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Es war nicht die Kälte, die Grischa geweckt hatte. Eine Unruhe in den Gliedern hatte ihn aus dem Schlaf geholt, ein empfindliches Kribbeln in der Kuhle zwischen Nacken und Schädel.

Ein Schneesturm zog auf.

Auf dem Strohsack neben sich vermisste er den vertrauten Körper von Katya, die ihn für gewöhnlich ebenso warm hielt wie er sie; manchmal stieß sie ihn im Schlaf mit einem spitzen Ellbogen in die Rippen oder trat ihn gegen das Schienbein.

Im bläulichen Widerschein, der durch die Ritzen und Fugen im Holz sickerte, konnte Grischa die Umrisse des Vaters auf seinem Schlafplatz über dem Ofen erkennen. Die Schlafstätten seiner älteren Brüder auf dem Boden, die verrußte Luft überreif von Zwiebelatem und abgestandenem Schweiß, dem ranzigen Geruch der am Abend ausgelöschten Talglichter.

Seine kleine Schwester war nirgends zu sehen.

Mit klammen Fingern tastete Grischa nach den Schuhen; er kannte es nicht anders, als unter den aufgefädelten Pilzen und Beeren in seinen Kleidern zu schlafen.

Vor der Tür biss die frostige Nacht in sein Gesicht, der Gestank des Klohäuschens und des Misthaufens noch schärfer in der Winterluft. Immer achtsam, meckerten die Ziegen im Stall, und auch eine der Wächtergänse gab einen warnenden Schrei von sich. Wie tadelnd, weil Grischa zu dieser Unzeit herumlief.

Hinter der Lagerhütte für die Rüben und den Kohl ruhten die Felder und Weiden unter einer weichen Decke aus Schnee. Nicht ihr eigenes Land, sondern das des Grundherrn.

Sein Atem dampfend, zerrte Grischa an den Ärmeln der Jacke aus Schaffell. Über den Sommer war er in die Höhe geschossen; ein kräftiges Knochengerüst, das er noch nicht ausfüllte. Obwohl sie keinen Hunger litten, schien für ihn dennoch nie genug Brot auf den Tisch zu kommen, nie genug Fisch und Eier, zu wenige Piroggi und Blini. Mit seinen dreizehn Sommern war er jetzt schon fast so groß wie Jakov, der älteste der vier Brüder, oder wie Boris. Igor, der ihm im Alter am nächsten stand, hatte er längst überholt.

Auch Grischas Gesichtszüge hatten sich ausgedehnt und waren massiver geworden, der dunkle Flaum auf Kinn und Oberlippe jedoch noch weit von den buschigen Bärten seiner Brüder und des Vaters entfernt.

Das Kribbeln in seinem Nacken wurde stärker, lange würde der Wind nicht mehr auf sich warten lassen.

Die Lammfellmütze tief über die Ohren gezogen, folgte Grischa den kleinen Fußabdrücken im Schnee.

Hell dehnte sich der große See in der Finsternis aus.

Die harschigen Schneeschwellen am Ufer gaben unter Katyas Holzsohlen nach und durchnässten ihre löchrigen Schuhe. Morgen oder übermorgen würde sie neue flechten müssen; diesen Winter löste sich der Bast schneller auf als im vorigen, nach kaum ein paar Tagen. Der Sommer war trocken gewesen.

Ein Summen vibrierte in der schweigenden Nacht. Ein Pochen, regelmäßig wie ein Herzschlag.

Das Eis singt, dachte Katya.

Ein glückliches Kitzeln unter dem Brustbein, trat sie auf den zugefrorenen See, und jeder ihrer Schritte wirbelte Schneekristalle auf, die mit nadelfeinem Klang auf die glatte Fläche zurückfielen.

Mal klagende, mal lockende Laute schwirrten metallisch durch die Luft, von der dunklen Umarmung des Waldes in einem vielstimmigen Echo zurückgeworfen.

Das Eis singt.

Ein Lied, das Katya mit atemlosem Staunen erfüllte und sie weiter und weiter auf das erstarrte Wasser hinaustrieb.

Unter der schweren Stille des nächtlichen Waldes begann sich etwas zu regen. Auch die Tiere spürten den nahen Sturm, und Grischa ging schneller.

In der Ferne hob das Jaulen eines Wolfs an, und aus heiseren Kehlen antwortete sein Rudel. Grischa hatte von Wölfen gerissene Schafe und Ziegen gesehen; Katya wäre eine leichte Beute, sie war doch erst neun Winter alt. Obwohl es ihm gegen einen hungrigen Wolf wenig nutzen würde, packte Grischa das Messer an seinem Hosenbund und begann zu laufen.

Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er Katyas schmächtige Silhouette auf dem See entdeckte. Das Eis war nicht dick genug, es würde noch dauern, bis man es gefahrlos betreten konnte. Bis sich die Männer des Dorfes aufmachen würden, um Blöcke herauszuschneiden, die den Keller des Grundherrn über den kommenden Sommer kühl hielten.

»Katya.«

Die klare Nacht trug seinen Ruf auf den See hinaus. Seine Schwester rührte sich nicht.

»Katya«, wiederholte er, dieses Mal mit einer unmissverständlichen Aufforderung.

Sie wandte sich um, ihr Gesicht vom Licht der Sterne blass erleuchtet.

