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Während Grischa sich im Bauch des Schiffs auf dem Schlafplatz einrichtete, den die anderen Männer ihm teils knurrig, teils unter gutmütigen Frotzeleien zugewiesen hatten, und dabei von der Fahrt träumte, die vor ihm lag, fühlte Katya sich auf dem Strohsack in dem Verschlag verloren. In ihrem ganzen Leben hatte es noch keine Nacht gegeben, in der Grischa nicht da gewesen war; seine Atemzüge hatten ihren Schlaf begleitet, solange sie zurückdenken konnte.

Still war es, in diesem fremden Haus, in der fremden Stadt. Leise, mit heftig klopfendem Herzen, stahl sich Katya durch die Hintertür hinaus und an den Käfigen vorbei. Schnalzte sacht mit der Zunge, Laute, mit denen sie auch zu Hause aufgeregte Hühner und Gänse beruhigt hatte.

Sie orientierte sich an dem Geruch des Wassers, richtete sich nach seinem Gurgeln und Strömen; alles Wasser hier musste doch irgendwann ins Meer fließen.

Die Häuser der Stadt begleiteten sie durch die Finsternis. Nur vereinzelt glommen Lichter in der Nacht und sammelten sich als blasse Pfützen auf dem Boden.

»He, dewotschka

Eine körperlose Männerstimme in ihrem Rücken, lockend und forsch. Katya ging schneller.

»He, Mädchen! Wo willst du denn hin um diese Zeit?«

Schritte zogen sich hinter ihr zusammen, eine zweite Stimme wob sich unter die erste, eine dritte. Katya begann zu laufen, und das aufschäumende Gelächter blieb hinter ihr zurück.

Sie atmete auf, sie hatte die Nacht wieder für sich.

Jenseits der letzten Häuser war die weite Schwärze erdrückend. Was in der Finsternis lauern mochte, daran versuchte sie nicht zu denken. Umso verbissener konzentrierte sie sich auf das Fließen des Wassers neben ihr, das in seinen Wellen langsam, aber unbeirrbar die Nacht dem Tag entgegentrug.

Das Licht der Sterne ritzte schließlich Umrisse aus der Dunkelheit heraus. Silhouetten wie die der Boote auf dem See zu Hause, nur ungleich größer und massiger. Atemlos schritt Katya die Schiffe ab, ein angstvolles Pochen in der Kehle.

Ein blaues Schiff war es, hatte Grischa erzählt, aber nachts waren nicht nur alle Katzen grau.

Erleichterung schoss heiß durch sie hindurch, als sie an einem der Schiffe eine Holzschnitzerei ausmachen konnte. Grischas Schiff trug nicht nur einen Stern im Namen, sondern auch einen Stern an seinem Bug, als einziges im Hafen.

Prüfend zerrte sie an einem der Taue, an denen der wuchtige Holzleib im Wasser dümpelte; es schien stramm und stark genug, um sie auszuhalten. Dort, wo sie herkam, lernte man klettern, schon allein, um die Äpfel zu erreichen, die sich hartnäckig außen an den Ästen festkrallten.

Katya stopfte die Schuhe unter ihre Bluse und reckte sich, um das Tau möglichst weit oben packen zu können. Die Beine um das Seil geschlungen, zog sie sich daran hinauf. Die Reling schob sich in ihr Gesichtsfeld, und Katya streckte eine Hand danach aus.

Eine unerwartet kräftige Welle rauschte heran, krachte gegen die Kaimauer, und das Schiff bäumte sich auf wie eine bockende Ziege. Katya rutschte ab und baumelte keuchend einige Herzschläge lang gefährlich locker am Seil, bevor sie, die Beine über dem Tau übereinandergeschlagen, mit beiden Händen Halt fand.

Fest an das ungeduldig schwingende Tau geklammert, wartete sie, bis das Schiff wieder ruhig im Wasser lag.

Erneut hangelte sie sich nach oben und stemmte dann die bloßen Füße gegen die Bordwand. Dieses Mal bekam sie die Reling zu fassen, zog sich hinauf und schwang sich darüber.

