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Katya beschattete die Augen mit der Hand und blinzelte auf das Meer hinaus.

Blau, so weit sie blicken konnte. Blauer Himmel, blauer Ozean, auf dessen Dünung die Sonne glänzte. Nur ein dunstiger Streifen am Horizont verriet, dass es irgendwo dort noch Land gab.

Fremde Küsten, fremde Inseln. Eine ganze große, weite Welt vor ihr, wohin sie den Blick auch richtete; so lange hatte sie davon geträumt.

Katya konnte sich nicht daran sattsehen. Auch nach Wochen auf See nicht, in denen die Maiden of the Seas unter vollen Segeln durch die Wellen pflügte, als wüsste sie, dass ihre Fracht eine vergängliche war. Begleitet von den Walen und Delfinen; Glücksbringer, wie die Männer der Besatzung nicht müde wurden, vergnügt zu versichern.

Sie wandte sich um, als ein Schatten neben ihr auf das Deck fiel, und lächelte zu Grischa auf.

»Bis ans Ende der Welt«, sagte er.

Kapstadt lag bereits hinter ihnen. Unterhalb des fast unwirklich gerade abgeschnittenen Tafelbergs ein lärmender und rauer Hafen, in dem sie Frischwasser und Proviant aufgenommen hatten. Sobald sie die Südspitze Afrikas umrundet hätten, würde außer ein paar verstreuten Inselchen nichts als weites, offenes Meer kommen, bis nach Indien; die Hälfte ihrer Strecke hatten sie bereits geschafft.

Katya legte den Kopf in den Nacken und lachte laut. Auch sie hatte gerade an das Versprechen gedacht, das Grischa ihr damals gegeben hatte. Auf den Wiesen über Tromsø, zwischen den Multbeeren, fast acht Jahre war es jetzt her. Er hatte sie wirklich in das Eis und den Schnee gebracht und jetzt an das Ende der Welt.

Übermütig umarmte sie ihren Bruder.

»Und weiter darüber hinaus«, fügte sie hinzu.

Während er mit einer Hand über Katyas Rücken rieb, strich seine andere über die Reling.

»Manchmal denke ich, ich träume. Mein Schiff.«

Ein Grinsen blitzte in seinem Mundwinkel auf.

»Nur gechartert, zugegeben. Aber trotzdem. Mein Schiff.«

Katya verstand, was er meinte. Die Maiden of the Seas befand sich nicht in ihrem Besitz, sie hatten nicht einmal dafür bezahlt, Heinrich Pohl hatte ihnen die Charter vorgestreckt. Und trotzdem gehörte sie ihnen für die Dauer dieser Reise. Sie trugen die Verantwortung für das Schiff und seine Männer, aber sie waren auch die Herren an Bord, alle vier von ihnen.

Niemand konnte ihnen befehlen, was sie zu tun oder zu lassen hatten. Außer Grischa, auf seiner ersten Fahrt als Kapitän.

Für Katya ein unbeschreibliches Gefühl absoluter und grenzenloser Freiheit.

»Wir dürfen noch lange weiterträumen«, erwiderte sie leise.

Beide lächelten gedankenversunken, als sie an das Eis dachten, das den Rumpf der Maiden of the Seas beschwerte und zu einem Eiskeller machte, und beide brachen sie in glückliches Lachen aus.

Thilo trat schmunzelnd zu ihnen und legte jedem eine Hand auf die Schulter.

»Lasst mich mitlachen.«

Aus einiger Entfernung beobachtete Christian die drei, wie sie die Köpfe zusammensteckten, miteinander scherzten und lachten.

Ausgeschlossen fühlte er sich, wie vier Jahre zuvor, in ihrem ersten Winter in Norwegen. Nur begann ihm jetzt, auf dieser Fahrt, zu dämmern, woran es lag.

Während Katya, Grischa und Thilo gerade erst dabei waren, ihr Leben anzupacken und nach ihren Wünschen zu gestalten, war seines längst schon abgesteckt, zurechtgestutzt und in eine Form gepresst.

Aus purer Fleischeslust hatte er geheiratet, inzwischen schal geworden. Aus Vernunftgründen, die ihm längst unter den Füßen weggebröckelt waren. Am Ende war es schlicht nichts als jugendlicher Trotz und Aufbegehren gewesen, weshalb er Henny sein feierliches Eheversprechen gegeben hatte; eine Kette, die er sich selbst geschmiedet hatte.

