Blitze zuckten durch die dunklen Gänge der Weißen Burg und hinterließen Rauchwolken, die dicht und stinkend durch die Luft wogten. Menschen schrien und brüllten und fluchten. Die Wände erzitterten bei jedem Treffer; Steinsplitter wurden von Geweben aus Luft zurückgeschleudert, die zum Schutz erschaffen worden waren.
Da. Egwene bemerkte eine Stelle, an der mehrere Schwarze Schwestern Feuer in einen Korridor schleuderten. Evanellein war dabei.
Egwene versetzte sich in das Zimmer, das sich neben dem befand, in dem sie standen; sie konnte sie auf der anderen Seite der Wand hören. Sie öffnete die Hände und schickte einen mächtigen Stoß Erde und Feuer direkt gegen die Wand und zerschmetterte sie.
Die davorstehenden Frauen stolperten und stürzten. Evanellein brach blutüberströmt zusammen. Die anderen Frauen waren schnell genug, sich an einen anderen Ort zu versetzen.
Egwene vergewisserte sich, dass Evanellein tot war. Sie war es. Egwene nickte zufrieden; Evanellein war eine von denen, die sie unbedingt hatte finden wollen. Wenn sie jetzt noch Katerine oder Alviarin aufspürte …
Macht wurde gelenkt. Hinter ihr. Egwene warf sich zu Boden, als eine Feuerkugel über ihrem Kopf vorbeischoss. Mesaana stand im wehenden schwarzen Gewand dort. Egwene knirschte mit den Zähnen und schickte sich fort. Sie wagte es nicht, der Frau direkt gegenüberzutreten.
Sie tauchte in einem Lagerraum in der Nähe wieder auf und stolperte, als eine Explosion den Turmabschnitt erschütterte. Mit einer Handbewegung machte sie ein Fenster in die Tür und sah Amys vorbeirennen. Die Weise Frau trug den Cadin’sor und hielt Speere. Ihre Schulter war angesengt und blutete. In ihrer Nähe schlug ein weiterer Feuerstrahl ein, aber sie verschwand. Die Eruption heizte die Luft auf, zerschmolz Egwenes Fenster und zwang sie einen Schritt zurück.
Saerins Recherche hatte sich als zutreffend erwiesen. Trotz der offenen Schlacht war Mesaana weder geflohen noch in Deckung gegangen, wie es Moghedien vielleicht getan hätte. Vielleicht war sie zuversichtlich. Vielleicht verspürte sie Angst; vermutlich brauchte sie Egwenes Tod, um dem Dunklen König ihren Sieg zu beweisen.
Egwene holte tief Luft und bereitete sich darauf vor, wieder in den Kampf einzugreifen. Aber dann musste sie an Perrins Erscheinen denken und zögerte. Er hatte sich benommen, als wäre sie eine Novizin. Wie hatte er so selbstbewusst werden können, so stark? Sie hatten weniger die Dinge überrascht, die er getan hatte, als vielmehr die Tatsache, dass ausgerechnet er sie getan hatte.
Sein Erscheinen war eine Lektion. Sie musste unbedingt darauf achten, sich nicht auf ihre Gewebe zu verlassen. Bair konnte die Macht nicht lenken, war aber so effektiv wie alle anderen. Bei manchen Dingen schienen Gewebe besser zu funktionieren. Die Mauer zu zertrümmern war zum Beispiel mit einem Gewebe leichter erschienen als es sich vorstellen zu müssen, denn es wäre vermutlich schwierig gewesen, einer so großen und massiven Oberfläche den Willen aufzuzwingen.
Sie war eine Aes Sedai, und sie war eine Traumgängerin. Sie musste beides einsetzen. Mit angespannten Sinnen kehrte sie zurück in das Zimmer, in dem sie Mesaana begegnet war. Es war leer, obwohl die Wand noch immer in Trümmern lag. Irgendwo rechts donnerten Einschläge, und Egwene schaute um die Ecke. Feuerbälle schossen dort hin und her, Gewebe flogen durch die Luft.
Sie dachte sich hinter eine der kämpfenden Gruppen und erschuf zu ihrem Schutz einen dicken Glaszylinder, der sie einhüllte. Hier hatte der Turm schwere Zerstörungen davongetragen, die Wände qualmten. Egwene entdeckte eine einzelne Gestalt in einem blauen Kleid, die sich neben ein paar Trümmern duckte.
Nicola?, dachte Egwene zornig. Wie kommt die denn hierher? Ich dachte, ich könnte ihr endlich vertrauen! Das dumme Mädchen musste sich von einer der anderen, die erwacht waren, ein Traum-Ter’angreal besorgt haben.
Egwene wollte zu ihr springen und sie wegschicken, aber plötzlich riss unter Nicolas Füßen der Boden auf, und Flammen schossen in die Höhe. Aufschreiend wurde Nicola, eingehüllt in eine Gischt aus zerschmolzenem Stein, in die Luft geschleudert.
Egwene schrie auf, versetzte sich an die Stelle und erdachte eine stabile Steinmauer unter Nicola. Das Mädchen landete dort blutverschmiert; ihre Augen starrten ins Leere. Fluchend ging Egwene neben ihr auf die Knie. Das Mädchen atmete nicht.
»Nein!«, sagte sie.
»Egwene al’Vere! Aufpassen!« Das war Melaine.
Alarmiert drehte sich Egwene um, als neben ihr eine Mauer aus dickem Granitgestein in die Höhe wuchs und mehrere Feuerbälle aufhielt, die von hinten heranschossen. Melaine erschien neben Egwene, ganz in Schwarz gekleidet; selbst ihrer Haut war schwarz. Sie hatte sich in den Schatten des Korridors verborgen.
