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Der September war immer ein betriebsamer Monat in Tromsø.

Für die Bauern war es die Zeit der Ernte, und die Hausfrauen füllten ihre Speisekammern für den langen Winter. Händler fielen wie Vogelschwärme ein und vertrieben sich die Zeit mit Essen und Trinken, dem Austausch von Neuigkeiten und Prahlereien über die jüngsten Gewinne.

Alle warteten auf die Heimkehr der Walfänger mit ihrer begehrten Fracht, der Nordmeerfahrer mit ihren Fellen und Robbenhäuten.

Auch Katya hatte im Haus von Silja Guðmundsdóttir alle Hände voll zu tun. Wenigstens regnete es seit vorgestern nicht mehr, in den Tagen zuvor war sie kaum damit fertig geworden, die Böden aufzuwischen. Sie bezog gerade die Betten neu, als Silja Guðmundsdóttir nach ihr rief.

Einen Korb mit frisch von der Leine genommenen Betttüchern unter dem Arm, stand Silja unten an der Treppe.

»Die ersten Walfänger laufen ein.«

Katyas Herz machte einen freudigen Satz. Ein kleines Lächeln auf den Lippen, nickte Silja Guðmundsdóttir ihr zu.

»Geh schon. Ich kann auch allein weitermachen.«

Glücklich flog Katya die Treppen hinab, sprang aus den Strohpantinen in ihre Schuhe und rannte mit tanzendem Zopf zur Tür hinaus.

Von den Schiffen war kaum mehr zu sehen als ihre Masten, so sehr wimmelte es auf der Mole von Menschen, mehr, als Tromsø überhaupt Einwohner zu haben schien.

Händler überschrien sich gegenseitig mit Geboten für die Fässer, die gerade erst von Bord gerollt wurden. Ehefrauen, oftmals noch in der Schürze, ihre kleinen Kinder am Rockzipfel und auf der Hüfte, warteten auf ihre über den Sommer fremd gewordenen Männer, die noch die letzten Handgriffe an ihren Seglern vornahmen. Mädchen warfen sich ihrem sehnsüchtig vermissten Liebsten in die Arme. Gelächter und freudige Zurufe sprudelten auf, und darüber klagten die Möwen schrill ihren Anteil am Beutezug ein.

Energisch schob und drängelte sich Katya durch die Menge und suchte Grischa zwischen all den struppigen Bärten, den hageren Gesichtern, von einer kalten Sonne verbrannt. Nach seinen dunklen Farben hielt sie Ausschau, zwischen den Abkömmlingen von Wikingern, kupferrot und blond, mit blau blitzenden Augen und Stimmen wie Donner.

In der vagen Hoffnung, dass Grischas Schiff überhaupt dabei war.

»Katyuscha!«

Katya fuhr herum, und da war er, bärtig und hohlwangig, aber heil und munter.

Mit aller Kraft schlang sie die Arme um ihn und presste das Gesicht in seinen harten Bauch, während er lachend über ihren Rücken rieb, und unter der beißenden Schärfe von Seefahrt und Walfang roch er noch immer nach Grischa, ihrem großen Bruder.

Es war jedes Mal ein Festtag, wenn Grischa nach Hause kam. Während er seinen Seesack auspackte und badete und sich rasierte, weichte Katya seine Seemannskleider ein, bezog sein verwaistes Bett oben in der Kammer und half in der Küche, wo Silja Guðmundsdóttir für das Abendessen etwas Besonderes kochte.

»Danke, Grischa.«

Katya konnte nicht aufhören, über die Kappe und die Fäustlinge zu streichen, die Grischa ihr mitgebracht hatte. Aus dem Fell eines Polarfuchses, waren sie weiß wie Schnee und weich wie feinste Daunen.

Eine Arbeit der Inuit. Während der Walfänger vor Grönland ankerte, um Frischwasser aufzunehmen, hatte Grischa sie mit einer kleinen Summe seines Ersparten erstanden. Zusammen mit anderen Fellen, die er hier in Tromsø mit Gewinn weiterverkaufen wollte.

