25



Überlaut tickte die Uhr in der guten Stube der Pohls und trieb Hennys nervösen Herzschlag noch weiter an.

Hennys Zunge drückte sich von innen gegen die Wange, während sie über den Rand der Teetasse zu Christian schielte.

Ratlos wirkte er, nachdem sie seine freundlichen Bemerkungen zur Einrichtung der Pohls, dem Wetter und Hennys Kleid jeweils nur mit einem Nicken beantwortet hatte, genauso wie seine Frage nach dem Befinden von Frau Pohl und Herrn Pohl.

Sie wusste nicht mehr, was sie sich dabei gedacht hatte, Christian zu sich nach Hause einzuladen, während ihr Vater im Kontor war, ihre Mutter zum Tee bei Frau Hinrichs und die Minna längst damit fertig, die Böden zu schrubben, und zu ihren fünf Kindern nach Hause gegangen.

Dabei war es ihr wie eine fabelhafte Idee erschienen, Sonntag im Ruderboot auf der Alster, ihre Hände in Christians. Ihn für ein paar Stunden ganz für sich zu haben, ohne Dutzende von Augen, die sie beobachteten, Dutzende von Ohren, die sie belauschen konnten.

Henny hatte geglaubt, freier zu sein, allein mit Christian, in ihren vertrauten vier Wänden. Von sich hatte sie erzählen wollen, von all den Dingen über das Leben, die ihr sooft im Kopf herumgingen und für die ihre Mutter nie ein Ohr hatte.

Jetzt saß sie nur stumm neben ihm und bekam den Kloß in ihrem Hals auch mit großen Schlucken Tee nicht hinuntergespült. Den Kuchen auf ihrem Teller hatte sie gar nicht erst angerührt.

Sie hätte sich auch nicht zu ihm auf das Kanapee setzen sollen, sondern auf einen der Stühle; jetzt noch den Platz zu wechseln wäre ihr jedoch albern vorgekommen, zumindest unhöflich.

Nicht einmal in die Augen sehen konnte sie ihm.

Vom Brook drang Hufgeklapper herauf und Räderknirschen, Stimmen und Schritte, Henny hatte das Fenster offen gelassen. Wie um der Welt dort draußen zu beweisen, dass sie nichts zu verbergen hatte.

Schallendes Gelächter flog von unten herein, und Henny schoss das Blut ins Gesicht.

Das Ticken der Uhr schärfte sich wie ein ungehaltenes Schnalzen.

Henny stellte ihre Tasse ab und holte tief Luft.

»Denk nicht schlecht über mich, Christian.«

Sie spürte seine Augen auf sich, erstaunt.

»Warum sollte ich schlecht über dich denken?«

»Weil ich dich zu mir eingeladen habe, obwohl meine Eltern nicht da sind.«

Christians Blick wanderte durch die gediegene Stube mit ihren Möbeln aus Eiche und Nussbaum, den gehäkelten Spitzendeckchen, bis ihm dämmerte, dass er nicht mehr darauf warten brauchte, dass Frau Pohl hereintrat und ihn begrüßte.

»Ich wollte mit dir allein sein«, gestand Henny leise.

Fragend sah er sie an.

Das Gesicht unter den buttergelben Korkenzieherlocken hochrot, knetete sie die Finger im Schoß auf ihrem weißen Sommerkleid.

»Weil ich dich gernhabe, Christian.«

»Du bist auch eine nette Deern, Henny Pohl«, erwiderte er behutsam.

Vorsichtig hob Henny den Kopf, und unter Christians Lächeln zog ein Strahlen über ihr Gesicht.

Henny nahm ihren ganzen Mut zusammen und drückte Christian einen Kuss auf die Wange.

»Henny.« Christian fasste sie bei der Schulter, um sie sanft von sich wegzuschieben, doch Henny schlang die Arme um ihn; er roch so gut.

»So, so gern hab ich dich«, murmelte sie zwischen den Küssen, mit denen sie sein Gesicht bedeckte.

»Henny«, wiederholte Christian abwehrend und mit Nachdruck.

Weiter kam er nicht, Hennys Lippen verschlossen ihm den Mund mit einem nassen, saugenden Kuss, der nach Tee und Klüntjes schmeckte, bitter und süß zugleich.

Aber es war ein Mädchenmund, und Christian hatte schon so lange kein Mädchen mehr geküsst, seit dem Winter nicht mehr.

