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»Wie alt ist ein Eisberg?«, fragte Katya, während sie neben Johann Silberberg über die verschneiten Sumpfwiesen ging.

»Das kommt auf den Eisberg an. Manche sind sicher zehntausend Jahre alt, vielleicht sogar älter. Und kalt sind sie in ihrem Inneren, sehr kalt, zweistellig unter null.«

Er machte eine kleine Pause.

»Irgendwann in ferner Zukunft werden wir sicher anfangen, das Eis aus der Tiefe heraufzuholen und es genauer zu untersuchen. Ich bin davon überzeugt, dass wir aus dem Eis mehr darüber erfahren können, wie die Welt entstanden ist. Wie das Klima früher war, welche Pflanzen und Tiere es gab und wie die Menschen dazumal lebten. Lange bevor sie die Schrift erfanden, um von ihrer Welt Zeugnis abzulegen.«

»Wie die Jahresringe eines Baums.«

»Noch viel, viel weiter zurückreichend, Katya. Bis zum Anfang der Welt.«

Sie wanderten am Waldrand entlang, der wie von steif geschlagenem Eiklar und Zucker überzogen aussah. Der Schnee knirschte unter ihren Sohlen, in der Ferne flog ein Vogel mit heiserem Schrei auf.

»Und wie viel wiegt ein Eisberg?«, wollte Katya weiter wissen.

Johann Silberberg schmunzelte.

»Ich glaube, es hat noch nie jemand einen gewogen. So viel wie tausend der größten Walfische, vermutlich. Es ist auch schwierig, ihn zu vermessen, weil sieben Achtel von ihm unter Wasser sind. Wir schätzen, dass ein durchschnittlicher Eisberg so hoch ist wie ein Haus mit zehn Stockwerken oder noch höher.«

Katya blieb stehen und versuchte, sich diese gewaltigen Ausmaße vorzustellen, drei Häuser wie das von Silja Guðmundsdóttir aufeinandergestapelt und noch ein Stockwerk oben draufgestellt.

Über die verschneiten Bergrücken auf der anderen Seite des Sunds ergoss sich bereits der erste blaue Dämmerhauch des Nachmittags. Als könnte sie dahinter schon die Ausläufer der Arktis erkennen, so fühlte es sich an. Eine unermessliche Weite aus Eis und Schnee, genau wie ihr Gegenpol am anderen Ende der Welt.

So viel Eis und Schnee gab es oben im Norden und unten im Süden, dass es die ganze Welt überfluten würde, sollte es einmal schmelzen. Zumindest glaubten das Forscher wie Johann Silberberg. Kein Mensch war jemals dort gewesen, weder am Nordpol noch an dem Pol des Südens.

Oberhalb von Grönland und unterhalb von Australien endeten die Karten der Welt.

»Das ist eine Menge gefrorenes Wasser«, sagte sie schließlich, »ein solcher Eisberg. Wenn es in seinem Innern so kalt ist, dauert es doch sicher lange, bis er ganz geschmolzen ist.«

Johann Silberberg nickte.

»Theoretisch könnte man einen Eisberg in eine Wüste irgendwo auf der Welt schleppen. Selbst wenn auf dem Weg dorthin ein großer Teil von ihm geschmolzen ist, bleibt noch genug übrig, um mehrere Dörfer mit Wasser zu versorgen, viele Monate lang.«

Mit seinem Wissen über das Eis brachte Johann Silberberg auch die Welt zu Katya. Gemeinsam hatten sie sich über die Karten gebeugt, die Johann Silberberg vor ihr ausgebreitet hatte, die Küste Norwegens eingekerbt und zerklüftet wie eine abgenutzte Bürste, hinter den Inseln und Fjorden ein Land der Seen, von Gletschern erschaffen.

Und doch nur ein schmales Streifchen Land auf der ganzen großen Erdkugel.

Mit leuchtenden Augen wanderte Katya weiter, durch das kristalline Ufergras, das an ihrem Rocksaum knisterte, auf den gefrorenen Weiher zu.

Sie war schon ein paar Schritte auf dem Eis gegangen, als sie bemerkte, dass Johann Silberberg hinter ihr zurückgeblieben war. Mit einer halben Drehung setzte sie einen Fuß hinter den anderen.

»Kommen Sie!«

»Auch wenn dieser Weiher nicht sonderlich tief aussieht, ziehe ich es vor, hier stehen zu bleiben.«

Mit beiden behandschuhten Händen strich er über seine Jacke.

