23



Mathilde Pohl machte sich keine Illusionen über ihr einziges Kind. Henriette war ein liebes Mädchen und auch recht hübsch mit ihren blauen Kulleraugen und den mädchenhaft weichen Zügen. Ihr größter Vorzug war ihr dickes blondes Haar, das in der feuchten Luft Hamburgs allerdings schnell krauste und nur mit viel Aufwand in gefügigen Locken unter die Haube zu bringen war.

Zurückhaltung stand einem jungen Mädchen gut zu Gesicht, aber ihre Tochter übertrieb es mit ihrer Schüchternheit, wirkte verstockt. Wie schlicht gestrickt, wenn sie wieder den Kuchen im Ofen vergaß. Mathilde Pohl wusste nicht, wo das Mädchen nur immer mit ihren Gedanken war. Vor allem naschte sie viel zu gern; süße siebzehn war sie, aber das brauchte sie ja nicht gleich wörtlich zu nehmen.

»Henny«, flüsterte Mathilde Pohl, während ihre Tochter neben ihr über den Kai trottete. »Haltung.«

Gehorsam straffte Henny sich und hob den Kopf.

»Nicht so. Jetzt siehst du aus, als würdest du hochnäsig auf alle heruntergucken. Moin, Frau Lürsen.«

Henny dachte, dass sie ja nichts dafür konnte, wenn der liebe Gott ihr eine Himmelfahrtsnase mitgegeben hatte, bemühte sich aber trotzdem, es ihrer Mutter recht zu machen. Unwillkürlich beulte sie mit der Zungenspitze ihre Wange aus, wie immer, wenn sie angespannt oder nervös war, was ihr prompt erneut eine Ermahnung einbrachte.

Mit knapp achtzehn Jahren im heiratsfähigen Alter zu sein verwirrte sie. Weibliche Rundungen sollte sie aufweisen, aber nicht zu viel. Bescheiden und demütig hatte sie zu sein, aber nicht zu still oder gar stumm. Natürlich gehörte es sich, viel in die Kirche zu gehen, aber als Betschwester musste sie ja auch nicht gleich gelten.

Da Henny anscheinend nichts richtig machen konnte, hatte sie das Gefühl, als wäre etwas an ihr grundfalsch. Kein Wunder, dass sie sich oft müde fühlte und am liebsten ihre Tage im Bett verbracht hätte. Am allerliebsten mit einer Dose voller Schnopkram. Bonbons, Karamell, Kekse, Marzipan und Schokolade trösteten und füllten das Loch, das irgendwo tief in Henny klaffte, obwohl ihr Bauch rund und stramm war.

Heimweh, glaubte Henny, sie hatte einfach Heimweh nach Lübeck. Vielleicht sehnte sie sich auch nur in ihre Kindheit zurück, die im Rückblick so viel leichter und einfacher gewesen zu sein schien.

Es würde noch komplizierter und schwieriger werden, sobald sie einmal verheiratet war, wie ihre Mutter düster orakelte, ohne dass sie jemals genauer darauf einging.

Bis dahin war aber noch Zeit, noch hatte sich kein Bewerber um Hennys Hand und den dazugehörigen Rest eingestellt. Hamburg war voll von Mädchen, hübscher, auffälliger, lebhafter, tüchtiger oder schlicht wohlhabender als Henriette Pohl.

Obwohl das Geschäft gut lief; nach acht Jahren hatte sich Heinrich Pohls Ahnung bewahrheitet, der Hamburger Hafen würde sich schneller von der Franzosenzeit erholen als das ebenfalls an Napoleons Handelsblockade zugrunde gegangene Lübeck. Inzwischen konnten sich die Pohls ein Mädchen leisten, das jeden Morgen für die gröbsten Arbeiten vorbeikam, womöglich gar einen Umzug an den schickeren Neuen Wandrahm.