Er musste daran denken, wie Henny, schluchzend und tränenüberströmt, sich beim Abschied auf dem Kai an ihn geklammert hatte. Nur mit sanfter Gewalt hatte er ihre Arme von sich lösen können, die sie wie Schlingpflanzen um seinen Hals wickelte.

Erst seit er hier an Bord war, konnte er wieder frei atmen.

Jetzt verstand er Johann Silberbergs Worte am zugefrorenen See von Voroninvatnet; jetzt begann er die feinen Unterschiede zwischen Lust und Liebe und Freundschaft und die fließenden Übergänge dazwischen zu erahnen.

Als ob die Sonne, die unbarmherzig auf das Deck knallte, den Eissplitter in seinem Auge schmelzen würde, von dem Katya einmal gesprochen hatte.

Eine Lektion, die zu spät kam. Nachdem er sein Leben bereits auf eine Sandbank gesetzt hatte, blind und taub, in eitler Dummheit und falschem Stolz.

Lachend trieben Grischa, Thilo und Katya auseinander, jeder in einen anderen Winkel des Decks.

Christians Blick fing sich an Katya, die barfuß und in einer Männerhose in die Takelage hinaufstieg. Mit einer kraftvollen Eleganz, von der er nicht die Augen lassen konnte, ihr rabenschwarzer Zopf mal über die Schulter fallend, dann wieder über ihren Rücken pendelnd, und das Gesicht in den Himmel gerichtet. Als wäre dieser die einzige Grenze, die sie jemals akzeptieren würde.

Sie war zu der Frau geworden, die er einmal, an einem Abend in der Stube der Voronins, ein paar Wimpernschläge lang vor sich gesehen hatte. Wagemutig und klug und von einem so starken Charakter, dass sie niemanden brauchte, der sie bei der Hand nahm und ihr den Weg zeigte.

Eine solche Frau zu lieben wäre nie bequem, nie geruhsam, sondern ein Abenteuer. Ein unglaubliches Geschenk, das einen herausforderte, aber auch bereicherte. Das einen lebendig hielt.

Christian fragte sich, was für ein Mann er heute wäre, wäre er geduldig genug, mutig genug gewesen, um auf diese Frau zu warten.

Grischa saß in seiner Kajüte und studierte im Schein der Laterne die Karten, die er vor sich ausgebreitet hatte.

Es lag nicht nur an der stickigen Luft hier unten, dass das Hemd feucht auf seinem Rücken klebte; nicht nur der Schweiß, den er vergoss, ließ ihm Schauder über den Nacken rinnen.

Es klopfte, und Thilo steckte den Kopf zur Tür herein.

»Hier bist du. Wir warten in der Messe mit dem Essen auf dich.«

»Ich habe keinen Hunger.«

Thilo zögerte und schloss dann die Tür behutsam hinter sich.

»Ist alles in Ordnung?«

Grischa starrte auf die Küstenlinien, die sich über das Papier vor ihm schlängelten. Mal schienen sie sich zu einem unentwirrbaren Dickicht zusammenzuballen, dann wieder zu einem undurchdringlichen Wall zurückzuweichen. Auch die Zahlenreihen seiner Berechnungen verschwammen vor seinen Augen.

Wie auch immer er sich entscheiden würde, ein Versagen schien unausweichlich.

Er brauchte einige Augenblicke, um sich Thilo anzuvertrauen.

»Ich frage mich«, gestand er leise, »ob es nicht ein Fehler war. Auf meiner ersten Fahrt als Kapitän gleich bis nach Indien zu wollen. Ob wir nicht einen Mann mit mehr Erfahrung hätten anheuern sollen. Jemanden, der diesen Teil der Welt wie seine Westentasche kennt.«

Grischa hatte Angst. Eine Angst, wie er sie nicht mehr gekannt hatte seit jener Nacht, als er von dem Gehöft weggelaufen war.

Thilo hatte ihn noch nie derart unsicher erlebt; es war fast eine Erleichterung, dass auch Grischa offenbar Zweifel kannte.

Er schob die Instrumente zur Seite, die die Kanten der Karten beschwerten, und ließ sich auf dem Tisch nieder.