»Dieser Ort wird zu gefährlich für Euch«, sagte Melaine. »Überlasst ihn uns.«
Egwene schaute zu Boden. Nicolas Leiche verblasste. Dummes Kind! Sie warf einen Blick an der Mauer vorbei und sah zwei Schwarze Schwestern – Alviarin und Ramola – Rücken an Rücken stehen und zerstörerische Gewebe in verschiedene Richtungen schleudern. Hinter ihnen befand sich ein Zimmer. Egwene konnte tun, was sie bereits mehrmals getan hatte, in das Zimmer springen, die Mauer zerstören und die beiden darunter begraben…
Dummes Kind, hatte Bair gesagt, Euer Muster ist offensichtlich.
Genau das wollte Mesaana von ihr. Die beiden Schwarzen Schwestern waren ein Lockvogel.
Egwene sprang in das Zimmer, stemmte aber den Rücken gegen die Wand. Sie leerte ihre Gedanken und wartete angespannt.
Mesaana erschien wie schon zuvor. Das wallende schwarze Kleid war eindrucksvoll, aber auch ziemlich albern. Es bedurfte Konzentration, es aufrechtzuerhalten. Egwene starrte in die überrascht blickenden Augen der Frau und sah die Gewebe, die sie vorbereitet hatte.
Die werden mich nicht treffen, dachte Egwene zuversichtlich. Die Weiße Burg gehörte ihr. Mesaana und ihre Komplizinnen waren hier eingefallen und hatten Nicola, Shevan und Carlinya ermordet.
Gewebe flogen durch die Luft, flossen aber um Egwene herum. Einen Augenblick später trug Egwene die Kleidung einer Weisen Frau. Weiße Bluse, brauner Rock, ein Tuch über den Schultern. Sie stellte sich einen Speer in der Hand vor, einen Aielspeer, und schleuderte ihn mit einer präzisen Bewegung.
Der Speer durchbohrte die Gewebe aus Feuer und Luft, schleuderte sie zur Seite und traf dann etwas Massives. Ein Wall aus Luft vor Mesaana. Egwene weigerte sich, das zuzulassen. Dieser Wall gehörte nicht hierher. Er existierte nicht.
Eben sich kaum noch bewegend, flog der Speer weiter und traf Mesaana in den Hals. Die Frau riss die Augen auf und sackte nach hinten, Blut spritzte aus der Wunde. Die schwarzen Stoffstreifen, die um ihre Gestalt wogten, verschwanden genau wie das Kleid. Also hatte es sich um ein Gewebe gehandelt. Mesaanas dunkles Gesicht verwandelte sich in das von …
Katerine? Egwene runzelte die Stirn. Mesaana war die ganze Zeit Katerine gewesen? Aber sie hatte zu den Schwarzen gehört und war aus der Burg geflohen. Sie war nicht zurückgeblieben, und das bedeutete …
Nein, dachte Egwene. Man hat mich reingelegt. Sie ist ein…
In diesem Augenblick schnappte etwas um ihren Hals zu. Etwas Kaltes und Metallisches, etwas Vertrautes und Schreckliches. Noch im selben Moment entglitt ihr die Quelle, denn sie hatte nicht länger die Erlaubnis, sie zu halten.
Entsetzt fuhr sie herum. Eine Frau mit kinnlangem schwarzen Haar und dunkelblauen Augen stand neben ihr. Sie erschien nicht besonders beeindruckend, aber sie war ausgesprochen stark in der Macht. Und an ihrem Handgelenk hing ein Armband, das mit einer Leine mit dem Reif um Egwenes Hals verbunden war.
Ein Adam.
»Ausgezeichnet«, sagte Mesaana. »Ihr seid so garstige Kinder.« Sie schnalzte tadelnd mit der Zunge. Im nächsten Augenblick versetzte sie sich an einen anderen Ort und nahm Egwene einfach mit. Einen fensterlosen Raum, der aussah, als hätte man ihn aus dem Felsen geschnitten. Es gab nicht einmal eine Tür.
Alviarin wartete dort. Sie trug ein rotweißes Kleid. Die Frau fiel sofort vor Mesaana auf die Knie, obwohl sie Egwene einen äußerst zufriedenen Blick schenkte.
Egwene fiel das kaum auf. Stocksteif stand sie da, während ein Strom panikerfüllter Gedanken ihren Verstand überflutete. Sie war wieder gefangen! Sie konnte es nicht ertragen. Sie würde eher sterben, bevor sie zuließ, dass das erneut passierte. Bilder blitzten vor ihrem inneren Auge auf. Gefangen in einem Zimmer, wo sie sich ohne die Erlaubnis der Sul’dam kaum mehr als ein paar Fuß bewegen konnte. Behandelt wie ein Tier, heimgesucht von der schleichenden Überzeugung, dass ihr Wille am Ende brechen würde, dass sie genau das werden würde, was sie ihrem Willen nach sein sollte.
Oh, Licht. Das konnte sie nicht noch einmal erleiden. Nicht das.
»Sagt den anderen oben, sie sollen sich zurückziehen«, wandte sich Mesaana mit ruhiger Stimme an Alviarin. Egwene bekam die Worte kaum mit. »Sie sind Närrinnen, und ihre Leistung war erbärmlich! Es wird Strafen geben.«
Auf diese Weise war Moghedien von Nynaeve und Elayne überwältigt worden. Man hatte die Verlorene gefangen gehalten und gezwungen, das zu tun, was sie wollten. Egwene würde das Gleiche erleiden müssen! Vermutlich würde Mesaana sie mit einem Zwang belegen. Die Weiße Burg würde den Verlorenen völlig ausgeliefert sein.
