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Reisefieber kribbelte in Katyas Bauch und prickelte bis in ihre Fingerspitzen, als sie ihre Hemden und Herrenhosen in der Reisetasche verstaute, Unterzeug und ihre notwendigsten Toilettenartikel.
Übermorgen würden sie in See stechen.
Schließlich packte sie ihre norwegische Alltagstracht dazu, vielleicht würde sie in Indien Gelegenheit haben, sie zu tragen; schön genug, um sich damit sehen zu lassen, war sie allemal.
Indien, wiederholte sie immer wieder ungläubig. Ich werde nach Indien reisen.
Die vergangenen Nächte waren kurz gewesen. Bis spät hatte sie im Lampenlicht noch genäht und gestickt, heute Morgen das letzte Paket mit den stramm gestärkten Tisch- und Betttüchern zu Fritz Bergmann gebracht.
Dieser war alles andere als begeistert, mehr als ein halbes Jahr auf ihre Arbeit verzichten zu müssen, was Katya gleichmütig hinnahm. Wenn alles gut ging, würde sie auf diese Arbeit nicht mehr angewiesen sein; ging es schief, würde sie auch woanders solche Aufträge bekommen, so selbstbewusst war sie inzwischen.
Es klopfte an der Wohnungstür, und Katya sah überrascht Christian an. In einem der leichten braunen Anzüge, die er seit einiger Zeit im Laden trug und die seine Haare blonder wirken ließen, seine Augen noch blauer; in diesem April hatte er seinen siebenundzwanzigsten Geburtstag gefeiert.
Wie sie zueinander standen, fand Katya selbst schwierig zu umreißen. Nicht Freund, aber auch kein Feind, sondern etwas dazwischen. Als Thilos Bruder ein Teil der Familie, zu der die Petersens und Voronins zusammengewachsen waren; vielleicht wie ein entfernter Vetter, mit dem man mehr schlecht als recht auskam, aber mit dem man sich zu arrangieren gelernt hatte.
Katya konnte nur raten, ob er sie auf eine ähnliche Weise betrachtete.
»Thilo und Grischa sind nicht da«, wehrte sie gleich statt einer Begrüßung ab.
Beide hatten im Hafen mit der Maiden of the Seas alle Hände voll zu tun. Eine Walküre von Schiff, die ihnen Heinrich Pohl aus dem englischen Hull vermittelt hatte.
Morgen würde Katya das Verladen des Eises für Kalkutta mit überwachen und dann die Schlüssel zum Lagerhaus bei Heinrich Pohl deponieren. Zusammen mit den Lieferscheinen und Rechnungen für Kapitän Albers’ Fahrt auf der Albatros im Juli, der als ihr Agent den Verkauf in London abwickelte.
»Ich weiß«, erwiderte Christian, »ich wollte auch zu dir.«
Christian hatte sich verändert in den knapp fünf Jahren seit seiner Hochzeit, das dachte Katya nicht zum ersten Mal. Das mal hoch auflodernde, dann wieder unsicher flackernde Feuer in ihm war erloschen, nach und nach, mit jedem Jahr in dieser Ehe.
Dennoch ähnelte er jetzt wieder verblüffend dem jungen Mann, der damals, in ihrer allerersten Zeit in Hamburg, fast jeden Tag vor dieser Tür gestanden hatte. Mit einer Speckseite, einem Kopf Salat oder süßem Gebäck. Mit leuchtenden Augen und einem Lächeln, das Katya an jedem einzelnen dieser Tage von Neuem betört hatte.
Eine Erinnerung, die ihr mehr als unwillkommen war.
»Hat das nicht Zeit bis zum Essen heute Abend? Ich bin gerade beschäftigt.«
»Ich wollte dich unter vier Augen sprechen. Darf ich hereinkommen?«
Katya wich nicht von der Stelle, öffnete auch die Tür nicht weiter.
Es war ihm unangenehm, sein Anliegen im Treppenhaus vorzubringen wie ein Hausierer.