Sein eigener Mund preschte vor, er konnte sich nicht von ihr losreißen. Henny lernte schnell, wie Küssen ging, ihre Zunge klein und flink.

Zu gut fühlten sich ihre Küsse an. Ihre üppigen Brüste, die sich gegen ihn pressten, ihr Knie auf seinem Oberschenkel. Die Rundung ihres Hinterteils, das irgendwie unter seine Hand geraten war, herrlich weich und federnd wie Hefeteig.

Warum auch nicht, er mochte sie ja gern, niemand sah sie beide hier, und niemand würde es je erfahren.

Christian zu küssen war besser als Schokolade und Marzipan, viel besser; das war es, wonach Henny sich all die Zeit gesehnt hatte. Ihn überall an sich zu spüren, harte Ecken und Kanten, die sich so wunderbar gegen ihre Kurven drückten, seine Muskeln und wie seine Finger sich durch den Stoff des Kleids hindurch in ihre Kehrseite gruben.

Überall kribbelte es bei Henny, in ihrer Kehle, hinter dem Brustbein und zwischen den Rippen, tief unten im Bauch. Umso fester klammerte sie sich an Christian, weil es so, so schön war und sie nicht wollte, dass das aufhörte.

»Henny?«

Widerstrebend löste Henny ihre Lippen von Christians und blinzelte traumverloren zum Türrahmen hin, in dem ihre Mutter stand.

Bleischwer lastete die Stille auf der Küche der Petersens, wie gelähmt. Das Gesicht Arno Petersens war unter der geröteten Haut aschfahl; der Besuch bei den Pohls hatte ihm zugesetzt.

Thilo hatte stellvertretend für seinen Vater gehen wollen, nachdem Hennys Vater Arno Petersen per Brief zu sich zitiert hatte. So wie er früher schon seinem Bruder aus dem Schlamassel geholfen hatte, um seinem Vater Kummer und Ärger zu ersparen. Wenn Christian wieder eine Scheibe zerbrochen, einen Blumenkübel umgeworfen hatte oder in eine alte Dame hineingerannt war.

Arno Petersen hatte jedoch darauf bestanden, an seinem Stock zum Brook hinüberzuhinken und sich mit Thilos Hilfe die Treppen hinaufzuschleppen.

Mit leerem Blick starrte er jetzt vor sich hin und drehte das volle Schnapsglas auf der Tischplatte zwischen seinen Fingern.

»Was hast du dir nur dabei gedacht«, sagte er schließlich leise.

Christian auf dem Stuhl gegenüber schwieg. Zu oft hatte er bereits beteuert, wirklich nicht gewusst zu haben, dass Frau Pohl nicht zu Hause war, und sobald Henny es ihm gebeichtet hatte, hatte sie sich ihm schon an den Hals geworfen.

Es machte keinen Unterschied. Er war der Ältere, er war der Mann; selbstverständlich war er der Schuldige. Der Verführer und Unhold.

Eine Ungerechtigkeit, die wie mit Nadeln unter seiner Haut stach. Doch die einzige Reue, die er empfand, galt seinem Vater.

Arno Petersen kippte den Kornbrand hinunter und schenkte sich mit fahriger Hand nach, bevor er wieder mit betrübter Miene vor sich hin starrte.

»So habe ich dich nicht erzogen.«

Mit der Strenge eines Ratsherrn hatte Heinrich Pohl am Tisch seiner guten Stube gethront. Einer jener Männer, die im Zorn nicht laut wurden, sondern spitzzüngig, hatte er eine deutliche Sprache dafür gefunden, was er von Arno Petersen und seinem jüngeren Sohn hielt.

Thilo, der hinter Christian an der Wand lehnte, brannten jetzt noch heftige Widerworte auf der Zunge; bei den Pohls hatte er sie notgedrungen hinuntergeschluckt, um nicht noch Öl ins Feuer zu gießen.

»Wenn sich das herumspricht«, murmelte Arno Petersen düster, »können wir den Laden dichtmachen.«

»Das wird es nicht«, erwiderte Thilo bemüht gelassen. »Den Pohls ist genauso daran gelegen, dass die Sache unter uns bleibt. Es wirft ja sonst auch auf Henny ein schlechtes Licht.«

Sein Vater schien wenig beruhigt, dumpf brütete er weiter vor sich hin.