Gefühle kochten hoch. Egwene krallte nach dem Kragen, was Mesaana zu einem amüsierten Blick animierte, während Alviarin verschwand, um ihre Befehle weiterzugeben.
Das konnte unmöglich passieren. Es war ein Albtraum. Ein…
Du bist eine Aes Sedai. Eine leise Stimme in ihrem Inneren flüsterte die Worte, aber trotz ihrer Verstohlenheit waren sie energisch. Und sie kamen tief aus ihr. Die Stimme war stärker als der Schrecken und die Furcht.
»Und jetzt reden wir über den Traumnagel«, sagte Mesaana. »Wo finde ich ihn?«
Eine Aes Sedai ist Ruhe, eine Aes Sedai ist Kontrolle, ganz egal, wie auch die Situation aussehen mag. Egwene nahm die Hände vom Kragen. Sie hatte sich nicht der Prüfung unterzogen, und das hatte sie auch nicht vor. Aber wenn sie es getan hätte, was, wenn sie gezwungen gewesen wäre, sich einer derartigen Situation zu stellen? Wäre sie zerbrochen? Hätte sie sich dem Mantel unwürdig erwiesen, den sie zu tragen behauptete?
»Wie ich sehe, bist du verstockt und willst nicht reden«, sagte Mesaana. »Nun, das kann man ändern. Diese Adam. Wunderbare Geräte. Es war so großartig von Semirhage, mich auf sie hinzuweisen, auch wenn das nur zufällig geschah. Eine Schande, dass sie starb, bevor ich ihr einen um den Hals legen konnte.«
Ein scharfer Schmerz schoss durch Egwenes Körper, als würde eine Feuersbrunst unter ihrer Haut wogen. Tränen traten in ihre Augen.
Aber sie hatte schon zuvor Schmerzen ertragen und gelacht, wenn man sie schlug. Sie war schon zuvor eine Gefangene gewesen, sogar in der Weißen Burg selbst, und die Gefangenschaft hatte sie nicht aufhalten können.
Aber das hier ist anders! Der größere Teil von ihr war voller Angst. Das ist das Adam! Ich kann ihm nicht widerstehen!
Das muss eine Aes Sedai aber, erwiderte die leise Stimme in ihr. Eine Aes Sedai kann alle Dinge ertragen, denn nur dann kann sie wahrlich die Dienerin aller sein.
»Also«, sagte Mesaana. »Sag mir, wo du das Gerät versteckt hast.«
Egwene brachte ihre Furcht unter Kontrolle. Es war nicht einfach. Beim Licht, es fiel so schrecklich schwer! Aber sie tat es. Ihre Miene wurde ganz ruhig. Sie trotzte dem A’dam, indem sie ihm keine Macht über sie gewährte.
Stirnrunzelnd zögerte Mesaana. Sie riss an der Leine, und noch mehr Schmerzen überfluteten Egwene.
Sie ließ sie verschwinden. »Mir ist der Gedanke gekommen, Mesaana«, sagte sie ruhig, »dass Moghedien einen Fehler machte. Sie akzeptierte das Adam.«
»Was soll das…«
»An diesem Ort ist ein A’dam so bedeutungslos wie die Gewebe, die es verhindert«, fuhr Egwene fort. »Es ist nur ein Stück Metall. Und es hält einen nur dann auf, wenn man akzeptiert, dass es das tut.« Das A’dam sprang auf und fiel von ihrem Hals.
Mesaana sah zu, wie es klirrend auf dem Boden landete. Ihr Gesicht erstarrte und wurde eiskalt, als sie wieder zu Egwene hochschaute. Beeindruckenderweise geriet sie nicht in Panik. Mit unbeteiligtem Blick verschränkte sie die Arme. »Also hast du hier geübt.«
Egwene erwiderte ihren Blick.
»Du bist trotzdem ein Kind«, sagte Mesaana. »Du glaubst, du kannst mich besiegen? Ich bin länger in Tel’aran’rhiod gewandelt, als du dir vorstellen kannst. Du bist was … zwanzig Jahre alt?«
»Ich bin die Amyrlin«, erwiderte Egwene.
»Eine Amyrlin für Kinder.«
»Die Amyrlin einer Weißen Burg, die seit Tausenden von Jahren Bestand hat. Tausende Jahre Schwierigkeiten und Chaos. Trotzdem hast du den größten Teil deines Lebens in einer Zeit des Friedens und nicht des Krieges gelebt. Schon seltsam, dass du dich für so stark hältst, wo doch so viel von deinem Leben so leicht war.«
»Leicht?«, fragte Mesaana. »Du weißt gar nichts.«
Keine von ihnen senkte den Blick. Egwene fühlte, wie sie etwas bedrängte, genau wie zuvor. Mesaanas Willenskraft, die ihre Unterwerfung forderte. Der Versuch, mithilfe von Tel’aran’rhiod die Art und Weise zu verändern, auf die Egwene dachte.
Mesaana war stark. Aber an diesem Ort war Stärke eine Sache der Perspektive. Mesaanas Wille setzte ihr zu. Aber Egwene hatte das A’dam besiegt. Sie konnte auch dem hier widerstehen.
»Du wirst dich fügen«, sagte Mesaana leise.
»Du irrst dich«, erwiderte Egwene angespannt. »Hier geht es nicht um mich. Egwene al’Vere ist ein Kind. Aber die Amyrlin ist es nicht. Ich mag jung sein, aber der Sitz ist uralt.«
Keine der Frauen brach den Blickkontakt. Egwene übte nun ebenfalls Druck aus, verlangte, dass sich Mesaana vor ihr verneigte, vor der Amyrlin. Die Luft um sie herum fühlte sich unvermittelt schwer an, und als sie sie einatmete, erschien sie irgendwie dickflüssig.
