen, an die sich Elayne gut aus ihrer Kindheit erinnerte – vor allem, wenn er sie bei irgendeinem Streich erwischt hatte.

»Galad«, sagte Elayne und war überrascht über die Wärme, die sie für ihren Halbbruder empfand. Sie stand auf und streckte ihm die Hände entgegen. Den größten Teil ihrer Kindheit hatte sie damit verbracht, aus irgendeinem Grund auf ihn böse zu sein, aber es war gut, ihn am Leben und gesund zu sehen. »Wo warst du?«

»Ich habe nach der Wahrheit gesucht«, sagte Galad und verbeugte sich elegant, aber er trat nicht auf sie zu, um ihre Hände zu ergreifen. Er richtete sich wieder auf und schaute zur Seite. »Ich fand etwas, mit dem ich nicht gerechnet habe. Wappne dich, Schwester.«

Elayne runzelte die Stirn, als die zweite kleinere Gestalt ihre Kapuze zurückschlug. Es war ihre Mutter.

Elayne keuchte auf. Sie war es! Dieses Gesicht, die blonden Haare. Diese Augen, die Elayne als Kind so oft gemustert und eingeschätzt und beurteilt hatten – nicht nur wie eine Mutter, die ihre Tochter einschätzte, sondern wie eine Königin, die ihre Nachfolgerin begutachtete. Elayne fühlte, wie ihr Herz heftig pochte. Ihre Mutter. Ihre Mutter lebte.

Morgase lebte. Die Königin lebte noch.

Morgase erwiderte Elaynes Blick, dann schaute sie seltsamerweise zu Boden. »Euer Majestät«, sagte sie und machte einen Knicks, verharrte an der Tür.

Elayne kontrollierte ihre Gedanken, kontrollierte ihre Panik. Sie war die Königin, oder sie wäre die Königin gewesen, oder … Beim Licht! Sie hatte sich den Thron genommen, und sie war immerhin die Tochter-Erbin. Und jetzt kam ihre eigene Mutter von den verdammten Toten zurück?

»Bitte, setz dich doch«, hörte sich Elayne sagen und gestikulierte auf den Stuhl neben Dyelin. Es tat ihr gut zu sehen, dass Dyelin mit dem Schock kein bisschen besser klarkam als sie selbst. Sie setzte sich mit hervorquellenden Augen und hielt ihre Teetasse so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

»Danke, Euer Majestät«, sagte Morgase und setzte sich in Bewegung. Galad schloss sich ihr an und legte Elayne tröstend die Hand auf die Schulter. Dann holte er sich einen Stuhl von der anderen Zimmerseite.

Morgases Tonfall war reservierter, als Elayne in Erinnerung hatte. Und warum sprach sie sie immer noch mit ihrem Titel an? Die Königin war im Geheimen gekommen, mit hochgeschlagener Kapuze. Elayne betrachtete ihre Mutter und setzte im Kopf die Stücke zusammen, während sie sich wieder setzte. »Du hast auf den Thron verzichtet, richtig?«

Morgase nickte würdevoll.

»Oh, dem Licht sei Dank!« Dyelin stieß einen lauten Seufzer aus, die Hand auf die Brust gelegt. »Versteht das bitte nicht falsch, Morgase. Aber einen Augenblick lang hatte ich diese Vision von einem Krieg zwischen Trakand und Trakand!«

»Dazu wäre es nicht gekommen«, sagte Elayne beinahe gleichzeitig zusammen mit ihrer Mutter, die etwas Ähnliches sagte. Ihre Blicke trafen sich, und Elayne gestattete sich ein Lächeln. »Wir hätten eine vernünftige … Einigung gefunden. Das ist in Ordnung so, obwohl ich wirklich gern wissen möchte, was passiert ist.«

»Die Kinder des Lichts hielten mich gefangen, Elayne«, sagte Morgase. »Der alte Pedron Niall war größtenteils ein Ehrenmann, was man von seinem Nachfolger nicht behaupten kann. Ich wollte mich nicht gegen Andor benutzen lassen.«

»Verfluchte Weißmäntel«, murmelte Elayne. Beim Licht, hatte in diesem Brief also tatsächlich die Wahrheit gestanden, als sie behaupteten, Morgase in ihrer Gewalt zu haben?

Galad sah sie stirnrunzelnd an. Er stellte den Stuhl ab, den er sich geholt hatte, dann öffnete er den Umhang und enthüllte die strahlend weiße Uniform mit der Sonne auf der Brust darunter.