Sikkerneqs mollige Rundungen an sich geschmiegt und eingehüllt in ihren schweren Moschusduft, hatte er sie nach solchen Fellen gefragt. Sie hatte nicht lange gebraucht, ihren Bruder davon zu überzeugen, seine Jagdbeute an Grischa zu verkaufen. Ohne die Dänen als Mittelsmänner, die das Monopol für sämtlichen Handel Grönlands innehatten. Inunnguaq, mit den stolzen Gesichtszügen eines Luchses, hatte Grischa einen guten Preis gemacht und trotzdem mehr dabei verdient, als ihm die Dänen dafür gezahlt hätten.

Die Ölhaut, in die Grischa die Felle eingeschlagen hatte, um sie während der Überfahrt vor Schmutz und schlechten Gerüchen zu schützen, hatte fast mehr gekostet.

Den Mund zusammengepresst, starrte Silja Guðmundsdóttir auf das Seehundfell, das Grischa nach dem Essen auf dem Tisch vor ihr ausgebreitet hatte.

»Ich wusste nicht, was Sie gern gehabt hätten. Ich dachte mir, Sie bestimmen lieber selbst, was Sie daraus anfertigen lassen.«

Mehr als genug Material für eine Kappe und ein Paar Handschuhe oder vielleicht sogar eine Weste, war dieses Fell schwarz wie die Nacht. Makellos, ohne auch nur das kleinste Härchen in Weiß oder Grau.

»Hätten Sie es lieber in einer anderen Farbe gehabt?«

Silja stieg das Blut ins Gesicht.

Als hätte Grischa geahnt, dass sie nicht deshalb weiter an ihrer Witwentracht festhielt, weil sie noch um Reidar Ingvarsson trauerte. Auch mehr als ein Jahrzehnt später trug sie schwarze Stoffe mit schwarzen Stickereien über der weißen Bluse ihrer Tracht, weil sie wusste, dass das ihrer Haut schmeichelte, ihr helles Blond und ihre Augen hervorstrich.

Eine kleine Eitelkeit Siljas, bei der sie sich nun ertappt fühlte.

Endlich lösten sich ihre Lippen. »Das ist es nicht.«

»Was ist es dann?«

»Es ist zu kostbar. Ich kann das nicht annehmen.«

Drei Jahre war es her, dass er hier vor der Tür gestanden war, mit nichts als Lumpen am Leib. Ohne zu wissen, wo er als Nächstes etwas zu essen für sich und seine Schwester herbekam oder wo sie schlafen sollten. Bei Silja Guðmundsdóttir hatten sie ein Dach über dem Kopf bekommen und immer eine Mahlzeit auf dem Tisch, sogar Kaffee am Morgen. Heute besaß er nicht nur Hemden und Hosen zum Wechseln und Stiefel für die See, sondern auch das Paar guter Schuhe, das er sich so lange ersehnt hatte.

Erst hier in Tromsø war es ihm möglich geworden, gutes Geld zu verdienen und sogar etwas davon abzuzweigen, um es in sein erstes kleines Geschäft zu investieren.

So etwas vergaß man nicht.

»Ich habe es gesehen und fand, Sie sollten es haben.«

Selbstbewusst hatte er es gesagt, mit einer aufrichtigen Wärme.

Schließlich nickte Silja knapp und senkte die Augen wieder auf das Robbenfell, das seidig glänzte, verlockend wie die Sünde.

Normalerweise genoss es Katya, am ersten Abend von Grischas Rückkehr lange am Tisch zu sitzen und zuzuhören, wenn er von seiner Fahrt in den Norden erzählte. Ihn nach Eisbergen auszufragen, die er unterwegs gesehen hatte, und nach Schnee.

Heute konnte sie es nicht abwarten, ihm die Überraschung zu zeigen, die oben in der Kammer wartete.

Im Lampenschein nahm sie das Buch von dem Tisch, der zwischen ihren Betten stand.

