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Der glücklichste Tag im Leben einer Frau sei ihr Hochzeitstag, das hatte Henny immer wieder gehört. Unter dem klarblauen Himmel dieses Augusttags, in satter Sonne und frischem Wind, wusste sie, dass dem auch wirklich so war.

Dabei hätte sie anfangs nicht geglaubt, dass es jemals darauf hinauslaufen würde. Nachdem Mathilde Pohl früher nach Hause gekommen war, weil Frau Hinrichs plötzlich über Kopfschmerzen geklagt hatte, und Henny mit Christian Petersen überraschte. Auf dem Pohl’schen Kanapee, das noch dazu. Nach der Schelte ihrer Mutter, den Vorhaltungen ihres Vaters; nach all den Tränen, die Henny geweint hatte, weil sie jetzt nicht mehr zu Kathi oder Betty durfte, geschweige denn zu Frieda, und weil sie Christian sicher niemals wiedersehen würde.

Dann war das Wunder geschehen. Christian hatte bei Heinrich Pohl um ihre Hand angehalten, und nach kurzer Bedenkzeit hatten die Pohls ihre Erlaubnis gegeben. Wenn auch zähneknirschend; ein Gemischtwarenhändler war nicht gerade die beste denkbare Partie, aber immerhin besser als nichts. Die Petersens an sich galten ja als ehrbare Leute, und Hennys Betteln und Schmeicheln und Toben, begleitet von noch mehr Tränen, tat dann noch ein Übriges.

Mit Feuereifer kümmerte sich Henny um ihre Aussteuer und das Brautkleid. Aber das Allerschönste in diesen zwei Monaten waren die heimlichen Küsse mit Christian im Korridor, die nun nicht mehr ganz so heimlich zu sein brauchten, sie waren ja schließlich verlobt.

Dass Frieda Brandt kein Wort mehr mit ihr redete, weil Henny, ausgerechnet Henny, sich Christian Petersen unter den Nagel gerissen hatte, konnte sie verschmerzen. Und auch, dass das Mittagessen nach der Trauung in Sankt Katharinen eher steif geriet. Im oberen Saal des Baumhauses, nicht nur ein renommiertes Gasthaus mit Konzertsaal, sondern auch Zollstelle und Schifferbörse, aus den Fenstern und von der Terrasse mit malerischem Blick auf die Schiffe im Hafen. Wie es sich eben für die Tochter eines Schiffsmaklers gehörte, außerdem schätzte Heinrich Pohl das Angebot exklusiver Biersorten, die es sonst nirgends in der Stadt gab.

Henny war ehrlich erleichtert, als die Lübecker Verwandtschaft nach dem Kaffee aufbrach, es würde ja morgen wieder ein langer Tag werden in der unbequemen Postkutsche; Onkel Carl mit seiner Familie war gar nicht erst erschienen. Auch die schmallippige Verabschiedung ihrer Eltern am Brook störte Henny nicht. Bei Christian eingehakt, konnte sie es kaum abwarten, mit den Petersens und den Voronins weiterzuziehen, mit Kathi Bellheim und Betty Freese, deren Eltern sie noch im Baumhaus glaubten.

Gleich hinter dem Brook, an der Kibbeltwiete, setzten sie ihre Feier fort. In einem Wirtshaus, in dem sich ein paar zweifelhaft aussehende Frauenzimmer zwischen Hafenarbeiter und Schauerleute gemischt hatten. Sobald sie als Hochzeitsgesellschaft erkannt waren, gratulierten die Schlosser, Korbflechter und Schreiner Arno Petersen und Christian mit Handschlag. Tische wurden zur Seite geschoben und die Fiedel ausgepackt, an so einem Tag musste man doch auf die Pauke hauen.

Henny vermisste ihre Eltern keinen Augenblick, sie hätten ihr nur den ganzen Spaß verdorben. Und Henny hatte Spaß. Jetzt, als verheiratete Frau, durfte sie endlich tun, wozu sie Lust hatte, Bier trinken und sogar Schnaps, laut singen und wild tanzen, und Henny genoss es in vollen Zügen.

Katya drückte sich in eine Ecke des von Stimmen und Musik und Feierfreude bebenden Schankraums, um sich vor den angetrunkenen Männern zu verstecken, die mit ihr tanzen wollten. Womöglich würde Christian sie noch auffordern, wie man es bestimmt tat auf seiner Hochzeit.