»Erzähl mir mehr.«

Grischa atmete tief durch und rieb sich unwillkürlich den Nacken, in dem es prickelte, fast schon schmerzhaft stechend.

»Wir bekommen Sturm.«

Thilo blinzelte.

»Ich war vorhin noch oben an Deck. Der Himmel ist absolut klar. Selbst am Horizont sind keine Wolken zu sehen.«

Grischas Lächeln hatte etwas Gequältes.

»Es liegt in der Luft. Dort draußen braut sich etwas zusammen. Nichts Gutes. Und nichts, was nach ein paar Stunden wieder vorüber sein wird.«

»Was ist dein Plan?«

»Bis Indien gibt es kaum noch eine Möglichkeit, irgendwo Schutz suchen.«

Grischas Handkante zeichnete eine Route über den papiernen Ozean und schwenkte dann um. Sein Zeigefinger kam auf dem Knochensplitter neben der Schädelsilhouette Afrikas zu liegen.

»Die letzte Möglichkeit wäre morgen. Diese Bucht hier auf Madagaskar. Dort könnten wir Unterschlupf finden, bis das Schlimmste vorüber ist.«

»Aber?«

Grischa verzog das Gesicht.

»Mit dem Risiko, dass wir dort länger festsitzen, als uns lieb ist, und unseren Vorsprung verlieren.«

Zwei Wochen waren sie Frederic Tudor auf jeden Fall voraus, vielleicht sogar mehr, sollte sich das Auslaufen seines Frachters verzögert haben. Ein Vorsprung, der rasch schrumpfen könnte, wäre sein Schiff schneller als die Maiden of the Seas .

Was Christian nicht davon abgehalten hatte, ihr Eis in den Zeitungen Kalkuttas bereits vollmundig als dasjenige anzukündigen, das als Erstes eintreffen würde.

»Wenn ich der Kapitän wäre«, sagte Thilo nach einer langen Pause, »und du mein Erster Offizier … Was würdest du mir raten?«

Ein Mundwinkel Grischas zuckte ironisch.

»Rette das Schiff«, gab er die Worte wieder, die er einmal von Kapitän Halvorson gehört hatte. »Rette immer das Schiff. Das hält dich und deine Männer am Leben. Opfere nie etwas anderes als deine Fracht.«

Thilo legte Grischa die Hand auf die Schulter.

»Du wirst uns schon heil durch den Sturm bringen. Das weiß ich.«

Grischa legte seine Hand auf die Thilos.

Einige Herzschläge lang hielten sich auch ihre Blicke fest.

Thilos Augen hellten sich auf wie damals, bevor sie einander das erste Mal geküsst hatten. Ein Hoffnungsschimmer, für sie beide. Inmitten einer Sturmfront, die sie immer wieder auseinandertrieb, ohne dass sie einander je aus dem Sichtfeld verloren.

In diesem Moment fragte sich Grischa, ob alle Männer, alle Frauen dieser Welt es wirklich wert sein konnten, einen Menschen wie Thilo gehen zu lassen.

Rette das Schiff.

Worte formten sich auf seiner Zunge, zu ungewohnt, zu gewichtig, als das sie ihm leicht über die Lippen kamen, und er verschluckte sich daran.

Thilos Augen verdunkelten sich wieder. Er löste sich von Grischa, stand auf und nahm diesen kostbaren Moment mit sich.

Schweigend hörten Katya, Thilo und Christian zu, während Grischa ihnen in der engen Kajüte die Lage erläuterte. Laut und überdeutlich sprach er; das Heulen des Windes und das Donnern des Meeres übertönten sogar noch das Stampfen der Pumpen, die alle Mühe hatten, das Meerwasser aus dem Bauch zu schaffen, bevor sein Salz ihr Eis antaute.

Über ihren Köpfen schwang die Laterne im Rhythmus der Wellen hin und her, die die Maiden of the Seas von einer Seite zur anderen warfen, sogar im Schutz der Bucht.

Dabei hatte der Sturm merklich nachgelassen, jetzt, am fünften Tag. Eine reine Rechengröße, vorgegeben vom Chronometer hier in der Kajüte. Zusammengesetzt aus finsteren Nächten und lichtloser Dämmerung, in der Regenfluten alles an Farbe auswuschen, der brüllende Wind die Palmen der Küste schüttelte und das eisengraue Meer aufpeitschte.