»Alter ist irrelevant«, sagte sie. »Bis zu einem gewissen Punkt ist sogar Erfahrung irrelevant. Bei diesem Ort geht es darum, was eine Person darstellt. Die Amyrlin ist die Weiße Burg, und die Weiße Burg wird sich nicht beugen. Sie trotzt dir, Mesaana, dir und deinen Lügen.«
Zwei Frauen. Die sich mit Blicken maßen. Egwene hörte auf zu atmen. Sie musste nicht atmen. Alles war auf Mesaana konzentriert. Schweißperlen rannen ihre Schläfen hinunter, jeder Muskel in ihrem Körper war angespannt, während sie Mesaanas Willen zurückdrängte.
Und sie wusste unwiderruflich, dass diese Frau, diese Kreatur, ein unbedeutendes Insekt war, das sich gegen einen gewaltigen Berg stemmte. Dieser Berg würde sich nicht bewegen. Und stemmte man sich zu hart dagegen, dann …
Etwas in dem Raum zerbrach leise.
Egwene atmete keuchend ein, als die Luft wieder normal wurde. Mesaana sackte wie eine Stoffpuppe zusammen. Mit geöffneten Augen schlug sie auf dem Boden auf; Speichel sickerte aus ihrem Mundwinkel.
Benommen setzte sich Egwene hin und atmete keuchend ein und aus. Sie schaute zur Seite, wo das weggeworfene A’dam lag. Es verschwand. Dann schaute sie wieder zu Mesaana, die dort wie ein Bündel lag. Ihre Brust hob und senkte sich noch, aber ihr Blick starrte ins Leere.
Egwene blieb einen langen Augenblick dort liegen, bevor sie aufstand und die Quelle umarmte. Sie webte Stränge aus Luft um die reglose Verlorene, dann versetzte sie sich zusammen mit der Frau zu den oberen Etagen des Turms.
Überrascht drehten sich Frauen zu ihr um. Der Korridor war mit Trümmern übersät, aber jede der Frauen gehörte zu ihr. Die Weisen Frauen, die zu ihr herumfuhren. Nynaeve, die Geröll durchsuchte. Siuan und Leane, die mehrere geschwärzte Schnitte im Gesicht hatte, aber stark aussah.
»Mutter«, sagte Siuan erleichtert. »Wir hatten schon befürchtet …«
»Wer ist das?«, fragte Melaine und ging zu Mesaana, die schlaff in dem Gewebe aus Luft hing und den Boden anstarrte. Plötzlich krähte die Frau wie ein Kind und beobachtete gebannt die Flämmchen an den Überresten eines Wandteppichs.
»Sie ist es«, sagte Egwene müde. »Mesaana.«
Überrascht sah Melaine Egwene an.
»Beim Licht!«, rief Leane aus. »Was habt Ihr getan?«
»Das habe ich schon einmal gesehen«, meinte Bair und musterte die Frau. »Sammana, eine Traumgängerin der Weisen Frauen in meiner Jugend. Im Traum begegnete sie etwas, das ihren Verstand zerstörte.« Sie zögerte. »Sie verbrachte den Rest ihrer Tage in der wachen Welt mit Sabbern und musste gesäubert werden. Sie hat nie wieder ein Wort gesprochen, jedenfalls nicht mehr als die Worte eines Kleinkinds, das gerade gehen kann.«
»Vielleicht ist es Zeit, Euch nicht mehr als Lehrling zu betrachten, Egwene al’Vere«, sagte Amys.
Nynaeve hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah beeindruckt aus, klammerte sich aber noch immer an die Quelle. Im Traum hatte ihr Zopf wieder seine alte Länge. »Die anderen sind weg«, sagte sie.
»Mesaana hat ihnen befohlen zu fliehen«, sagte Egwene.
»Sie können nicht weit gekommen sein«, sagte Siuan. »Die Kuppel ist noch immer da.«
»Ja«, sagte Bair. »Aber es ist Zeit, dass dieser Kampf endet. Der Feind ist besiegt. Wir sprechen uns, Egwene al’Vere.«
Egwene nickte. »Ich stimme beidem zu. Bair, Amys, Melaine, ich danke Euch für Eure dringend benötigte Hilfe. Ihr habt damit vielerrungen, und ich stehe in Eurer Schuld.«
Melaine musterte die Verlorene, als sich Egwene aus dem Traum schickte. »Ich glaube, wir und die Welt selbst stehen in Eurer Schuld, Egwene al’Vere.«
Die anderen nickten, und als Egwene aus Tel’aran’rhiod verblasste, hörte sie Bair murmeln: »Was für eine Schande, dass sie nicht zu uns zurückgekehrt ist.«
Perrin drängte sich in einer brennenden Stadt durch Horden verängstigter Menschen. Tar Valon! In Flammen! Die Steine brannten, der Himmel war dunkel gerötet. Der Boden erbebte wie ein verletzter Hirschbock, der um sich trat, während ein Leopard ihn am Hals ausbluten ließ. Vor Perrin klaffte plötzlich der Boden auf, und er stolperte, als Flammen in die Höhe schossen und die Haare auf seinen Unterarmen ansengten. Menschen schrien, als ein paar von ihnen in diesen schrecklichen Abgrund stürzten und zu Asche verbrannten. Plötzlich war der Boden mit Leichen übersät. Zu seiner Rechten fing ein schönes Gebäude mit Bogenfenstern an zu schmelzen, der Stein verflüssigte sich, und Lava blutete aus den Fugen und Öffnungen.