Geräuschlos ließ sie sich auf das verlassene Deck fallen. Sich im Bauch des Schiffs ein Versteck zu suchen schien ihr zu riskant; im Dunkeln könnte sie jederzeit etwas umstoßen, vielleicht über einen schlafenden Seemann stolpern.

Eine schwarze Masse hinter einem der Masten zog Katyas Blicke an. Auf Zehenspitzen schlich sie näher, betastete Konturen und Formen, dann erhellte sich ihre Miene. Sie schob die Plane ein Stück weit zur Seite, hievte sich auf die Fässer hinauf und zwängte sich in einen Hohlraum zwischen ihnen, gerade groß genug für einen schmalen Kinderleib wie ihren. So gut es ging, zog sie die Abdeckung wieder zurecht, bevor sie sich darunter zusammenkauerte.

Jetzt erst zitterten ihre Arme und Beine; aufseufzend ließ Katya den Kopf zurücksinken und schloss die Augen.

Stimmen rissen Katya aus dem Schlaf, scharfe Befehle und stampfende Schritte. Ein Luftzug fegte über sie hinweg; geblendet blinzelte sie in grelle Sonnenstrahlen und ein wettergegerbtes Männergesicht.

»Zecke an Bord!«

Katya blieb keine Zeit, sich wegzuducken, und noch weniger Raum; harte Hände packten sie und zerrten sie zwischen den Fässern hervor.

»Eine Deckratte!«

Unter Johlen und Gelächter warfen sich die Matrosen das Mädchen zu; wie räudige Kater, die mit einer strampelnden Maus ihr grausames Spiel trieben.

»Tanz für uns, dewotschka , tanz!«

Katya kratzte und biss, schmetterte ihren Ellbogen gegen Jochbeine und Schläfen und kickte gegen Rippenbogen, wie sie es zu Hause bei ihren Brüdern gelernt hatte, und die Männer lachten umso lauter.

Kopfüber landete Katya auf der Schulter eines Matrosen; einer ihrer Schuhe rutschte aus der Bluse und polterte auf die Decksplanken, während die Holzsohle des anderen sich in ihren Brustkorb drückte. Einen flüchtigen Moment lang traf sich ihr Blick mit dem Grischas. Das Gesicht starr vor Wut und ein Glühen in den Augen, sprang er dem Seemann in den Rücken und trat ihm die Beine unter dem Körper weg.

Katya schlug auf den Planken auf und zog ein Knie unter sich, um aufzustehen, doch der nächste Seemann hatte sie bereits am Knöchel gepackt und zerrte sie lachend über das Deck. Wie ein Stier nahm Grischa Anlauf und rammte ihm den Kopf in den Magen; die Faust, die ihn dafür zwischen den Rippen traf, ließ ihn aufkeuchen.

Was eben noch ein unbekümmert grober Zeitvertreib der Seeleute gewesen war, schlug in nackte Wut um, die sich in Gewalt entlud, und die Männer brüllten drohende Verwünschungen.

»Auseinander, alle!«, donnerte jemand irgendwo über ihnen. »Und ihr zwei da, runter von meinem Schiff!«

Mit Hieben und Stößen in den Rücken jagten die Männer Katya und Grischa von Bord wie Ungeziefer.

Grischas Reise nach England war vorbei, bevor sie überhaupt begonnen hatte.

»Es tut mir leid.«

Vom Trubel auf dem Kai umspült, schwieg Grischa, während er dem Schiff nachsah, das mit geblähten Segeln davonzog. Einen eigentümlichen Glanz in den Augen, der vielleicht auch nur eine Spiegelung der Sonne war.

Erst als der weiße Fleck des Segelschiffs sich im Blau von Himmel und Meer aufgelöst hatte, setzte Grischa sich in Bewegung. Einen ziellosen Schritt nach dem anderen, die ihn in die Stadt zurücktrugen. Durch die Straßen voller Menschen, die wussten, wo sie ihr tägliches Brot herbekamen und in der Nacht schlafen würden.

Barfuß trottete Katya hinter ihm her, ihren Schuh an sich gepresst, nutzlos wie sie selbst.