»Fru Guðmundsdóttirs gute Küche, weißt du.«

Das Eis war noch frisch, Katya konnte es schwingen fühlen, aber schon fest genug, dass es tragen würde, auch das spürte sie.

»Kommen Sie, Herr Silberberg. Es hält uns beide aus, das verspreche ich Ihnen.«

Johann Silberberg kniff ein Auge zusammen.

»Du weißt, dass mit einem solch verlockenden Versprechen einer Frau das Unheil über die Menschheit gekommen ist, ja?«

Tatsächlich wusste Katya nicht, was er meinte. Sie legte trotzdem den Kopf in den Nacken und lachte, so leicht und frei war ihr zumute.

Mit der Tapsigkeit eines Bibers wagte sich Johann Silberberg schließlich auf den Weiher. Nach ein paar Schritten, die sie nebeneinanderher glitten, ging er vorsichtig in die Hocke und tastete mit seinem Handschuh über das Eis, das von der glänzenden Klarheit eines Spiegels war.

»Friert er jeden Winter zu?«

»Das weiß ich nicht. Ich stehe das erste Mal darauf.«

Verblüffung lockerte Johann Silberbergs Züge, bevor sie sich konzentriert anspannten.

»Woher wusstest du dann, dass es stark genug für uns beide ist?«

Unter seinem eindringlichen Blick hob sie die Schultern.

»Ich wusste es einfach.«

Seine Brauen zuckten, während er zu begreifen versuchte.

»Wie, Katya? Wie kannst du so etwas wissen?«

Das Eis, nach dem Katya sich gesehnt hatte, war immer da gewesen, jeden Winter, den sie hier in Tromsø verbracht hatte. Sie hatte es nur aus den Augen verloren, bis Johann Silberberg ihren Blick wieder darauf lenkte, ihn schärfte und erweiterte.

»Ich fühle es«, vertraute sie ihm schließlich an.

Sein Mund wiederholte stumm ihre Worte, dann klopften seine Handschuhfinger auf das Eis.

»Wie fühlst du es? Kannst du mir das beschreiben?«

»Es schwingt.«

Katya ging vor ihm in die Hocke, zog ihren Handschuh aus und legte die Fingerkuppen auf den gefrorenen Weiher, während sie angestrengt nach einem Vergleich suchte, nach einem Bild.

»Wie ein gesund schlagendes Herz. Geschmeidig und gleichmäßig und stark.«

Johann Silberberg schwieg, offenbar tief in Gedanken. Sein Blick wanderte zwischen Katya und dem Eis unter ihren Händen hin und her.

Mit dem Verstand und wissenschaftlichen Methoden hatte Johann Silberberg erforscht, was Katya immer erspürt hatte. Dass undurchsichtiges weißes Eis viel Luft enthielt, weshalb es wenig wog, aber auch zerbrechlich war. Klares Eis jedoch, langsam gewachsen, konnte nicht mal mit schweren Knüppeln zerschlagen werden. Doch obwohl es das Gewicht vieler Männer trug, von Pferden und schwer beladenen Schlitten, ließ es sich mit nur einer Glasscherbe tief einritzen und mit einem gewöhnlichen Messer zerschneiden.

Seine Struktur war dafür verantwortlich; welche Größe und Form die Kristalle in seinem Inneren hatten, wie sie sich zueinander anordneten und veränderten.

Eis war nie ein gleichbleibender Zustand, sondern immer im Fluss.

»Haben Sie je das Eis singen hören?«, fragte Katya nach einer Weile leise.

Er wusste sofort, was sie meinte.

»Wenn sich die Temperatur verändert, gerät das Eis eines Sees in Bewegung. Manchmal klingt es wie Gewehrschüsse oder wie Kanonendonner. Bei einer bestimmten Temperatur gibt das Eis dann diese langgezogenen Töne von sich. Je weniger Schnee liegt, der Geräusche dämpft, umso weiter kann man es hören.«

»Der schönste Klang der Welt«, flüsterte Katya.

»Ja.«

Ein Lächeln schien zwischen ihnen auf, in dem sich ihre Blicke festhielten, seelenverwandt.

»Zu schade«, raunte Johann Silberberg, »dass du mich nicht auf meiner nächsten Reise begleiten kannst. Ich würde dir gern Formen von Eis zeigen, die du noch nicht kennst. Mir von dir erzählen lassen, wie es sich für dich anfühlt.«

Ein warmes Kribbeln im Bauch und mit noch wärmeren Wangen lächelte Katya. Er hätte ihr nichts Schöneres sagen können.