Während Henny im Arm eines vierschrötigen Kerls vorübergaloppierte, tanzte Christian mit Hennys Freundin Kathi, seine Augen im sonnenbraunen Gesicht blau blitzend, ganz der strahlende Bräutigam.

Ein Fremder war er geworden, mit Henny. Lauter, polternder als der Christian, den sie gekannt hatte, von einer fast prahlerischen Männlichkeit, ein Hahn auf der Balz.

Der Frühling, in dem sie geglaubt hatte, er würde einmal der Ihre werden, schien im Rückblick wie aus einem anderen Leben. Vielleicht eine List ihrer Seele, um ihren Kummer zu lindern.

Silja Guðmundsdóttir hatte tröstende Worte für Katya gefunden, die ihr Heimweh neu entfachten. Nach Tromsø zurückzugehen, alles hier zurückzulassen und Christian nie wiederzusehen, ihn vielleicht eines Tages sogar zu vergessen erschien ihr wie eine Rettung. Doch damit würde auch ihr Traum von dem Handel mit Eis zerplatzen.

Der Gedanke an den bevorstehenden Winter in Norwegen hatte ihr Halt gegeben in den letzten Wochen. Die Kraft von Eisbergen und Gletschern, Fjorden und zugefrorenen Seen ermöglichten es ihr, genauso kühl und stolz mit Christian umzugehen, wenn sie einander im Treppenhaus begegneten. An den Abenden, an denen sie sich mit Thilo und Grischa an einem Tisch einfanden, um weitere Pläne zu schmieden und Entscheidungen für die Firma zu treffen.

Erst an diesem Tag, nachdem Christian Henny vor dem Altar versprochen hatte, ihr zu gehören, für heute und immer, schien diese Rüstung aus Eis zu schmelzen.

Sie hätte doch besser nach Hause gehen sollen.

Katya fing einen Blick von Thilo auf, der sich neben ihr im Hintergrund hielt. Er hob fragend die Augenbrauen, und sie schüttelte den Kopf.

Ein stummes Zwiegespräch entspann sich zwischen ihnen, nur in Blicken, kleinen Gesten.

Wie geht es dir?

Nicht gut.

Kann ich etwas für dich tun?

Nein. Aber es ist lieb, dass du fragst.

Ihre Mienen lockerten sich, als sie sich bewusst wurden, wie sie sich ohne Worte verstanden, und ein kleines Lächeln tauchte auf ihren Gesichtern auf, ein wenig verlegen.

»Ich begreife meinen Bruder nicht«, sagte Thilo nach einer Weile leise, gerade noch über dem Lärm hörbar.

Ihre am Morgen noch sorgfältig hochgesteckten Korkenzieherlocken in Auflösung begriffen, stürzte Henny mit glühenden Wangen einen Schnaps hinunter, bevor die Fiedel neu ansetzte und sie sich von einem zwergenhaften Männchen zum Tanzen auffordern ließ. Lachend und mit strahlenden Augen klopfte Arno Petersen auf dem Tisch den Takt dazu, ein Bier vor sich.

»Sie scheint nett zu sein«, meinte Katya, um überhaupt etwas zu sagen.

Henny war ihr herzlich begegnet, wann immer Katya sie bei den Petersens angetroffen hatte, wo sie ihren Einzug vorbereitete.

Christians Freunde sind auch meine Freunde, hatte Henny bei ihrer ersten Begegnung zwitschernd von sich gegeben und Katya mit ihrer Umarmung fast erdrückt.

Es war nicht Hennys Schuld, das versuchte Katya sich immer wieder zu sagen; mit ihrem treuherzigen Blick, ihrer anhänglichen Art erinnerte sie Katya manchmal an einen liebebedürftigen Hundewelpen.

Trotzdem konnte Katya nicht viel mit ihr anfangen. An Henny und ihren Freundinnen war etwas Übersprudelndes, Übermütiges, Leichtfertiges, das Katya von Grund auf fremd war.

»Gänse sind auch nett«, erwiderte Thilo trocken.

Katya boxte ihn gegen den Arm, und um seinen Mund zuckte es.

Jauchzend und mit fliegenden Locken tanzte Betty Freese an ihnen vorüber, in ihren weißen und rosafarbenen Rüschen eine Ackerwinde im Sommerrausch.

»Es graut mir schon davor«, knurrte Thilo, »wenn sie dann alle drei schnatternd bei uns in der Stube sitzen.«

»Deshalb wohnst du jetzt ja bei uns.«

Um eine der leer stehenden Wohnungen im Haus für das junge Paar einzurichten, fehlte das Geld. Arno Petersen überließ ihnen das altgediente Ehebett, das in das Zimmer der Brüder geschafft wurde, und begnügte sich mit dem schmaleren Bett von Christian. Thilos Bett hatten sie gestern Abend noch die engen Treppen hinaufgewuchtet; jetzt teilte er sich einen Raum mit Grischa.