Ihr Bruder schwieg weiterhin. Auch dann noch, als sie hinter einem Gasthaus die Ratten verjagten, um den Abfall nach noch Essbarem zu durchwühlen, und sich mit ihrer Beute in einem Winkel zwischen Kisten und Fässern niederließen.

»Es tut mir leid«, wiederholte Katya mit dünner Stimme.

Ein Gebet um Vergebung, das unerhört blieb.

Mit abweisender Miene hobelte Grischa Schimmel von Brotkanten, schnitt faulige Stellen aus runzligen Äpfeln. Dass er ihr nach und nach die besseren Apfelreste, das größere Stück Brot reichte, war das Einzige, das ihr die Hoffnung gab, Grischa würde nicht allzu lang böse auf sie sein.

»Willst du zurück ins Gasthaus von Pjotr Iwanowitsch?«

Grischa hielt im Kauen inne, schüttelte dann den Kopf, und Katya atmete auf. Nachdem sie die Gutherzigkeit von Pjotr Iwanowitsch und Olga Arkadjewna damit vergolten hatte, in der Nacht wegzulaufen, wollte Katya ihnen nicht noch einmal unter die Augen treten; schäbig kam sie sich vor und undankbar.

»Trotzdem müssen wir von etwas leben«, erklärte Grischa mit nüchterner Härte. »Und irgendwo schlafen.«

Katya wischte sich Krumen aus den Mundwinkeln. Das alte Brot lag ihr genauso schwer im Magen wie die gärigen Äpfel; vielleicht war aber auch der dumpfe Schmerz schuld, den die Grobheit der Seeleute zwischen ihren Rippen hinterlassen hatte.

»Ich muss von hier fort, Katya. Fort aus Russland. Das ist sicherer, für uns beide.«

Es war mehr als das. Katya hatte nicht gewusst, wie sehr sein Herz daran hing, bis sie heute Morgen am Kai den Ausdruck in seinen Augen gesehen hatte. Den Traum von jemandem, der einem lieb ist, zerschmettert zu haben war ein hässliches Gefühl.

»Wäre ich ein Junge … hätten sie mich dann mitgenommen?«

Grischa zuckte mit den Schultern. Nach Asche schmeckte die Hoffnungslosigkeit, die ihn durchrieselte.

Katya dachte an all die Dinge, die sie tun und mitmachen und erdulden musste. Die man ihr verbot und vorschrieb. Nur weil sie ein Mädchen war.

Kurz entschlossen umschloss sie mit einer Hand ihren Zopf und griff sich mit der anderen das Messer, das auf dem Boden zwischen ihnen lag.

»Was machst du?« Grischa packte ihre Hand, die wütend auf die schwarzen Flechten einhackte. »So wird trotzdem kein Junge aus dir!«

Katya gab nicht nach, mit erstaunlicher Kraft hielt sie das Messer umklammert.

»Aber ich kann so tun, als wäre ich einer!«

Leuchtend grün schillerten ihre Augen. In ihrer Entschlossenheit, ihrem Trotz erkannte Grischa etwas von sich selbst wieder; er wollte sich genauso wenig den Regeln beugen, die andere für ihn aufgestellt hatten.

»Warum willst du so unbedingt mit?«

»Vielleicht will ja auch ich etwas von der Welt sehen!«

Vielleicht wurden Träume eher wahr, wenn man sie zu zweit träumte.

Grischa musterte seine Schwester, die grimmig zurückstarrte. Er konnte sich Katya nicht als Jungen vorstellen, mit ihrem zarten Gesicht, den großen Augen unter dem dichten Wimpernkranz, den fein gezeichneten Brauen.

Aber es war die beste Chance, die sie hatten.

Seine Finger drückten noch fester zu. »Lass mich das machen.«

Katyas Blick blieb misstrauisch, doch sie ließ sich das Messer entwinden.

Eine seidige Strähne nach der anderen schor Grischa vom Kopf seiner Schwester.