»Ach ja, richtig«, sagte Elayne verlegen. »Das hatte ich beinahe vergessen. Absichtlich.«

»Die Kinder hatten Antworten, Elayne«, sagte er und setzte sich. Beim Licht, er konnte einen wirklich aufbringen. Es tat gut, ihn zu sehen, aber er konnte einen aufbringen!

»Ich will nicht darüber sprechen«, erwiderte Elayne. »Wie viele Weißmäntel hast du mitgebracht?«

»Die ganze Streitmacht der Kinder hat mich nach Andor begleitet«, sagte Galad. »Ich bin der Kommandierende Lordhauptmann.«

Elayne blinzelte, dann sah sie Morgase an. Ihre Mutter nickte. »Nun«, sagte Elayne, »wie ich sehe, haben wir uns viel zu erzählen.«

Galad verstand das als Bitte – er konnte sehr direkt sein – und fing an zu erklären, wie er an diese Stellung gekommen war. Dabei ging er ziemlich in die Einzelheiten, und gelegentlich warf Elayne ihrer Mutter einen Blick zu. Morgases Miene war unleserlich.

Sobald Galad zum Ende gekommen war, erkundigte er sich nach dem Thronfolgekrieg. Eine Unterhaltung mit ihm war oft so: ein eher formeller als vertraulicher Austausch. Einst hatte das Elayne wahnsinnig gemacht, aber dieses Mal musste sie wider besseres Wissen zugeben, dass sie ihn tatsächlich vermisst hatte. Also hörte sie freundlich zu.

Schließlich endete ihr Gespräch. Sie würde noch mehr von ihm erfahren müssen, aber im Augenblick konnte sie es kaum erwarten, allein mit ihrer Mutter zu sprechen. »Galad«, sagte sie, »ich würde mich doch gern länger unterhalten. Wie wäre es mit einem frühen Abendessen heute? Bis dahin könntest du dich in deinen alten Gemächern erfrischen.«

Er nickte und stand auf. »Das wäre gut.«

»Dyelin, Meister Norry«, sagte Elayne. »Das Überleben meiner Mutter wirft einige… delikate Staatsprobleme auf. Wir müssen ihre Abtretungserklärung offiziell verkünden, und das schnell. Meister Norry, ich überlasse Euch die formellen Dokumente. Dyelin, bitte informiert meine engsten Verbündeten über diese Neuigkeit, damit sie nicht überrascht werden.«

Dyelin nickte. Sie warf Morgase einen Blick zu – Dyelin gehörte nicht zu denjenigen, die die ehemalige Königin während Rahvins Einfluss öffentlich gedemütigt hatte, aber sie kannte zweifellos alle Geschichten. Dann zog sich Dyelin zusammen mit Galad und Meister Norry zurück. Morgase warf Birgitte einen Blick zu, sobald sich die Tür hinter ihnen schloss; die Behüterin war als Einzige geblieben.

»Ich vertraue ihr wie einer Schwester, Mutter«, verkündete Elayne. »Manchmal eine unerträgliche ältere Schwester, trotzdem eine echte Schwester.«

Morgase lächelte, dann stand sie auf, ergriff Elayne bei den Händen und zog sie in eine Umarmung. »Ach, meine Tochter«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Sieh doch nur, was du alles erreicht hast! Die rechtmäßige Königin!«

»Du hast mich gut unterrichtet, Mutter«, erwiderte Elayne. Sie löste sich von ihr. » Und du bist Großmutter! Oder wirst es zumindest bald sein!«

Morgase runzelte die Stirn und schaute auf ihren Bauch. »Ja, das habe ich mir schon gedacht, so wie du aussiehst. Wer…?«

»Rand«, sagte Elayne errötend, »obwohl das nicht allgemein bekannt ist, und es wäre mir lieber, es bliebe auch so.«

»Rand al’Thor …« Morgases Stimmung verfinsterte sich. »Dieser…«

»Mutter«, unterbrach sie Elayne und ergriff ihre Hand. »Er ist ein guter Mann, und ich liebe ihn. Was auch immer du gehört hast, sind Übertreibungen oder böse Gerüchte.«

»Aber er … Elayne, ein Mann, der die Macht lenken kann, der Wiedergeborene Drache!«

»Und trotzdem ein Mann«, sagte Elayne und fühlte das Bündel seiner Gefühle im Hinterkopf. Es war so warm. »Ein einfacher Mann, obwohl man so viel von ihm verlangt.«

Morgases Lippen wurden zu einem dünnen Strich. »Ich werde mein Urteil zurückstellen. Obwohl ich im Grunde noch immer der Ansicht bin, dass ich diesen Jungen in dem Augenblick, in dem wir ihn auf dem Palastgelände ertappten, in den Kerker hätte werfen sollen. Mir hat schon damals nicht gefallen, wie er dich ansah.«

Elayne lächelte, dann deutete sie wieder auf die Stühle. Morgase setzte sich, und dieses Mal nahm Elayne den Stuhl neben ihr und ließ die Hände ihrer Mutter nicht los. Sie spürte Birgittes Belustigung, die mit dem Rücken an der gegenüberliegenden Wand lehnte, das eine Knie gebeugt, sodass ihre Stiefelsohle auf der Holzvertäfelung auflag.