»Ich weiß, wir standen in der Vergangenheit nicht immer gut zueinander«, begann er umständlich.
Katya hob eine Braue, und er räusperte sich.
»Ich habe eine große Bitte an dich, und ich weiß, es wäre viel verlangt … aber Henny geht es dieser Tage nicht besonders gut. Könntest du vielleicht hierbleiben? Ihr zuliebe? Auch wegen Vadder und Jette?«
Er wusste sofort, dass er es falsch angefangen hatte, und zog unwillkürlich die Schultern hoch.
Katya verschlug es einige Herzschläge lang die Sprache.
Frau Kröger oder Frau Willemsen kochte zu Mittag etwas mit Kohl, die Schwaden drangen bis zu ihr herauf. In den Hinterhöfen kreischten Kinder bei einem ausgelassenen Spiel; irgendwo schlug jemand Holz entzwei oder hämmerte sich etwas zurecht.
»Sie ist deine Frau«, entgegnete Katya schneidend. »Kümmere du dich doch um sie.«
Ein dünnes Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.
»Sie braucht nicht mich. Ich bin nur der Ehemann. Sie braucht eine Freundin.«
»Sie hat doch Freundinnen.«
Kathi Mommsen und Betty Haferkamp, denen Katya manchmal unten im Haus begegnete, wenn sie mit ihren kleinen Kindern an der Hand und auf dem Arm die Treppen zu Henny und Jette erklommen.
Christian schüttelte den Kopf.
»Keine schnatternden Gänse, deren Welt nur um sich selbst kreist. Sie braucht jemanden mit gesundem Menschenverstand. Mit Herz. Jemanden wie dich.«
Katya wich seinem eindringlichen Blick aus. Unwillkürlich ruckten ihre Schultern unter der Bluse, als müsste sie etwas von sich abschütteln.
Eine Ahnung beschlich sie.
»Du wirst mich nicht aus der Firma drängen, Christian. Mit keinen noch so schönen Schmeicheleien. Mit keinem noch so cleveren Trick. Also versuch es gar nicht erst.«
Ein zorniger Funke glomm in Christians Augen auf.
»Darum geht es mir doch gar nicht.«
Katyas Augen wurden schmal. »Worum geht es dir dann?«
Christian rang nach Worten. Darum, wie es geworden war mit Henny.
Er sollte sich nicht beklagen. Henny hatte nicht nur dafür gesorgt, dass sie überhaupt ein Schiff und etwas Geld für diese Fahrt nach Indien hatten. Sie half tüchtig im Laden mit und verlieh diesem eine hausfrauliche Note, die besonders die weibliche Kundschaft schätzte. Und aus der Männerwirtschaft der Petersens hatte sie wieder ein Zuhause gemacht.
Vor allem verdankte er ihr Jette, nach zwei Tagen in den Wehen von Henny zur Welt gebracht. Etwas in Christian hellte sich jedes Mal auf, wenn er seine kleine Tochter ansah, sie die Ärmchen um ihn schlang und ihn Papa nannte.
Dennoch war Christian unglücklich.
Es war die Art, wie Henny ihm abends unter vier Augen vorhielt, was er alles den Tag über im Laden hätte besser machen können, besser hätte sagen sollen. Ihm zu verstehen gab, dass bei ihm womöglich etwas nicht stimmte und er deshalb keine Kinder zu zeugen vermochte, die in Hennys Bauch Wurzeln schlagen konnten. Und trotzdem wollte sie es immer weiter versuchen, mit einer Fiebrigkeit, die sie herrisch und manchmal grob machte und ihm jede Lust nahm.
Doch Henny hatte als Mädchen nicht nur schnell gelernt, wie Küssen ging; als verheiratete Frau wusste sie genau, wo die Schwäche eines jeden Mannes lag. Wo sie mit flinker Zunge und weichen Händen streicheln und reiben musste, um am Ende doch zu bekommen, was sie wollte – und Christian verachtete sich selbst dafür.