»Es scheint so einfach«, sagte Johann Silberberg nach einer Weile. »Das Eis. Simpel geradezu. Wasser und Luft, mehr ist es nicht. Aber Wasser und Luft machen Leben auf dieser Erde erst möglich, sie waren der Ursprung von allem.«

Er schmunzelte, seine struppigen Brauen zuckten.

»Frag irgendwen auf dieser Welt, welches das mächtigste Element ist. Gold, werden manche sagen, oder Silber. Andere werden das Feuer nennen oder das Wasser oder die Erde. Nicht zu Unrecht. Nur das Eis wird keiner erwähnen. Dabei ist es doch die Kälte, in der die Felle der Tiere dicker, weicher, schöner wachsen und sich anders färben. Der Winter macht die Wölfe wilder, und im Frost wird der Ackerboden locker und fruchtbar. Kupfer, Glas und Steingut zerspringen in der Kälte, und Fisch bleibt ein halbes Jahr darin frisch, auch ohne ihn einzusalzen. Nägel springen aus den Wänden, Steine bersten auf dem Feld, und Gebirge begeben sich unter dem Eis auf Wanderschaft, jedes Jahr um ein paar Haaresbreiten.«

Johann Silberberg verstummte, wie um Katya Zeit zu lassen, darüber nachzudenken oder selbst diesen Gedanken weiterzuverfolgen.

»Die Inuit«, fuhr er dann fort, ernst und fast feierlich, »erzählen sich, dass am Anfang der Zeiten das Eis noch brannte, den Menschen Licht spendete und Wärme. Wenn du mich fragst, gibt es kein mächtigeres Element als die Kälte. Das Eis ist das, was unsere Welt im Gleichgewicht hält.«

In den ersten frischen Schneeflocken, die vom Himmel herabschwebten und sie umtanzten, nahm Katya Johann Silberbergs Worte in sich auf.

Vielleicht war es das, was sie immer schon gespürt hatte. Die Magie, die im Eis steckte.

Eine ganz besondere Macht.

Den Winter in Spitzbergen zu verbringen, das hatte für Grischa nach leicht verdientem Geld geklungen.

Verglichen mit dem Walfang bedeutete es auch leichte Arbeit. Von der Hütte im Fjord, tief in die Küste hineingeschnitten und von Berghängen beschützt, fuhren sie mit Hundeschlitten in das Inselinnere, in unzugänglicherem Gelände auf Skiern, um die Fallen zu leeren; Holzkisten, deren simpler Mechanismus die Polarfüchse mit einem Stein erschlug.

An Ort und Stelle weideten sie die Tiere aus und nahmen nur die gesäuberten Felle mit zurück, um mit dem Geruch von Blut, Innereien und rohem Fleisch keinen Eisbären zur Hütte zu locken. Die Männer selbst lebten von mitgebrachtem Zwieback und Stockfisch, von frischem Fang und den kurzbeinigen und stämmigen Rentieren der Insel.

Es war die Polarnacht, die Grischa unterschätzt hatte. Im Dunkeln verließen sie die Hütte, holten im Dunkeln ihre Beute ein und kehrten immer noch im Dunkeln in den Fjord zurück.

Ein Zustand fortwährender Blindheit, kaum erhellt vom blassen Licht der Sterne, Lampenlicht und dem Flackern des Feuers. Nicht mehr als zittrige Fünkchen in der weiten Finsternis, leer und still.

So etwas wie Zeit gab es nicht, und der Mond, der sich ab und zu sehen ließ, leuchtete zu schwach, um in der endlosen Schwärze eine Prägung zu hinterlassen.

Nach Freiheit und Abenteuer hatte es sich angehört, stattdessen fühlte sich Grischa hier eingekerkert. Scharf bewacht von den Eisbären, die draußen herumstreunten, bleiche Geister in der Landschaft aus Schnee und Fels, gierig nach eigener Beute, gleichgültig, ob Tier oder Mensch.

Und es gab kein Entkommen. Vor März würde das Packeis nicht aufbrechen, vielleicht auch erst im April. Sogar das Licht würde früher zurückkehren als ein Schiff, auf dem die Männer die Insel verlassen konnten.

Einmal hatten sie einen Eisbären gesehen, ganz aus der Nähe, draußen bei den Fuchsfallen, in einer Senke zwischen den Bergen.