Perrin stand wieder auf. Das ist nicht real.
»Tarmon Gai’don!«, riefen die Leute. »Die Letzte Schlacht ist da! Alles endet! Beim Licht, alles endet!«
Perrin stolperte erneut, zog sich an einem Felsblock nach oben und versuchte zu stehen. Sein Arm schmerzte, und seine Finger wollten nicht richtig zupacken, aber die schlimmste Wunde war die in seinem Bein, wo ihn der Pfeil getroffen hatte. Hose und Mantel waren feucht von Blut, und der Gestank seines eigenen Entsetzens stieg ihm in die Nase.
Er wusste, dass dieser Albtraum nicht real war. Aber wie sollte man sich diesem Schrecken entziehen? Im Westen brach der Drachenberg aus, wütende Rauchwolken quollen dem Himmel entgegen. Der gesamte Berg schien in Flammen zu stehen, rote Flüsse strömten seine Flanken hinab. Perrin konnte fühlen, wie er erzitterte und starb. Gebäude zersprangen, erbebten, schmolzen, zerbrachen. Menschen starben, von Steinen erschlagen oder verbrannt.
Nein. Er würde sich nicht dort hineinziehen lassen. Vor ihm verwandelten sich die zerborstenen Pflastersteine in saubere Bodenfliesen und den Dienstboteneingang der Weißen Burg. Perrin zwang sich auf die Füße und erschuf einen Stab, an dem er humpeln konnte.
Er vernichtete den Albtraum nicht; er musste den Schlächter finden. Möglicherweise war er an diesem schrecklichen Ort im Vorteil. Der Schlächter kannte sich sehr gut mit Tel’aran’rhiod aus, aber vielleicht – falls das Glück auf Perrins Seite stand – war der Mann geschickt genug gewesen, um Albträumen in der Vergangenheit aus dem Weg zu gehen. Vielleicht würde er sich von dem hier überraschen und in ihn hineinziehen lassen.
Zögernd schwächte Perrin seine Entschlossenheit und ließ sich wieder in den Albtraum ziehen. Der Schlächter würde in der Nähe sein. Perrin stolperte über die Straße und hielt sich von dem Gebäude fern, aus dessen Fenstern Lava brodelte. Es fiel schwer, sich von den Schmerzensschreien abzuwenden. Von den Hilferufen.
Da, dachte Perrin, als er zu einer Gasse kam. Dort stand der Schlächter mit gesenktem Kopf und stützte sich mit einer Hand an der Hauswand ab. Neben dem Mann klaffte ein Riss im Boden, in dessen Tiefe Magma brodelte. Menschen klammerten sich schreiend an den Rand des Abgrunds. Der Schlächter ignorierte sie. Wo seine Hand die Wand berührte, fing sie an, sich von weiß getünchten Ziegeln in den grauen Stein des Burginneren zu verwandeln.
Das Ter’angreal hing noch immer an der Taille des Schlächters. Perrin musste schnell handeln.
Die Mauer schmilzt durch die Hitze, dachte Perrin und konzentrierte sich auf die Wand neben dem Schlächter. Hier fiel es leichter, auf diese Art die Dinge zu verändern – man ließ der von dem Albtraum erschaffenen Welt freie Bahn.
Fluchend riss der Schlächter die Hand zurück, als die Wand plötzlich aufglühte. Unter ihm grollte der Boden, und er riss alarmiert die Augen auf. Er fuhr herum, als sich neben ihm eine Spalte öffnete, die Perrin dort hingedacht hatte. In diesem Moment erkannte Perrin, dass der Schlächter – nur für den Bruchteil einer Sekunde – den Albtraum für die Realität hielt. Er wich vor dem Abgrund zurück und schützte sich mit erhobener Hand vor der Hitze, weil er sie für echt hielt.
Dann verschwand er und erschien neben den Traumgestalten, die über dem Abgrund hingen. Der Albtraum vereinnahmte ihn und unterwarf ihn seinen Launen, wies ihm eine Rolle im Schreckensschauspiel zu. Beinahe überwältigte er auch Perrin. Er fühlte, wie er schwankte, um ein Haar auf die Hitze reagiert hätte. Aber nein. Springer lag im Sterben. Er würde nicht versagen!
Perrin gab sich das Aussehen einer anderen Person. Azi al’Thone, einen Mann von den Zwei Flüssen. Er kleidete sich, wie er es auf der Straße gesehen hatte, Weste und weißes Hemd, eine feinere Hose, als man sie in Emondsfelde bei der Arbeit trug. Dieser Schritt überforderte ihn beinahe. Sein Herz schlug schneller, und er stolperte, als der Boden bebte. Ließ er sich völlig von dem Albtraum vereinnahmen, würde er wie der Schlächter enden.
Nein, dachte er und klammerte sich an der Erinnerung an Faile in seinem Herzen fest. An seinem Zuhause. Sein Gesicht mochte sich ändern, die Welt mochte erbeben, aber sie blieb sein Zuhause.
Er lief zum Abgrund, zur Hitze, und verhielt sich wie ein Teil des Albtraums. Vor Entsetzen laut schreiend griff er in die Tiefe, um jenen zu helfen, die in den Abgrund zu stürzen drohten. Und obwohl er nach jemand anderem griff, fluchte der Schlächter und schnappte sich seinen Arm, um sich daran hochzuziehen.
Dabei nahm sich Perrin das Ter’angreal. Der Schlächter kletterte über ihn hinweg und erreichte die relative Sicherheit der Gasse. Verstohlen erschuf Perrin ein Messer in seiner anderen Hand.