Mathilde Pohl jedenfalls wollte weg vom Kehrwieder und jammerte in einem fort über das Elend, das bis an ihre Türschwelle schwappte. Hennys Vater wollte davon jedoch nichts hören. Von Zuhause aus war es nur ein kleiner Spaziergang zu den Werften und Kaianlagen, wo er in seinem Kontor Schiffe vermittelte und ihre Fracht abfertigte, und damit hatte sich das Thema für ihn erledigt.

Henny verstand die Klagen ihrer Mutter nicht. Sie hatten es doch schön in der hellen und freundlichen Wohnung am Brook und alles an Läden für den täglichen Bedarf in Gehweite. Und sie wusste auch nicht, was an den Leuten verkehrt sein sollte, die ein bescheideneres Dasein fristeten als die Pohls oder die Hildebrands, die Schulzens und Wortmanns in ihrem Vorderhaus.

Stunden konnte Henny an der hinteren Luke des Dachbodens zubringen und auf die verwinkelten Gänge und Gassen hinunterschauen, in die grauen Hinterhöfe und aufeinandergestapelten Bretterbuden. Ein Puppenhaus für Erwachsene, zwischen Wäscheleinen und Kehrichthaufen, streunenden Katzen und räudigen Hunden. Da unten, da war das ungeschönte und wahre Leben mit seinen Dramen zwischen Eheleuten, Eltern und Kindern, Liebenden und Nebenbuhlern, greinenden Säuglingen und siechenden Greisen. So viel fesselnder und bewegender als das, was der Klatsch bei den Teekränzchen ihrer Mutter daraus machte.

»Henny«, zischte Mathilde Pohl.

Nur widerwillig löste Henny ihren Blick von dem Fischer, der in beiden Händen seinen silberglänzenden Fang an den Schwanzflossen gebündelt trug, belagert von kreischenden Möwen, die ihm etwas davon abluchsen wollten. Sie wäre gern noch auf dem Kai stehen geblieben an diesem Morgen, der schon nach Sommer roch, folgte dann aber ihrer Mutter brav über die Schwelle des Gemischtwarenladens.

»Moin, Herr Petersen. Was macht das Bein?«

Vergnügt richtete sich Arno Petersen von einer der Gemüsekisten auf.

»Moin, Moin, Frau Pohl. Fräulein Henny. Kann nicht klagen, Frau Pohl. Der Sommer kommt. Was kann ich Ihnen Gutes tun?«

Während Mathilde Pohl sich Speck und Käse abschneiden ließ, betrachtete Henny sehnsüchtig die Gläser voller Bonbons in ihren hübschen Farben.

»Pfefferminz oder Karamell?«, flüsterte eine Stimme warm neben ihrem Ohr.

Henny sah auf und sofort wieder weg; heiße Röte schoss in ihr Gesicht.

Alle ihre Freundinnen waren in Christian Petersen verliebt. Dass er gern Mädchen küsste, sahen ihm sogar die Mütter, Tanten, Großmütter nach, weil er dabei trotzdem anständig blieb. Und welche von ihnen hätte sich nicht von Christian Petersen küssen lassen, wäre sie noch jung und hübsch, den Kopf voll mit romantischen Flausen, die ihnen die Realität von Ehe und Mutterschaft nach und nach ausgetrieben hatte.

»Oder lieber Himbeer?«

Hennys Zunge bohrte sich in ihre Wange.

Himmlisch waren Christians Küsse, hatte Frieda Brandt erzählt, mit der Henny eigentlich nicht mehr befreundet sein durfte. Nicht weil Frieda und ihre Mutter putzen gingen, um die Witwenpension, von der sie lebten, aufzubessern, sondern weil Mathilde Pohl Frieda zu flott fand.

Henny wusste nicht genau, was das bedeutete. Sie bezog es auf Friedas klares, offenes Gesicht mit den moosgrün gesprenkelten Augen, das kupferglänzende Haar und den großen roten Mund, der immer lachte. Sie zweifelte nicht daran, dass es stimmte, wenn Frieda sagte, Christian wartete nur auf ihren achtzehnten Geburtstag, bevor er sie fragen würde, ob sie fest miteinander gingen.