Vielmehr seine Bewegungen hatten sie gesehen, weiß auf weiß in finsterer Nacht, ein merkwürdig umgekehrtes Schattenspiel. Wegen der Überreste der Füchse war er gekommen, vielleicht hatte er auch auf die Männer gewartet. Er war so nahe, dass Grischa seinen Atem hören konnte, sein Zögern spürte.

Eine Kreatur wie aus einer jenseitigen Welt, die nicht nur auf sein Fleisch und Blut aus war, sondern auch auf seine Seele.

In nur einem Wimpernschlag schien die Polarnacht noch eisiger, wie erstarrt, die tiefen Atemzüge der Männer halb Furcht, halb grimmige Entschlossenheit, während sie in langsamen Bewegungen zu ihren Waffen griffen; Sigurds Gewehr gab ein Klacken von sich.

Auch Grischa fasste das Messer fester, mit dem er den Pelz der Füchse abgeschält hatte, bereit, den Bären zu töten. Und war dann doch froh, als der Eisbär sich schnaubend abwandte und mit dem weißen Element verschmolz.

Es hatte Grischa nie etwas ausgemacht, eine Ziege oder ein Schaf zu schlachten. Genauso wenig störte er sich daran, einen frisch erlegten Wal zu zerteilen oder die Pelze der toten Füchse abzuziehen; eine wirtschaftliche Notwendigkeit.

Bei diesem Bären hätte es ihn gedauert. Dies war sein Reich, in das die Männer eingedrungen waren, und er hätte jedes Recht gehabt, sie zu töten. Nicht feige wirkte er, als er sich in den Schnee zurückzog, sondern fast weise. Voller Nachsicht mit den Zweibeinern, die sich auf solch lächerliche Weise in einer kalten und erbarmungslosen Umwelt abmühten, für die sie nicht geschaffen waren.

Grischa fühlte sich an die Bärin erinnert, am Ufer des großen Sees, eine Ewigkeit schien es her zu sein, und daran, was Katya ihn an jenem Tag gelehrt hatte. Dass es zu unterscheiden galt, wann man kämpfte und wann man den Weg des Klügeren ging.

Grischa fragte sich, ob man alles im Leben letztlich auf diesen Zwiespalt zurückführen konnte. Und woher man wusste, welches die richtige Entscheidung sein würde.

Am schlimmsten war es, wenn ein Schneesturm tobte und ihre ganze Welt auf die Enge der Hütte zusammenschrumpfte. Wie lebendig begraben fühlte Grischa sich dann, die Unruhe, die der Sturm in ihm heraufbeschwor, das Kribbeln zwischen Nacken und Schädel und der Druck in seinem Kopf ununterscheidbar von Panik und Zorn.

Von dem Hunger nach Licht und Luft und danach, frei zu sein.

Jetzt verstand er, warum Sigurd nur für kurze Zeit auf seinem Stuhl in der Ecke eindöste, immer angespannt, immer auf der Lauer, und warum Ejnar, der seinen zweiten Winter hier hätte verbringen sollen, im letzten Augenblick abgesprungen war. Warum Rune und Kjell ihn nur stumpfsinnig ansahen, wenn er sie nach ihrem Leben jenseits des Spitzbergener Winters fragte.

Die scheinbar endlose Polarnacht eines solchen Winters konnte einen Mann in den Wahnsinn treiben und in einen Geist verwandeln. Der einzige Ausweg war, sich in sich selbst zurückzuziehen und an dem festzuklammern, was man dort fand.

Bei Grischa war es der unbedingte Wille, diesen Winter zu überstehen, heil an Leib und Seele und mit klarem Verstand. Wenn draußen der Sturm Schnee vor der Hütte aufhäufte, buchstabierte Grischa sich durch ein Handbuch der Navigation, das er sich zugelegt hatte, und übte sich am Alphabet, bis ihm das Papier ausging.

Während der Wind draußen fauchte und die Hunde heulten, gespenstisch hohl, als müssten sie sich verzweifelt ihrer Wolfsnatur versichern, entwarf Grischa für sich ein Leben, in dem er nicht mehr nur für andere arbeitete.

Sein eigener Herr wollte er sein. Allein dem Wind und dem Wetter unterworfen, der einzigen Macht, bei der er akzeptieren konnte, dass sie größer war als sein Wille, sein Ehrgeiz.

Ihre Veränderlichkeit war das einzige Versprechen, dem er traute.

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