Einen Augenblick lang hatte er nicht mehr daran gedacht, vielleicht wollte er auch nicht daran erinnert werden.

Zappelnd vor Glück warf Henny die Arme um Christian; lachend umschlang er ihre Taille und hob sie vom Boden hoch.

Thilo wollte dieser Heirat nicht recht trauen; möglich, dass letztlich nur der Neid aus ihm sprach, weil er künftig Grischa so nahe bei sich haben würde und doch endlos weit entfernt wusste.

»Das Herz will, was es will«, murmelte Katya.

Aus Kathi Bellheims sorgsam hochgesteckten honigdunklen Locken hatten sich Strähnen gelöst; ein paar davon hafteten auf ihren verschwitzten Schläfen. Sichtlich beschwipst stützte sie sich rücklings an einem der Tische ab und schob Grischa ihre Hüften unter dem Brautjungfernkleid entgegen, während er sich an sie lehnte und ihr etwas ins Ohr flüsterte.

Als wollte er ihr gleich hier, vor aller Augen, die Röcke hochschieben. Thilo wandte den Blick ab.

»Ja«, gab er dürr von sich.

Ein vierschrötiger Mann stampfte auf der Stelle und schwenkte dabei ein Weibsbild mit geflickten Röcken um sich herum; der verrutschte Ausschnitt ihrer Bluse gewährte tiefe Einblicke. An einen Storch erinnerte der Bursche, der ein ebenso spilleriges Mädchen vor sich herschob und dabei möglichst unauffällig ihre Kehrseite zu betatschen versuchte. Wer nicht tanzte, saß auf den Bänken und Stühlen, sang lauthals Gassenhauer mit und trank vor allem kräftig.

Thilo warf einen Seitenblick auf Katya.

»Willst du tanzen?«

»Ich kann nicht tanzen.«

Thilo hoffte, dass er den Glanz in ihren Augen richtig deutete, und fasste nach ihrer Hand.

»Ich auch nicht.«

Zusammen hoppelten und stolperten sie zwischen den anderen Gästen hindurch. Thilo tat es gut, dabei wieder den lebendigen Funken in ihren Augen aufglimmen zu sehen, den er in den letzten Wochen vermisst hatte.

Es passte zu ihr, dass sie sich nicht die Haare eingedreht und zu steifen Lockengebinden gebündelt hatte wie andere Mädchen, sondern an ihren aufgesteckten Zöpfen festhielt, und statt für Rüschen und Volants hatte sie sich für eine aufwendig bestickte Miederweste über einer feinen Bluse entschieden. Ihre norwegische Festtagstracht; auf zauberhafte Weise ungewöhnlich sah sie darin aus.

»Du bist das schönste Mädchen hier.«

Nicht das originellste Kompliment und vermutlich nicht das, wonach Katya der Sinn stand. Aber er wollte ihr unbedingt etwas Nettes sagen, und das Aufleuchten in ihren Augen gab ihm recht.

»Du bist auch ein sehr schöner Mann.«

Thilo setzte zu einer ironischen Erwiderung an, während Katya sich an seiner Hand um ihre eigene Achse drehte.

»Findet auch Grischa«, warf sie ihm über die Schulter zu, und Thilos Herz setzte einen Schlag aus.

»Der Brautstrauß«, kiekste Betty Freese. »Der Brautstrauß!«

Henny griff sich das Sträußchen, das die längste Zeit unbeachtet zwischen den Gläsern gelegen hatte. Hellblau und weiß wie ihr Kleid, warf sie es mit einem lauten Aufschrei in hohem Bogen hinter sich. Unerreichbar sowohl für Betty als auch für Kathi, obwohl beide sich im Sprung danach reckten, flog der Brautstrauß auf Katya zu.

Thilo wusste nicht, ob Katya diesen Brauch aus Russland oder Norwegen kannte, aber er wollte ihr diese Demütigung ersparen, die Blumen von Christians Braut zu fangen. Er streckte den Arm aus und griff sich den Strauß aus der Luft.

Das Aufkreischen der Mädchen und Frauen, das Johlen und dröhnende Gelächter der Männer perlte an ihm ab, ihre zotigen Scherze und spöttischen Bemerkungen, die feixenden Schulterklopfer.