»Verflucht«, knurrte der Schlächter. »Ich hasse diesen Unsinn.« Der Boden um ihn herum verwandelte sich plötzlich in Fliesen.
Perrin richtete sich mühsam auf und bemühte sich ängstlich zu erscheinen – das fiel nicht schwer. Er stolperte auf den Schlächter zu. In diesem Augenblick fiel der Blick des hartgesichtigen Mannes auf das Ter’angreal in seinen Fingern.
Der Schlächter riss die Augen auf. Perrin ließ die Hand nach vorn schnellen und rammte ihm das Messer in den Bauch. Aufschreiend stolperte der Mann zurück, hielt sich den Leib. Blut strömte über seine Finger.
Der Schlächter biss die Zähne zusammen. Um ihn herum verzerrte sich der Albtraum. Er würde bald platzen wie eine Blase. Der Schlächter richtete sich wieder auf, senkte die blutige Hand. In seinen Augen blitzte der Zorn.
Perrin fühlte sich unsicher auf den Beinen. Er war so schwer verwundet worden. Der Boden erzitterte. Neben ihm öffnete sich ein neuer Spalt voller Lava, aus dem glühende Hitze emporfauchte, Hitze wie …
Perrin erstarrte. Wie vom Drachenberg. Er betrachtete das Ter’angreal in seiner Hand. Die Angstträume der Menschen sind stark, flüsterte Springers Stimme in seinem Verstand. So stark…
Als der Schlächter auf ihn zukam, biss Perrin die Zähne zusammen und schleuderte das Ter’angreal in den Lavasee.
»Nein!«, schrie der Schlächter, und um ihn herum entfaltete sich wieder die Realität. Der Albtraum zerplatzte, seine letzten Überreste verschwanden. Perrin kniete auf den kalten Fliesen eines kleinen Korridors.
Ein kurzes Stück zu seiner Rechten lag ein zerschmolzener Metallklumpen auf dem Boden. Perrin lächelte.
Genau wie der Schlächter stammte das Ter’angreal aus der realen Welt. Und wie ein Mensch konnte es hier zerbrochen und zerstört werden. Die violette Kuppel über ihnen war verschwunden.
Knurrend kam der Schlächter heran und trat Perrin in den Magen. In seiner Brustverletzung explodierte der Schmerz. Der nächste Tritt folgte. Ihm schwanden die Sinne.
Geh, Junger Bulle, übermittelte Springer. Seine Stimme klang so schwach. Flieh!
Ich kann dich nicht zurücklassen!
Und doch … muss ich dich verlassen.
Nein!
Du hast deine Antwort gefunden. Suche Grenzenlos. Er wird… dir… diese Antwort… erklären.
Perrin blinzelte durch die Tränen hindurch, als ein weiterer Tritt landete. Er schrie auf, während Springers so vertraute und tröstliche Botschaft in seinem Geist verblich.
Er war nicht mehr.
Perrin schrie gequält. Mit erstickter Stimme und tränennassen Augen schickte er sich aus dem Wolfstraum. Floh wie ein erbärmlicher Feigling.
Egwene erwachte mit einem Seufzen. Mit noch geschlossenen Augen atmete sie ein. Der Kampf mit Mesaana hatte ihren Geist belastet – tatsächlich litt sie unter schrecklichen Kopfschmerzen. Um ein Haar wäre sie dort besiegt worden. Ihre Pläne hatten funktioniert, aber die Bedeutung der Geschehnisse hatte in ihr ein sehr nachdenkliches Gefühl hinterlassen, hatte sie vielleicht sogar etwas überwältigt.
Trotzdem war es ein großer Sieg gewesen. Sie würde die Weiße Burg durchsuchen lassen müssen, um die Frau zu finden, die nun nach dem Aufwachen den Verstand eines Kindes hatte. Irgendwie wusste sie, dass sich Mesaana nicht davon erholen würde. Das hatte sie schon gewusst, bevor Bair es ansprach.
Egwene schlug die Augen auf und lag in einem angenehm dunklen Raum, schmiedete die ersten Pläne, den Saal zusammenzurufen und zu erklären, warum Shevan und Carlinya niemals aufwachen würden. Sie nahm sich einen Augenblick der Trauer für sie, als sie sich aufsetzte. Sie hatte ihnen die Gefahren erklärt, konnte aber das Gefühl nicht abschütteln, sie im Stich gelassen zu haben. Und Nicola, die immer schneller gehen wollte, als sie sollte. Sie hätte nicht dort sein sollen. Es war…
Egwene zögerte. Was war das für ein Geruch? Hatte sie nicht die Lampe brennen lassen? Sie musste erloschen sein. Sie umarmte die Quelle und webte eine Lichtkugel, die über ihre Hand schwebte. Der von ihr enthüllte Anblick raubte ihr den Atem.
Die durchsichtigen Vorhänge an ihrem Bett waren blutgetränkt, fünf Körper lagen auf dem Boden. Drei davon trugen schwarz. Einer davon war ein unbekannter junger Mann im Wappenrock der Burgwache. Der Letzte trug einen weißroten Mantel und Hosen.
Gawyn!
Egwene sprang vom Bett und fiel neben ihm auf die Knie, ignorierte die Kopfschmerzen. Er atmete nur schwach und hatte eine klaffende Wunde in der Seite. Sie verwebte Erde, Geist und Luft zum Heilen, war aber auf diesem Gebiet alles andere als begabt. Von Panik erfüllt arbeitete sie weiter. Er gewann wieder etwas an Farbe, und die Wunden schlossen sich langsam, aber sie schaffte einfach nicht genug.