Bis sie wieder auf die offene See hinaussegeln und Kurs auf Indien nehmen konnten, würden sie mehr als eine Woche verloren haben.

Während sie notfalls auch etwas von ihrer kostbaren Fracht schmelzen könnten, um genug Trinkwasser an Bord zu haben, ließ Grischa die Essensrationen kürzen. Es sprach für seine Fähigkeiten als Kapitän, dass keiner der Männer darüber murrte; in tapferer Einsicht genickt hatten sie.

Und es sprach auch für ihn, dass er sie hier alle zusammengerufen hatte, um gemeinsam zu besprechen, wie es jetzt weitergehen solle.

»Können wir es denn noch rechtzeitig schaffen?«, wollte Thilo wissen.

Grischa zuckte die Schultern.

»Mit genug Glück kann man alles schaffen. Es stellt sich nur die Frage, ob wir es darauf ankommen lassen und dann weitersehen wollen oder schon früher eine andere Möglichkeit in Betracht ziehen.«

In der Wucht eines Tropensturms tagelang unter Deck eingeschlossen zu sein hatte diesem Wettrennen den Zauber genommen. Zwischen Bangen und Hoffen, diese nasse Hölle heil zu überstehen, war es ihnen allen zunehmend sinnlos erschienen, mit Frederic Tudor in Wettstreit zu treten.

Der vermutlich nicht einmal wusste, dass sich vier junge Leute aus Hamburg vorgenommen hatten, ihn von seinem Thron als Eiskönig zu stoßen, und der sich wohl auch nicht darum scherte.

Vermessen und eitel war ihr Plan gewesen, das sahen sie jetzt alle ein. Der unbedingte Wille jedoch blieb, das Eis, in das sie so viel investiert hatten, in den Tropen gewinnbringend zu verkaufen.

»Gibt es denn eine andere Möglichkeit?«, hakte Thilo nach.

Katya beugte sich vor und ließ ihren Finger über die Küstenlinie Indiens wandern.

»Können wir nicht einen anderen Hafen anlaufen und dort unser Eis verkaufen?«

»Wir haben unsere Lieferung für Kalkutta angekündigt«, wandte Thilo nachsichtig ein.

»Schon«, überlegte Katya halblaut, während sie weiter eingehend die Karte studierte. »Aber nützt uns das im Zweifel noch etwas, wenn alle, die dort Eis haben wollen, ihres bereits bei Tudor gekauft haben? Bekommen wir unseres dann überhaupt noch los?«

Fragend sah sie zu ihrem Bruder hinüber.

»Was ist mit Madras? Das ist deutlich weiter im Süden, wir wären also auch schneller dort.«

»Nur wartet dort keiner auf unser Eis«, gab Grischa zur Antwort.

»Wir wissen allerdings auch nicht, ob in Kalkutta wirklich jemand darauf wartet«, beharrte Katya. »Aber heiß ist es sicher auch in Madras. Und damit hätten wir auf jeden Fall eine Chance, das Eis zu verkaufen.«

»Katya hat recht.«

Überrascht richteten sich alle Augen auf Christian, der sich bislang schweigend in eine dunkle Ecke gedrückt hatte und sich nun vorbeugte, ins Licht der schaukelnden Laterne.

»Wir pfeifen auf unsere Ankündigung. Auf dieses gottverdammte Wettrennen. Lieber setze ich alles auf eine Karte, als dass ich mich mit den Brotkrumen zufriedengebe, die Tudor uns vielleicht übrig lässt.«

Ernst war Christian, seine Stimme fest, beinahe hart, während es in seinen Augen blitzte. Es verwirrte Katya, dass er ihr zum allerersten Mal bei etwas beistand, das sie für richtig hielt. Als sich sein Blick mit ihrem traf, schlug sie die Augen nieder, eine plötzliche Hitze auf den Wangen.

Grischa wandte sich an Thilo. »Was meinst du?«

Thilo dachte darüber nach und rieb sich das Kinn.

»Ich bin kein Freund von großen Wagnissen«, sagte er schließlich. »Aber je länger ich mir das durch den Kopf gehen lassen, umso eher glaube ich auch, dass unsere Chancen in Madras besser stehen.«

Mit einem tiefen Aufatmen lehnte Grischa sich zurück.

»Dann auf nach Madras.«

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