Er nahm nur noch Grischa wahr.

Kathi Bellheim zerrte an Grischas Arm, halb schmollend, halb lockend, doch Grischa beachtete sie nicht. Jackett und Binder längst abgelegt und die obersten Knöpfe seines Hemds offen, stand er da und sah Thilo unverwandt an, die Augen dunkel und unergründlich. Ein Lächeln spielte um seinen bärtigen Mund, nicht spöttisch und noch nicht einmal amüsiert.

Rätselhaft für Thilo, und trotzdem konnte er nicht anders, als dieses Lächeln zu erwidern.

Henny auf den Armen, ließ sich Christian auf das Brautbett fallen, und ihr Kichern und sein atemloses Lachen gingen ineinander über.

Die neue Matratze, das frisch gestärkte Bettzeug waren stramm unter Hennys Rücken, umso schneller kreisten Bier und Schnaps und der Nachhall der Musik durch ihre Adern. Verschwitzt war sie, und die Füße taten ihr weh; irgendwann hatte sie die Schuhe ausgezogen und auf Strümpfen weitergetanzt, zuletzt sogar auf den Tischen.

»Das war der schönste Tag in meinem Leben«, seufzte Henny.

»Dabei ist er doch noch gar nicht vorbei«, murmelte Christian an ihrem Hals.

Ein erneutes Kichern sprudelte bei Henny auf, bis Christian ihr den Mund mit einem langen Kuss verschloss.

Das hier war das Beste daran, verheiratet zu sein. Christian so lange und so oft zu küssen, wie sie wollte. Seine Hände, die ungeduldig an Häkchen und Schleifen und gefältelten Stoffen zerrten, dass die Nähte knirschten, bis er über ihre bloße Haut streichen und mit seinem Mund darübergleiten konnte. Ihn zu fühlen, seine sehnigen Arme, die harte Brust, den festen Bauch.

Ihn zu umschlingen, ganz und gar.

Leise Zweifel umsirrten Christian wie lästige Mücken, sobald Henny nackt unter ihm lag.

Einige Herzschläge lang stellte er sich vor, wie es mit Katya gewesen wäre. Furcht flackerte in ihm auf, er könnte ausgerechnet in seiner Hochzeitsnacht nicht seinen Mann stehen.

Henny machte es ihm leicht. Ein vollreifer, saftiger Pfirsich war sie, in dem er seine Lippen vergrub und sich dann ganz hineinsinken ließ.

Das hier war keine schwärmerische Fantasie. Das war das pralle Leben, fühlbar, greifbar, glückselig machend.

Mit offenem Mund starrte Henny ins Dunkel, nur wenig vom Mond erhellt.

Das hatte ihre Mutter wohl kaum gemeint, als sie sagte, sie solle in ihrer Hochzeitsnacht im Nachthemd bereitliegen, ihr Mann würde schon wissen, was zu tun sei.

Diese gurrenden und maunzenden Laute, die Henny erst nicht einordnen konnte, bis sie begriff, dass sie aus ihr selbst kamen, weil es so herrlich war, wie Christian sie überall küsste und streichelte und wie seine Haut über ihre rieb. Das merkwürdige Gefühl, als es pikste und ziepte, dort unten, und dann wunderbare Wärme durch sie hindurchschwappte, bis zu ihrem Brustbein hinauf und in ihre Zehen hinein.

Ein Lächeln glitt über Hennys Gesicht, als sie begriff. Natürlich erzählten Mütter nichts davon, wie schön das war mit einem Mann. Weil ihre anständigen Töchter das sonst gleich ausprobieren und dann den lieben langen Tag nichts anderes mehr tun wollten.

Henny rollte sich auf die Seite und tupfte die gespitzten Lippen auf Christians Schulter, seine Brust; pickende Küsse, zwischen denen sie seinen Namen wisperte; bestimmt konnten sie das gleich noch einmal tun.

Christian rührte sich nicht. Schwer und heiß lag er neben ihr, sein Atem so tief und gleichmäßig, dass das Geräusch auch Henny einzuschläfern begann.

Mit einem breiten Lächeln schlang sie den Arm um seinen Rücken und drückte sich eng an ihn. Vielleicht konnte man das auch morgens schon machen, gleich nach dem Aufwachen, oder nach dem Mittagessen, wenn niemand in der Wohnung war. Jede Nacht, wenn es nach ihr ging.

»Mein Mann«, wisperte sie gegen Christians Haut, ihre Lider schwer.

Für immer und immer.

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