Eine Spinne, die das Männchen in ihr Netz gelockt hatte und nach der Paarung aussaugte, so kam sie ihm manchmal vor.
Möglicherweise steckte doch ein Körnchen Wahrheit darin, dass Töchter sich über kurz oder lang in ihre Mütter verwandelten. Das ging ihm manchmal durch den Kopf, wenn er bei den Pohls am Sonntagstisch saß.
Er fand keine Worte für all das, er schämte sich zu sehr.
»In Ordnung. Dann bleibe ich hier.«
Katyas Augen weiteten sich.
»Du kannst nicht hierbleiben. Wir brauchen dich auf dieser Fahrt.«
Christian starrte auf einen Riss in einer der Dielen.
So unbedingt war Henny für diese Reise nach Indien gewesen, und nun war sie halb verrückt vor Angst. Weinend klammerte sie sich jeden Abend im Bett an ihn und beschwor ihn, ja nicht zu fahren. Es würde etwas ganz Schlimmes geschehen, in diesem halben Jahr auf den Ozeanen der Welt, das spüre sie ganz deutlich, tief in sich.
Vielleicht hatte er sich von ihrer Angst anstecken lassen und Katya deshalb gebeten hierzubleiben, in der vertrauten Sicherheit an Land; vielleicht hatte er auch vor etwas ganz anderem Angst.
Zu sicher war er gewesen, dass seine Ideen für den Eishandel Früchte tragen würden. Mit jedem Jahr, das keinen oder nur geringen Gewinn brachte, wuchsen die Zweifel; vielleicht taugte er zu nichts anderem, als Hausfrauen Mehl, Käse und Scheuerpulver zu verkaufen.
Etwas Größeres, Besseres hatte er aus seinem Leben machen wollen und war damit genauso gescheitert wie als Ehemann und als Vater. Bei diesem Kind, zu dem er kaum etwas beigetragen hatte, während es in Henny herangewachsen war, von ihr unter Schmerzen in die Welt hinausgepresst und an ihrer dicken Brust genährt.
So winzig und zerbrechlich war ihm seine Tochter vorgekommen, dass er sich kaum getraut hatte, sie auch nur einmal zu halten. Und sobald er sich doch dazu überwand, waren gleich schon Henny oder Mathilde Pohl da gewesen und hatten sie ihm mit gluckenhafter Wichtigtuerei wieder abgenommen.
Wie in einer leeren und feindseligen Polarlandschaft ausgesetzt kam er sich vor, die ihn zermürbte und verschliss.
Vielleicht würde er sich besser fühlen, stieg er aus diesem irrwitzigen Geschäft aus, besser spät als nie.
»Ihr braucht mich nicht«, erwiderte er leise. »Ihr braucht nur das Eis, und das habt ihr bereits.«
Etwas in seinem Blick, in der Rauheit seiner Stimme kratzte auf Katyas Haut.
»Du bist eifersüchtig«, erriet sie verblüfft.
Christian sah sie an, wie sie vor ihm stand. Stolz und so hochgewachsen, dass sie ihm direkt in die Augen blicken konnte.
Katya, die immer wusste, was sie wollte, und mutig danach handelte.
»Welcher Mann wäre nicht eifersüchtig auf eine Frau wie dich?«
Katya runzelte die Stirn. Bevor sie nachfragen konnte, was er meinte, hatte er sich schon umgedreht und eilte die ersten Stufen hinunter.
Als er seinen Namen hörte, blieb er stehen und wandte den Kopf.
»Es ist sicher herzlos von mir gegenüber Henny …«, sagte Katya zu ihm. »Aber wenn du uns jetzt im Stich lässt, werden wir anderen dir das nie verzeihen.«
»Vor allem du nicht?«
Um Katyas Mund zuckte es. »Vor allem ich nicht.«
Der zärtliche Spott, der ihr so zu eigen war, ließ ein Lächeln auf seinem Gesicht aufscheinen, warm und offen dieses Mal.