Endlich richteten sich seine Augen auf Christian; je nach Lichteinfall mal grau, mal blau, erinnerten sie jetzt an einen frischen Bluterguss.

»Das musst du wieder in Ordnung bringen, hörst du?«

Christian zuckte mit den Schultern. »Dann heirate ich Henny eben.«

Arno Petersen, der gerade das Glas zum Mund führen wollte, setzte es unsanft wieder ab; Kornbrand schwappte über den Rand.

»Was redest du da, Junge! Das ist doch nichts, was man übers Knie bricht. Keine Notlösung! Eure Mutter und ich haben zwei Jahre gewartet, bis wir uns sicher waren.«

In einer energischen Geste machte er seiner Erregung Luft.

»Weißt du überhaupt, was das heißt, heiraten? Damit bindest du dich ein Leben lang!«

»Danke, Vadder«, entgegnete Christian unwirsch, »ich bin ein erwachsener Mann.«

»Dann benimm dich auch wie einer«, warf Thilo ein.

Christians Blick auf seinen Bruder war scharfkantig wie blaues Glas.

Arno Petersen legte den Kopf in den Nacken und leerte das Schnapsglas in einem Zug.

»So habe ich dich nicht erzogen«, wiederholte er müde.

Ein kaum unterdrücktes Aufstoßen unterstrich seine Worte, bevor er zu seinem Stock griff und aus der Küche humpelte.

Thilo wartete, bis sich am Ende des Flurs die Schlafzimmertür hinter seinem Vater geschlossen hatte.

»Das ist hoffentlich nicht dein Ernst«, sagte er dann.

Christian zog Flasche und Glas zu sich heran.

»Das wäre doch das Beste. Hennys Ehre wäre wiederhergestellt und die Pohls dadurch milder gestimmt. Wir hätten wieder eine Frau im Haus, und über Heinrich Pohl kämen wir sicher auch an ein Schiff.«

Einen Augenblick lang war Thilo sprachlos. Er erkannte seinen Bruder nicht wieder.

»Jetzt tu doch nicht so, als ob du dich heldenmütig für die Firma opferst«, polterte er dann los. »Womöglich willst du auch noch einen Orden dafür!«

Vielleicht hatte er zuvor schon mit diesem Gedanken gespielt, das wusste Christian nicht mehr; jetzt kam es ihm wie ein Fingerzeig des Schicksals vor.

»Und was ist mit Katya?«, hakte Thilo nach, leiser dieses Mal.

Scheinbar ungerührt goss Christian sich einen Schnaps ein. Durch das gefüllte Glas hindurch betrachtet, erschienen die Kanten der Anrichte gebogen und leicht verschwommen.

Dass er sich mit Henny derart in die Klemme gebracht hatte, hatte ihm die Augen geöffnet. Genauso wie er mit dem neuen Geschäft seine Zukunft in andere Bahnen lenkte, wollte er auch sein Leben anpacken.

Nicht morgen. Heute.

Er war im richtigen Alter, um zu heiraten und eine Familie zu gründen, im selben Alter wie sein Vater damals. Henny wäre eine gute Ehefrau, liebevoll und unkompliziert, deren Ehrgeiz nicht über gestärkte Betttücher und hübsche Kleider hinausreichte. So bewundernd, wie sie zu ihm aufsah, würde er in ihren Augen immer alles richtig machen, sie würde ihm immer den Rücken stärken.

»Was soll mit Katya sein?«

»Ich dachte, du hast sie gern.«

»Vielleicht mag ich Henny lieber.«

Noch immer konnte er ihre warmen Rundungen spüren, ihre Küsse schmecken; ein Vorgeschmack auf mehr.

»Morgen gehe ich zu Heinrich Pohl und bitte ihn um Hennys Hand.«

Christian schluckte den Klaren hinunter, der eine glühende Bahn durch seine Kehle zog, und bleckte die Zähne.

Thilo löste sich von der Wand.

»Du bist ein Hornochse, Christian Petersen. Ein riesiger Hornochse.«

Auf dem Weg zur Tür blieb Thilo noch einmal stehen.

»Hab wenigstens den Mumm, es Katya selbst zu sagen, bevor sie es von jemand anderem erfährt.«

Christian wurde blass unter seiner Sonnenbräune. Bittend sah er zu seinem Bruder auf, der abwehrend den Kopf schüttelte.