Eine Nacherzählung nordischer Sagen. Nicht leicht zu lesen, weil sie viele Wörter noch nicht kannte und Fru Guðmundsdóttir danach fragen musste, aber einfacher als das Neue Testament. Manchmal nahm sie das Buch mit hinunter, damit Silja Guðmundsdóttir ihr daraus vorlas, während Katya einen Riss in einem Betttuch flickte, für einen Gast Knöpfe wieder annähte oder Socken stopfte.

Grischas Brauen zogen sich verwirrt zusammen, dann hellten sich seine Augen auf.

»Du kannst lesen?«

Katya nickte. »Fru Guðmundsdóttir hat es mir beigebracht. Und Schreiben geht auch schon ganz gut. Ich übe immer abends ein oder zwei Stunden.«

Grischa betrachtete die beschriebenen Papierbogen, die Katya stolz aus der Schublade hervorholte, bedeckt von mal angestrengt wirkenden, dann wieder flüssigeren Buchstabenfolgen, dicht gedrängt und klein gehalten, wie um Platz zu sparen.

Begierig blätterte er durch die Buchseiten.

Sich nicht mehr nur die Umrisse auf einer Seekarte einprägen und sich ihre Namen dem Hörensagen nach merken, sondern sie lesen können. Die Zeichen auf den Navigationsinstrumenten entziffern und die Position des Schiffs mit denselben Zeichen festhalten. Nicht nur im Kopf rechnen, sondern auch auf Papier. Briefe an Katya schreiben und welche von ihr bekommen. Verträge abschließen, sollte es in einem Geschäft um mehr gehen, als dass man es nur mit einem Handschlag unter Männern besiegelte.

Und bestimmt konnte man auch mehr von dem erfahren, was auf der Welt geschah, wenn man lesen konnte.

Ein ganzes Feld neuer Möglichkeiten öffnete sich vor ihm; sein Mund war plötzlich ausgedörrt von einem Durst, den er zuvor nicht gekannt hatte.

Entschlossen hielt er das aufgeschlagene Buch Katya hin.

»Bring es mir auch bei«, stieß er hervor, seine Stimme heiser vor Aufregung.

Die trockenen Schläge, die draußen von der Hauswand widerhallten, zerrten an Siljas Nerven. Sie spähte aus dem Fenster.

In der prallen Sonne hackte Grischa das Feuerholz für den Winter. Er hielt inne, um sich mit dem Ärmel über das Gesicht zu wischen, die Handflächen an seiner Hose trocken zu reiben, bevor er mit wieder sicherem Griff die Axt schwang; es war ein ungewöhnlich freundlicher und warmer September geworden.

Auf eine merkwürdige Art störte sich Silja Guðmundsdóttir an Grischas Anwesenheit im Haus in diesem September. Von dem Augenblick an, an dem er lachend an Katyas Hand über die Schwelle getreten war, einen zotteligen Bart im Gesicht und ein Geruch aus jeder Pore wie aus einem Einmachglas, das jahrelang vergessen in der Speisekammer stand.

Größer und breitschultriger, als sie ihn vom Frühling in Erinnerung gehabt hatte, strotzend vor einer barbarischen Männlichkeit.

Auch jetzt noch, nachdem Katya ihm die Haare geschnitten hatte, er sich jeden Tag rasierte und regelmäßig badete und ordentlich anzog, kräuselte immer eine gewisse Spannung die Luft, wenn er einen Raum betrat, zu den Mahlzeiten am Tisch saß, wie ein Scheuern auf Siljas Haut.

Vielleicht, weil sie es nicht gewohnt war, einen Mann im Haus zu haben. Außer den Gästen, deren einzige Beständigkeit darin lag, dass sie kamen und wieder gingen.

Und Grischa war zweifellos zu einem Mann geworden. Als ob er über den Sommer in seinen baumstarken Körper, ihm bisher immer einen Schritt voraus, hineingewachsen wäre. Von einer selbstsicheren Reife, die allzu oft vergessen ließ, wie jung er noch war, gerade einmal sechzehn Jahre alt.