» Was?«, fragte Elayne.

»Nichts«, erwiderte Birgitte. »Es ist gut zu sehen, dass ihr euch wie Mutter und Tochter benehmt oder zumindest wie zwei Frauen, statt euch wie zwei Pfosten anzustarren.«

»Elayne ist die Königin«, sagte Morgase steif. »Ihr Leben gehört ihrem Volk, und meine Ankunft drohte ihre Thronfolge in Gefahr zu bringen.«

»Sie könnte immer noch für Unruhe sorgen, Mutter«, sagte Elayne. »Dein Kommen könnte alte Wunden öffnen.«

»Ich werde mich entschuldigen müssen. Vielleicht Entschädigungen anbieten.« Morgase zögerte. »Eigentlich hatte ich fortbleiben wollen, Tochter. Es wäre besser gewesen, wenn die, die mich noch immer hassen, mich weiterhin für tot halten. Aber …«

»Nein«, sagte Elayne schnell und drückte ihre Hände. »So ist es besser. Wir müssen die Sache einfach nur geschickt und vorsichtig angehen.«

Morgase lächelte. »Du machst mich stolz. Du wirst eine wunderbare Königin sein.«

Elayne musste sich zwingen, mit dem Strahlen aufzuhören. Ihre Mutter war nie besonders freigebig mit Komplimenten gewesen.

»Aber bevor wir weitersprechen, verrate mir eins«, sagte Morgase etwas zögerlich. »Ich habe Berichte gehört, nach denen Gaebril…«

»Er war Rahvin.« Elayne nickte. »Es stimmt, Mutter.«

»Ich hasse ihn für das, was er tat. Ich kann ihn noch immer sehen, wie er mich benutzte und die Loyalität und die Herzen meiner engsten Freunde verdarb. Und doch gibt es einen irrationalen Teil von mir, der sich nach ihm sehnt.«

»Er hat dich mit einem Zwang belegt«, sagte Elayne leise. »Es gibt keine andere Erklärung. Wir werden sehen müssen, ob das jemand aus der Weißen Burg Heilen kann.«

Morgase schüttelte den Kopf. »Was auch immer es war, es ist mittlerweile nur noch schwach. Ich habe einen anderen gefunden, dem ich meine Zuneigung geben kann.«

Elayne runzelte die Stirn.

»Das erkläre ich ein anderes Mal«, sagte Morgase. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich es schon verstehe. Zuerst müssen wir entscheiden, was wir wegen meiner Rückkehr machen. «

»Das ist einfach«, sagte Elayne. »Wir feiern!« »Ja, aber…«

»Kein Aber, Mutter. Du bist zu uns zurückgekehrt! Die Stadt, die ganze Nation wird feiern.« Elayne zögerte. »Und danach finden wir ein wichtiges Amt für dich.«

»Etwas, das mich aus der Hauptstadt fortschafft, damit ich keine unglücklichen Schatten werfe.«

»Aber eine Pflicht, die wichtig ist, damit nicht der Eindruck entsteht, dass man dir das Gnadenbrot gewährt.« Elayne verzog das Gesicht. »Vielleicht können wir dir ja den Befehl über das westliche Viertel des Reiches geben. Die Berichte von dort gefallen mir gar nicht.«

»Die Zwei Flüsse?«, fragte Morgase. »Und Lord Perrin Aybara?«

Elayne nickte.

»Ein interessanter Mann, dieser Perrin«, sagte Morgase nachdenklich. »Ja, vielleicht könnte ich dort von Nutzen sein. Wir haben bereits so etwas wie eine Übereinkunft.«

Elayne sah sie fragend an.