»Hilfe!«, rief sie. »Die Amyrlin braucht Hilfe!«
Gawyn erwachte. »Egwene«, flüsterte er und schlug mühsam die Augen auf.
»Pst, Gawyn. Du wirst wieder gesund. Hilfe! Die Amyrlin braucht Hilfe!«
»Du … du hast nicht genug Lampen angelassen«, flüsterte er.
»Was?«
»Die Botschaft, die ich schickte …«
»Wir haben nie eine Botschaft erhalten«, sagte sie. »Beweg dich nicht. Hilfe!«
»Es ist keine in der Nähe. Ich habe gerufen. Die Lampen … es ist gut… du bist nicht…« Er lächelte benommen. »Ich liebe dich.«
»Beweg dich nicht«, sagte sie. Beim Licht! Sie weinte.
»Aber die Attentäter waren nicht deine Verlorenen«, murmelte er undeutlich. »Ich hatte recht.«
Das hatte er in der Tat; was waren das für fremde schwarze Uniformen? Seanchaner?
Ich müsste tot sein, begriff sie. Hätte Gawyn diese Attentäter nicht aufgehalten, wäre sie im Schlaf ermordet worden und aus Tel’aran’rhiod verschwunden. Sie hätte Mesaana nie töten können.
Plötzlich kam sie sich wie eine Närrin vor, und jedes Triumphgefühl löste sich in Luft auf.
»Es tut mir leid«, sagte Gawyn und schloss die Augen, »dass ich dir nicht gehorcht habe.« Er entglitt ihr.
»Das ist schon in Ordnung, Gawyn«, erwiderte sie und blinzelte Tränen weg. »Ich gehe jetzt mit dir den Bund ein. Das ist die einzige Möglichkeit.«
Sein Griff an ihrem Arm wurde etwas fester. »Nein. Nicht solange … du es nicht…«
»Du Narr«, sagte sie und bereitete die Gewebe vor. »Natürlich will ich dich als meinen Behüten Das wollte ich immer.« » Schwöre es.«
»Ich schwöre es. Ich schwöre, dass ich dich als meinen Behüter und als meinen Gemahl haben will.« Sie legte ihm die Hand auf die Stirn und berührte ihn mit dem Gewebe. »Ich liebe dich.«
Er keuchte auf. Plötzlich konnte sie seine Gefühle und seine Schmerzen fühlen, als wären es ihre eigenen. Und sie wusste, dass er im Gegenzug die Wahrheit ihrer Worte fühlen konnte.
Perrin schlug die Augen auf und holte tief Luft. Er weinte. Weinten Leute im Schlaf, wenn sie normale Träume träumten?
»Dem Licht sei Dank«, rief Faile aus. Er schlug die Augen auf und sah, dass sie neben ihm kniete, genau wie jemand anders. Masuri?
Die Aes Sedai nahm seinen Kopf zwischen die Hände, und er fühlte die Eiseskälte einer Heilung über ihm zusammenschlagen. Die Wunden in seinem Bein und auf seiner Brust schlossen sich.
»Wir haben versucht, dich zu Heilen, während du schliefst«, sagte Faile und bettete seinen Kopf in ihren Schoß. »Aber Edarra hat uns davon abgehalten.«
»Das kann man nicht machen. Es hätte auch nicht funktioniert.« Das war die Stimme der Weisen Frau. Perrin konnte sie irgendwo im Zelt hören. Er blinzelte. Er lag auf seiner Pritsche. Draußen herrschte Dämmerlicht.
»Es ist mehr als eine Stunde vergangen«, sagte er. »Ihr solltet schon lange weg sein.«
»Pst«, machte Faile. »Die Wegetore funktionieren wieder, und fast jeder ist durch. Nur ein paar tausend Soldaten sind noch hier – größtenteils Aiel und Männer von den Zwei Flüssen. Glaubst du, sie würden ohne dich gehen, glaubst du, ich würde dich zurücklassen?«
Er setzte sich auf und wischte sich die Stirn ab. Sie war schweißfeucht. Er versuchte, den Schweiß verschwinden zu lassen, so wie er es im Wolfstraum immer tat. Natürlich scheiterte er. Edarra stand hinter ihm an der Wand. Sie musterte ihn berechnend.
Er wandte sich Faile zu. »Wir müssen hier weg«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Der Schlächter wird nicht allein arbeiten. Es wird eine Falle geben, möglicherweise ein Heer. Jemand mit einem Heer. Sie könnten jeden Augenblick zuschlagen!«
»Kannst du stehen?«, fragte Faile.
»Ja.« Er fühlte sich schwach, aber mit Failes Hilfe schaffte er es. Das Zelttuch raschelte, und Chiad trat mit einem Wasserschlauch ein. Perrin nahm ihn dankbar entgegen und trank. Es löschte seinen Durst, aber die Schmerzen wühlten noch immer in seinem Leib.
Springer … Er senkte den Wasserschlauch. Im Wolfstraum war der Tod endgültig. Wohin würde Springers Seele gehen?
Ich muss weitermachen, dachte er. Meine Leute in Sicherheit bringen. Er schritt zum Zelteingang. Seine Beine fühlten sich bereits kräftiger an.
»Ich sehe deine Trauer, mein Gemahl«, sagte Faile, die ihn begleitete und ihm die Hand auf den Arm legte. »Was ist geschehen?«
»Ich verlor einen Freund«, sagte er leise. »Zum zweiten Mal.«
»Springer?« Sie roch ängstlich.