»Du hast es kaputt gemacht. Es singt nicht mehr.«

Grischa kannte die Töne des Eises, als Gesang hätte er sie nicht bezeichnet. Sie waren ihm unheimlich wie das Heulen der Wölfe, das sich näherte und wieder entfernte. Er vertraute nur dem Wind und dem Regen, die ihr Kommen und Gehen immer ankündigten und ihn nie enttäuschten.

»Es wird ein anderes Mal wieder singen.«

Unbeweglich harrte Katya auf dem starren See aus, der an dieser Stelle schon tief war; nicht einmal die großen Brüder schwammen im Sommer so weit hinaus.

»Komm her, Katyuscha. Das ist zu gefährlich.«

Sie schüttelte den Kopf, sodass das Ende ihres Zopfes durch die Luft peitschte. So war sie oft, starrsinnig und unbeugsam.

Grischa trat auf das Eis.

»Beweg dich nicht, ja? Ich komme dich holen.«

Einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen, schob er sich auf Katya zu.

»Geh nicht weiter, Grischa. Mich trägt es, du bist zu schwer.«

Unter Grischas Holzsohlen klickte und knirschte es; fast konnte er das eisige Wasser des Sees darunter fühlen.

»Ich bleibe stehen, wenn du mir entgegenkommst.«

Sogar im Licht der Nacht meinte Grischa zu sehen, wie Katyas Augen Funken schlugen.

Sein Nacken fühlte sich steif an, ein dumpfer Druck hielt seinen Hinterkopf umklammert; die ersten frischen Schneeflocken schwebten durch die Luft. Er streckte die Hand nach seiner Schwester aus.

»Komm jetzt, Katyuscha. Wir bekommen Sturm.«

Immer wieder blickte Grischa zu seiner Schwester, die schweigend und mit hängendem Kopf neben ihm durch den Schnee stapfte. Ein rauer Wind hatte sich an ihre Fersen geheftet und sie schließlich eingeholt. Wütend zerrten die Böen an Katyas Röcken und an den Ohrenklappen von Grischas Mütze, schleuderten ihnen scharfkantige Kristalle in die Gesichter.

»Woher hast du gewusst, dass das Eis dich trägt, mich aber nicht?«

Die Stimme des Eises hallte in Katya nach. Ein Rest ihres Unmuts, für den sie sich schuldig fühlte; Grischa hatte sie nur beschützen wollen, wie er es immer tat.

Katya hob die Schultern unter ihrer Lammfelljacke und ließ sie wieder fallen.

»Spürst du das Eis so wie ich den Wind jetzt? Oder den Regen und den Frost?«

Grischa wusste, wann der Regen kam oder wie lange eine trockene Zeit noch anhalten würde. So konnten sie aussäen oder das Heu in die Scheune schaffen oder anfangen, die Erde zu wässern. Dann gediehen der Roggen auf dem Feld und die Gurken in ihrem Beet. So konnte Katya noch rechtzeitig alles an Pilzen und Nüssen im Wald sammeln, was sie fand, bevor der Schnee kam.

Nichts, was Grischa besondere Dankbarkeit oder Achtung einbrachte; wenigstens hatten der Vater und die Brüder gelernt, auf ihn zu hören. Grischas Gabe half ihnen, über die Runden zu kommen, besser als die meisten anderen Familien auf den Höfen abseits des Dorfes.

Aber Eis? Was bedeutete es schon, wenn Katya etwas über Eis wusste?

Grischa ließ nicht locker.

»Ist es wie bei Urgroßvater früher?«

Jakov, der Eisschnitzer, wie sie ihn nannten, wenn sie von ihm erzählten, um ihn von allen anderen Jakovs vor und nach ihm zu unterscheiden; es war immer der älteste Sohn, der diesen Namen trug.

»Mir kannst du es doch sagen, Katyuscha.«

Wenn im Winter die Welt leer und kalt wurde, schlich sich ein Flüstern heran. Ein Raunen und Wispern und Knistern, so leise, dass Katya sich anstrengen musste, um es zu hören. Nicht mit den Ohren, sondern irgendwo unter der Haut.

Das Eis wuchs.

Unsichtbar für das bloße Auge, bis es sich zu spiegelnden Flächen und rauen Strukturen geformt hatte. Jedes Mal eine Landschaft für sich, die Katya auf seltsame Art nach Hause rief.

Etwas, das schon immer in ihr da gewesen schien, über das sie aber erst jetzt, in diesem Winter, nachdachte. Gedanken wie die haarfeinen weißen Nadeln, die Boden und Bäume überzogen und als glitzernder Staub auf Katyas Fingerspitzen haften blieben.

Sie konnte es nicht erzählen, nicht einmal Grischa, sie hatte keine Worte dafür.

Grischa gab auf, und nicht nur, weil der Wind seine Zähne in sie schlug und ihnen den Atem nahm.

Großvater hätte gewusst, wie er Katya ein paar Worte entlocken konnte, wenigstens ein Lächeln. Mein Zicklein, hatte er zu ihr gesagt, wenn sie widerborstig war, und ihr mit knorrigen Fingern über den Kopf gerieben, dort, wo bei einer Ziege die Hörner saßen.

Jakov, der Regenmacher und Sonnenbeschwörer. Der Geschichtenerzähler.

Aber Großvater war nicht mehr da. Verwittert und morsch, hatte ihn der erste Frost dieses Winters gefällt.

Einen dumpfen Schmerz in der Brust wie ein frischer Bluterguss, nahm Grischa seine Schwester fest bei der Hand. Damit sie beide nicht verlorengingen in den Schneewirbeln, die sie fast blind machten auf ihrem Weg zurück zum Gehöft.

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