»Er hat für meine sichere Rückkehr zu dir gesorgt«, sagte Morgase. »Er ist ein ehrlicher Mann – und ein ehrenhafter. Aber trotz seiner guten Absichten auch ein Rebell. Du wirst es nicht einfach haben, solltest du mit ihm in Streit geraten.«

»Das möchte ich auch lieber vermeiden«, sagte Elayne. Die für sie einfachste Lösung wäre es gewesen, ihn zu ergreifen und hinzurichten. Aber natürlich würde sie das nicht tun. Selbst wenn sie die Berichte so sehr in Wut versetzten, dass sie beinahe wünschte, es wäre möglich.

»Nun, wir werden anfangen, an einer Lösung zu arbeiten.« Morgase lächelte. »Es wird dir helfen, wenn du gehört hast, was ich erlebt habe. Ach, und Lini geht es gut. Ich weiß ja nicht, ob du dir um sie Sorgen gemacht hast.«

»Um ehrlich zu sein, habe ich das nicht«, sagte Elayne und verspürte einen Stich der Scham. »Anscheinend könnte nicht einmal der einstürzende Drachenberg Lini einen Schaden zufügen.«

Morgase lächelte, dann erzählte sie ihre Geschichte. Elayne hörte ehrfürchtig und mit nicht wenig Aufregung zu. Ihre Mutter lebte. Dem Licht sei Dank, in der letzten Zeit war so vieles falsch gelaufen, aber wenigstens das hatte ein gutes Ende genommen.


In der Nacht war das Dreifache Land friedlich und still. Die meisten Tiere waren bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang aktiv, wenn nicht gerade drückende Hitze oder klirrende Kälte herrschte.

Aviendha saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem kleinen Felsvorsprung und sah zu Rhuidean im Land der Jenn Aiel hinunter, dem Clan, den es nicht gab. Einst war Rhuidean in schützende Nebel gehüllt gewesen. Das war vor Rands Eintreffen gewesen. Er hatte die Stadt auf drei sehr wichtige, sehr beunruhigende Arten gebrochen.

Die erste war die einfachste. Rand hatte den Nebel verschwinden lassen. Die Stadt hatte ihre Kuppel wie ein Algai’d’siswai abgelegt, der sein Gesicht entschleierte. Sie wusste nicht, wie Rand diese Verwandlung bewirkt hatte; sie hatte ernste Zweifel, dass er das selbst wusste. Aber durch die Enthüllung der Stadt hatte er sie für alle Ewigkeit verändert.

Dann hatte Rand Rhuidean zum zweiten Mal gebrochen, indem er für Wasser gesorgt hatte. Neben der Stadt erstreckte sich ein großer See, und das durch die Wolkendecke gefilterte Mondlicht ließ die Fluten glänzen. Die Menschen nannten den See Tsodrelle’Aman. Die Tränen des Drachen. Obwohl man den See eigentlich die Tränen der Aiel hätte nennen sollen. Rand al’Thor hatte nicht die geringste Vorstellung gehabt, wie viele Qualen seine Enthüllungen verursachen würden. So war er eben. Oft handelte er voller Unschuld.

Aber die dritte Weise, auf die Rand die Stadt gebrochen hatte, war die mit den größten Konsequenzen. Das wurde Aviendha so langsam klar. Nakomis Worte bereiteten ihr große Sorgen. Sie hatten in ihr die Schatten von Erinnerungen geweckt, Dinge aus potenziellen Zukünften, die sie während ihres ersten Besuches in Rhuidean in den Ringen gesehen hatte, deren Einzelheiten ihr aber verwehrt blieben oder zumindest dem Versuch widerstanden, sich direkt daran zu erinnern.

Sie sorgte sich, dass Rhuidean sehr bald keine Rolle mehr spielen würde. Einst hatte die Stadt die wichtige Funktion gehabt, den Weisen Frauen und Clanhäuptlingen die geheime Vergangenheit ihres Volkes zu zeigen. Sie auf den Tag vorzubereiten, an dem sie dem Drachen dienen würden. Dieser Tag war eingetroffen. Wer würde Rhuidean nun besuchen? Die Anführer der Aiel nun durch die Glassäulen zu schicken würde sie nur an das Toh erinnern, das sie angefangen hatten zu erfüllen.

Das beunruhigte Aviendha so sehr, dass es förmlich ihre Haut jucken ließ. Sie wollte sich diesen Fragen nicht stellen. Sie wollte mit der Tradition fortfahren. Aber sie bekam sie einfach nicht aus dem Kopf.

Rand verursachte so viele Probleme. Dennoch liebte sie ihn. In gewisser Weise liebte sie ihn wegen seiner Unwissenheit. Es erlaubte ihm zu lernen. Und sie liebte ihn für die alberne Art und Weise, auf die er versuchte, diejenigen zu beschützen, die nicht beschützt werden wollten.