Unten am Wasser ging Ingunn Kristiansdotter vorbei, einen Korb über dem Arm. Vierzehn oder fünfzehn musste die jüngste Tochter von Kristian Hjalmarsson, dem Schmied, jetzt sein; in der Sonne glänzten ihre dicken Zöpfe wie Butterblumen. Als Grischa grüßend nickte, rief sie ihm etwas zu, das er mit einem Lachen und einer kurzen Erwiderung beantwortete. Beschwingt setzte Ingunn ihren Weg fort, ein Lächeln auf ihrem sommersprossigen Gesicht, während sie sich immer wieder verstohlen nach Grischa umdrehte.

Silja dachte kurz daran, Katya, die oben die Zimmer machte, hinauszuschicken und ihrem Bruder etwas zu trinken zu bringen. Dann gab sie sich einen Ruck und füllte selbst ein Glas mit Wasser.

Grischa bückte sich, um die nach allen Seiten davongeflogenen Holzscheite einzusammeln; dabei klebte das Hemd schweißfeucht an seinem Rücken, spannte die Hose über seinem strammen Gesäß.

Über die Schulter warf er ihr einen Blick zu und richtete sich auf. Seit dem Morgen hatte sich ein frischer Bartschatten um seinen Mund gelegt; sein schiefzahniges Lächeln jedoch, als Silja ihm das Glas hinhielt, war durch und durch jungenhaft.

»Danke, Fru Guðmundsdóttir.«

Auch seine Höflichkeit war Silja neuerdings unangenehm; wenn er ihr die Tür aufhielt oder vom Stuhl aufstand, sobald sie in die Küche kam. An Bord eines Walfängers hatte er das bestimmt genauso wenig gelernt wie dort, wo er herkam. Er hatte früher ja nicht einmal gewusst, wie man mit Messer und Gabel aß.

Die Arme verschränkt, beobachtete sie seinen zuckenden Adamsapfel, während er in langen Zügen trank. Sein Hemd stand offen und ließ eine kräftige Brust sehen, auf der sich dunkles Haar verwirbelte. Ein schwerer Geruch ging von Grischa aus, halb wie Meerestang und halb wie ein frisch aufgebrochener Acker.

Silja musste an das Robbenfell denken, das sie in ihrem Schrank verwahrte. Von einer verlockenden Wärme war es unter Siljas Händen und fast verboten weich; mit heißem Gesicht packte sie es jedes Mal hastig wieder weg.

Sie wandte den Kopf ab und starrte aus zusammengekniffenen Augen auf den Sund hinaus, auf dem die Sonne funkelte.

»Der Bettrahmen im blauen Zimmer wackelt. Kümmere dich darum, wenn du hier fertig bist.«

»Natürlich, Fru Guðmundsdóttir.«

Sie nahm das leere Glas aus seiner Hand entgegen, die groß und stark war wie er selbst, eine Männerhand.

Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund; eine Geste, die in diesem Augenblick provozierend auf sie wirkte.

Ihr Blick fiel in das Gärtchen gegenüber, wo Oddveig Halvorsdotter in ihren Beeten herumrupfte und dabei herüberschielte.

»Vergiss es nur nicht«, betonte Silja scharf.

Obwohl er noch nie etwas vergessen hatte, das sie ihm aufgetragen hatte, geschweige denn getrödelt. Sein Blick war fragend, wie verwirrt.

»Natürlich nicht, Fru Guðmundsdóttir.«

In festen Schritten ging sie zum Haus zurück, und der Wind, der vom Meer her auffrischte, befeuerte noch das Glühen auf ihren Wangen.

Sie wünschte sich, Grischa würde morgen schon wieder seinen Seesack packen und zu seiner nächsten Fahrt aufbrechen, sie wollte ihn nicht länger im Haus haben. Und am meisten ärgerte Silja sich darüber, dass sie so empfand, eine Frau von vierunddreißig Jahren, unter ihrem eigenen Dach.

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