Kapitän Dmitri Pawlowitsch Borodin, stämmig und graubärtig und verwittert wie eine alte Eiche, musterte den Burschen, der breitbeinig vor ihm auf dem Kai stand, die Hände auf dem Rücken verschränkt und die Schultern durchgedrückt.

»Wie alt bist du?«

»Sechzehn, Kapitän Borodin«, log Grischa, ohne mit der Wimper zu zucken. »Und Kostja ist zehn.«

Katya, die Grischas Haltung nachahmte, reckte sich noch ein Stück. Von der Last des schweren Zopfs befreit, fühlte sich ihr Kopf leicht und frei an. Sie stemmte beide Fußsohlen fest in den Boden, wie sie es bei ihren Brüdern beobachtet hatte. Die mehrfach am Bund umgekrempelte Hose, mit einem aus Katyas Rock gerissenen Streifen zusammengeschnürt, hing klamm auf ihren Hüften. Frisch gewaschen hatten sie sie vom Rand eines Brunnens gestohlen.

Nicht nur Bettler waren sie geworden, sondern auch Diebe.

Der Kapitän nahm keine Notiz von ihr, er interessierte sich einzig für Grischa.

Borodin gefiel Grischas Körperbau, schon fast mannesstark, aber noch wendig genug, um in der Takelage herumzuklettern. Der Hunger in seinen Augen, der von dem unbedingten Willen erzählte, zur See zu fahren, war vielversprechend; diesem Burschen würde nichts zu viel sein, was man ihm auftrug. Er würde sich anstrengen.

»Bist du schon mal zur See gefahren?«

»Nein, Kapitän Borodin.«

»Besitzt du wärmere Sachen als die da?«

»Auch nicht, Kapitän Borodin.«

Es war das Selbstbewusstsein, das in diesen Augen brannte, an dem der Kapitän sich störte. Die Art, wie der Bursche das Kinn hob, herausfordernd und fast anmaßend. Mit Matrosen, die derart von sich überzeugt waren, hatte Borodin schlechte Erfahrungen gemacht. Zu leicht widersetzten sie sich der Rangordnung an Bord, verweigerten den Gehorsam und stifteten lästige Unruhe.

Aber Kapitän Borodin konnte nicht allzu wählerisch sein, er hatte ohnehin zu wenige Hände an Deck. Eine Fahrt nach Grönland lockte nur die Seeleute, die nirgendwo anders mehr anheuern konnten, denen alles egal war. Oder naive Grünschnäbel wie diesen hier.

»Heuer gibt es bei mir keine. Du bekommst deinen Anteil vom Erlös der Fahrt, wenn wir zurück sind. Irgendwo finden sich bestimmt auch Stiefel für dich. Nur geliehen, versteht sich. Sobald du wieder abmusterst, kriege ich die zurück. Für das Kerlchen da habe ich allerdings keine Verwendung«, endete er mit einem abfälligen Fingerschnippen in Katyas Richtung.

»Ich könnt schon noch zwei flinke Hände brauchen.«

Der gedrungene Bursche, der im Hintergrund Säcke und Bündel von einem Karren lud, richtete sich auf und wischte sich mit dem Ärmel über die feucht glänzende Stirn. Sein fleischgepolstertes Gesicht unter dem flachshellen Haar war gerötet; gutmütig und freundlich sah er aus.

»Und was Warmes zum Anziehen hätt ich auch für den Kleinen.«

Seine wasserblauen Augen zwinkerten Katya zu. Ihre Mundwinkel hoben sich, bevor der Kapitän seinen eisernen Blick auf sie richtete und sie wieder ernst und stramm dastand. Jeden Fingerbreit von ihr schien er mit seinen Augen zu vermessen und abzuschätzen und dabei bis unter ihre Haut zu dringen.

Als witterte er, dass mit diesem feingliedrigen Jungen etwas nicht stimmte.

Eine heiße Röte kroch Katyas Hals hinauf, und ihr Magen zog sich nervös zusammen.

»Von mir aus«, knurrte der Kapitän schließlich.

Katyas Herz klopfte wild in ihrem Brustkorb. Als Kostja, Grischas kleiner Bruder, würde sie in den Norden segeln. In die Heimat von Schnee und Eis.

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