Vor allem aber liebte sie ihn für sein Verlangen, stark zu sein. Aviendha hatte ihr ganzes Leben lang stark sein wollen. Hatte den Umgang mit dem Speer lernen wollen. Zu kämpfen und li zu verdienen. Die Beste zu sein. Sie konnte ihn in der Ferne spüren. Was das anging, glichen sie sich so sehr.

Ihre Füße schmerzten vom Lauf. Sie hatte sie mit dem Saft eines Segaie-Strauchs eingerieben, aber sie konnte sie noch immer pochen spüren. Ihre Stiefel standen neben ihr auf dem Stein, zusammen mit den feinen Wollstrümpfen, die Elayne ihr geschenkt hatte.

Sie war müde und durstig – in dieser Nacht würde sie fasten und in sich gehen, dann würde sie ihren Wasserschlauch im See auffüllen, bevor sie Rhuidean morgen betrat. Heute Nacht saß sie da, dachte nach und bereitete sich vor.

Das Leben der Aiel veränderte sich. Stärke zeigte sich darin, eine Veränderung zu akzeptieren, wenn man dagegen nichts machen konnte. Wurde eine Festung während eines Überfalls in Mitleidenschaft gezogen und man baute sie wieder auf, geschah das niemals auf die gleiche Weise. Man nutzte die Gelegenheit, um Probleme zu lösen – die Tür, die im Wind quietschte, den unebenen Boden. Den vorherigen Zustand genau wiederherzustellen wäre dumm gewesen.

Vielleicht würde man die Traditionen irgendwann einer Prüfung unterziehen müssen – wie die Reise nach Rhuidean oder selbst das Leben im Dreifachen Land. Aber im Augenblick konnten die Aiel nicht in die Feuchtländer ziehen. Da war die Letzte Schlacht. Und dann hatten die Seanchaner viele Aiel gefangen genommen und Weise Frauen zu Damane gemacht; das durfte man nicht zulassen. Und die Weiße Burg ging immer noch von der Voraussetzung aus, dass alle Weisen Frauen der Aiel, die die Macht lenken konnten, Wilde waren. Dagegen würde man etwas unternehmen müssen..

Und sie selbst? Je länger sie darüber nachdachte, umso klarer wurde ihr, dass sie unmöglich zu ihrem alten Leben zurückkehren konnte. Sie musste bei Rand sein. Falls er die Letzte Schlacht überlebte – und sie würde hart dafür kämpfen, dass das geschah -, würde er noch immer ein König der Feuchtländer sein. Und dann war da Elayne. Sie beide würden Schwester-Frauen sein, aber Elayne würde Andor niemals verlassen. Würde Elayne erwarten, dass Rand bei ihr blieb? Würde das bedeuten, dass auch sie das tun musste?

Das alles war so beunruhigend, sowohl für sie wie auch für ihr Volk. Traditionen sollten nicht aufrechterhalten werden, nur weil es Traditionen waren. Stärke war keine Stärke, wenn kein Sinn oder Ziel dahintersteckte.

Sie musterte Rhuidean, ein so großartiger Ort aus Stein und majestätischer Pracht. Die meisten Städte widerten sie mit ihrem Dreck an, aber Rhuidean war anders. Kuppeldächer, zur Hälfte fertig gestellte Monolithen und Türme, sorgfältig geplante Stadtteile mit Häusern. Die Brunnen plätscherten nun, auch wenn ein großer Teil der Stadt noch immer die Narben von Rands Kampf trug. Vieles davon war mittlerweile von den Familien, die dort lebten, beseitigt worden. Aiel, die nicht in den Krieg gezogen waren.

Es würde keine Läden geben. Keinen Streit auf der Straße, keinen Mord in den Gassen. Möglicherweise hatte Rhuidean ja seine Bedeutung verloren, aber es würde immer ein Ort des Friedens bleiben.

Ich mache weiter, entschied sie. Ich gehe durch die Glassäulen. Möglicherweise waren ihre Sorgen berechtigt und dieser Weg war nicht mehr so bedeutend wie früher, aber sie war wirklich neugierig darauf, das zu sehen, was die anderen gesehen hatten. Davon abgesehen war das Wissen um die Vergangenheit wichtig, wenn man die Zukunft verstehen wollte.

Weise Frauen und Clanhäuptlinge hatten diesen Ort jahrhundertelang besucht. Zurückgekehrt waren sie mit Wissen. Vielleicht würde ihr die Stadt ja zeigen, was sie mit ihrem Volk und ihrem eigenen Herzen tun musste.

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