»Ja.«
»Oh, Perrin, es tut mir so leid.« Ihre Stimme war sanft, als sie aus dem Zelt traten. Es stand ganz allein auf dem Feld, das einst sein Heer beherbergt hatte. Auf dem gelben und braunen Gras zeichneten sich noch immer die Abdrücke von Zelten ab; in großen Zickzackmustern waren Pfade in den Schlamm getreten worden. Es sah aus wie der Grundriss einer Stadt, vorgefertigte Abschnitte für Gebäude, gerade Linien für spätere Straßen. Aber jetzt war es so gut wie menschenleer.
Der grollende Himmel war dunkel. Chiad hielt eine Laterne hoch, um das Gras vor ihnen zu beleuchten. Mehrere Gruppen Soldaten warteten. Töchter hoben ihre Speere in die Höhe, als sie ihn sahen, dann schlugen sie sie gegen ihre Schilde. Ein Zeichen der Anerkennung.
Die Männer von den Zwei Flüssen waren auch da, sammelten sich um ihn, als sich die Nachricht verbreitete. Wie viel von dem, was er heute Nacht getan hatte, konnten sie sich denken? Die Männer von den Zwei Flüssen jubelten, und trotz seiner Anspannung nickte Perrin ihnen zu. Das Übel lag noch immer in der Luft. Er hatte angenommen, dass der Traumnagel es verursachte, aber das war anscheinend ein Irrtum gewesen. Hier roch es wie in der Großen Fäule.
Die Asha’man standen, wo sich die Mitte des Lagers befunden hatte. Sie drehten sich bei Perrins Näherkommen um und salutierten mit der Hand auf der Brust. Sie schienen in guter Form zu sein, obwohl sie gerade das ganze Lager transportiert hatten.
»Bringt uns hier weg, Männer«, sagte Perrin zu ihnen. »Ich will keine Minute länger an diesem Ort bleiben.«
»Ja, mein Lord«, sagte Grady und klang eifrig. Er konzentrierte sich sichtlich, und neben ihm öffnete sich ein kleines Wegetor.
»Hindurch«, sagte Perrin und winkte die Männer aus den Zwei Flüssen heran. Sie schritten mit schnellem Schritt hindurch. Die Töchter und Gaul warteten bei Perrin, genau wie Elyas.
Perrin ließ den Blick über den ehemaligen Lagerplatz schweifen. Beim Licht. Ich komme mir vor wie eine Maus, die von einem Laiken in Augenschein genommen wird.
»Ich schätze nicht, Ihr könntet für etwas Licht sorgen?«, sagte Perrin zu Neald, der neben dem Tor stand.
Der Asha’man nickte, und eine Reihe Lichtkugeln erschienen ringsum. Sie sausten auf dem Feld herum.
Sie zeigten nichts. Nur einen verlassenen Lagerplatz. Die letzten Männer der Truppe verschwanden im Tor. Perrin und Faile schlossen sich ihnen an, gefolgt von Gaul, Elyas und den Töchtern. Schließlich passierten die Machtlenker in einer engen Gruppe.
Die Luft auf der anderen Seite des Wegetors war kühl und roch erfrischend sauber. Perrin war sich gar nicht bewusst gewesen, wie sehr ihn der Gestank des Bösen gestört hatte. Er atmete tief ein. Sie befanden sich auf einer Anhöhe, ein Stück von einem Lichtflecken neben einem Fluss entfernt, der vermutlich Weißbrücke war.
Seine Truppen jubelten, als er durch das Tor kam. Das große Lager war bereits größtenteils aufgebaut, Wachtposten aufgestellt. Das Tor hatte sich auf einem großen Platz im hinteren Teil geöffnet und war mit Pfosten abgetrennt.
Sie waren entkommen. Der Preis dafür war hoch gewesen, aber sie waren entkommen.
Graendal lehnte sich zurück. Die Lederkissen waren mit den Daunen von Kallirjungen gefüllt, die es in diesem Zeitalter bloß in Shara gab. Sie nahm die Luxuriosität kaum wahr.
Der Diener – eine Leihgabe Moridins – kniete vor ihr auf einem Knie. Sein Blick loderte leidenschaftlich und war nur zur Hälfte gesenkt. Er stand unter Kontrolle, wenn auch nur so gerade eben. Er wusste, dass er einzigartig war.
So wie er zu wissen schien, dass man sie für sein Versagen verantwortlich machen würde. Graendal schwitzte nicht. Dazu war sie viel zu kontrolliert. Plötzlich flogen die Fensterläden des weitläufigen Zimmers mit dem roten Fliesenboden auf, und ein kalter Meerwind fuhr durch den Raum und blies mehrere Lampen aus. Qualm stieg von den Dochten auf.
Sie würde nicht scheitern.
»Lass die Falle trotzdem zuschnappen«, befahl sie. »Aber …«, sagte der Diener.
»Tu es, und widerspreche keiner Auserwählten, du Hund.« Der Diener senkte den Blick, obwohl noch immer ein rebellisches Funken darin lag.
Egal. Sie hatte noch immer ein Werkzeug, das sie so sorgfältig platziert hatte. Das sie für einen Augenblick wie diesen vorbereitet hatte.
Es galt vorsichtig zu agieren. Aybara war ein Ta’veren, und auch noch ein furchterregend starker. Aus der Ferne abgeschossene Pfeile würden fehlgehen, und in einer Zeit friedvoller Besinnlichkeit würde er aufmerksam sein und entkommen.
Sie brauchte einen Sturm, in dem er genau im Zentrum stand. Und dann würde die Klinge zuschlagen. Das ist noch nicht vorbei, Gefallener Schmied. Nicht einmal annähernd.