»Dieses Mal nicht, Christian. Dieses Mal hole ich nicht für dich die Kohlen aus dem Feuer. Ich gehe gern mit, wenn du es willst. Aber sagen musst du es ihr selbst. Wenn du dich für einen erwachsenen Mann hältst, dann regle deine Angelegenheiten auch wie ein ganzer Kerl. Mit Anstand und Ehrlichkeit.«

Christian kippte den nächsten Schnaps hinunter; sein elendes Gefühl konnte er damit jedoch nicht wegspülen.

Innerhalb weniger Augenblicke schien Katya all ihr Deutsch vergessen zu haben, als sie in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa saß und Christian zuhörte, der vor ihr stand.

Ihre Augen wechselten fortwährend die Farbe, bis nur noch ein mattes Blau übrig geblieben war, fast farblos.

Thilo tat es weh, sie so zu sehen; er war an der Zimmertür stehen geblieben, um sich zu versichern, dass Christian nicht feige einen Rückzieher machte. Sich nicht ein bequemes Schlupfloch offen hielt.

Nur allmählich verstand Katya, was Christian ihr zu sagen versuchte. Dass er heiraten würde. Ein anderes Mädchen. Vor einer Woche hatte er um ihre Hand angehalten, heute Morgen hatten ihre Eltern zugestimmt.

»Es tut mir leid«, hörte sie ihn sagen, da hatte sie schon den Kopf abgewandt.

Er ließ nicht einmal Raum für Zweifel. Für widerstreitende Gefühle oder Unsicherheit. Er hatte seine Entscheidung getroffen, ohne sie.

Von dem Tag an, als Katya einen Fuß in den Laden gesetzt hatte, hatte Christian ihr Herz umschmeichelt und es jetzt in seiner Faust zersplittert wie ein zartes Gespinst aus Eisnadeln.

Erst als sich Christians Schritte entfernt hatten und die Wohnungstür ins Schloss gefallen war, konnte sie wieder atmen.

Auf der anderen Seite der geöffneten Fenster schob sich eine Wolke vor die Sonne und raubte der Welt für einen Moment alle Konturen.

Sie wünschte, Grischa wäre hier.

Katya fragte sich, wer dieses Mädchen war. Wie lange es sie schon gab, im Hintergrund, während Katya sich von Christian umworben und begehrt fühlte. Nur eine Zerstreuung, eine lockende Versuchung durch ihre Fremdartigkeit, aber nichts von Dauer.

Johann Silberberg hatte ihr einmal von Meteoren erzählt. Harmlos und wunderschön als Sternschnuppen, hinterließ ihr Einschlag auf der Erde nichts als verbrannten Boden, brachte Dunkelheit und Kälte über die Welt.

Christian war ihr Meteor.

Wie ein Krampf lief es durch sie hindurch.

Katya fuhr zusammen, als sich das Sofapolster unter Thilos Gewicht senkte; sie hatte angenommen, er wäre mit Christian gegangen. Seine Hand legte sich auf ihre Schulter, und sie zuckte zurück; als er sie am Arm fassen wollte, schlug sie nach ihm.

Thilo umschlang sie fest und presste sie an sich, und ihr Widerstand erlahmte, als etwas in ihr kaputtging.

Seine Hemdbrust wurde feucht, vielleicht von Katyas Tränen, vielleicht von ihren heißen Atemzügen.

Er wusste, wie es war, wenn einem die Gefühle für einen anderen Menschen unter die Haut krochen und nach und nach in die Adern tröpfelten. Jemanden mehr als alles andere auf der Welt zu begehren und ihn doch niemals haben zu können.

Ihm ging es so, wenn sich Grischas braune Augen auf ihn richteten, die Sonne darin goldene Funken entzündete und sein Gegenüber mit einem warmen Schimmer umgab. Sobald er Grischas Stimme hörte, tief und voll und kehlig, und er sich einfach nur darin einhüllen wollte. Wenn Grischa ihn mit seinem schiefzahnigen Jungenlachen ansah, das ihn noch männlicher machte.

Jedes Mal, wenn Grischa sich abends vom Tisch erhob, um die Nacht wieder irgendwo im Bett eines Mädchens zu verbringen, oder er sich auf der Straße nach einem hübschen Gesicht, einem Paar strahlender Augen umdrehte, litt Thilo stumm vor sich hin.

Auch jetzt, während er Katya einfach nur festhielt, ließ er nichts davon verlauten.

Dies war Katyas Kummer, nicht seiner.

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