»Hübsch siehst du heute aus, Henny«, sagte Christian von der Leiter herunter. »Neues Kleid?«

Die Augen an ihren Schuhspitzen festgesaugt, nickte Henny.

Gut aussehende Männer gab es wie Sand am Meer. Aber so aufmerksam und freundlich war nur Christian Petersen. Anders als sein Bruder, der streng aus seiner Höhe herabblickte, als ob er Mädchen grundsätzlich albern fände, und der Henny ein bisschen unheimlich war. So blass, sogar für einen Norddeutschen, mit seinen steinernen Augen, den eisigen Wimpern und Brauen.

Das dachten auch Hennys Freundinnen. Wie ein Geist, hatte Frieda mit weit aufgerissenen Augen und unheilvoll gedämpfter Stimme gesagt und dann gelacht.

»Hier, Henny, für dich.«

Henny starrte das gefüllte Papiertütchen an, das Christian ihr hinhielt. Nervös fuhr ihre Zunge die Innenseite ihrer Wange entlang, während sie zu ihrer Mutter schielte.

Mathilde Pohl ging ganz darin auf, Arno Petersen über dem Abwiegen von Grieß und Zucker darüber in Kenntnis zu setzen, dass es mit Fred Wasmuth nun wohl doch zu Ende ging, dass die Mestmachers schon wieder Nachwuchs erwarteten, wie die Karnickel – die arme Frau! Und dass es mit der Ehe der Hartmanns nicht zum Besten stand; unter jedem Dach eben ein Ach.

Als Henny sich noch immer nicht rührte, legte sich Christians Hand um ihre und steckte ihr die Bonbontüte zu.

»Für einen süßen Sommertag.«

Sein Lächeln füllte den ganzen Raum und schien doch nur ihr zu gelten.

So musste es sein, wenn man ohnmächtig wurde, ganz leicht und ein bisschen schwindelig im Kopf, die Füße schon nicht mehr sicher auf dem Boden.

Ein watteweiches Gefühl, in dem Henny neben ihrer Mutter nach Hause schwebte, die in einem fort darüber schimpfte, wie viel kostbare Zeit sie jetzt wieder mit den Einkäufen vergeudet hatte und wie schwer ihr Korb war.

Ein kostbarer Schatz waren die Bonbons in Hennys Schürzentasche. Die Wärme von Christians Lächeln und wie seine Hand die ihre umfasst hatte.

»Weißt du, Mutter«, hörte Henny sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen, »wenn dir der Einkauf zu viel wird, schick doch beim nächsten Mal einfach mich.«

Bis in das Treppenhaus hinaus roch es verlockend, als Thilo und Christian gegen Abend mit Kisten beladen heraufkamen und die Wohnungstür aufsperrten.

»Nasdarowje« , rief ihnen am Küchentisch Arno Petersen mit erhobener Teetasse entgegen, sein Holzbein von sich gestreckt. »Katya bringt mir gerade Russisch bei und ich ihr unseren Hamburger Schnack.«

Katya spähte in den Ofen, um nach dem Brot für den nächsten Tag zu sehen; mit Mehl und Hefe zum Einkaufspreis rechnete es sich, selbst zu backen, anstatt es beim Bäcker zu holen. In dem Seitenblick, den sie Thilo zuwarf, funkelte es schelmisch, und auch um Thilos Mund zuckte es.

Vor Arno Petersen stand eine große Schüssel Salat, daneben ringelten sich dünne Kartoffelschalen und die sparsamen Überreste des Gemüses, das er für das Abendessen geschnitten hatte. Er stemmte sich auf seinem neuen metallverstärkten Stock in die Höhe, schnupperte über Katyas Schulter hinweg in den dampfenden Topf und gab einen beglückten Laut von sich.

»Ich deck schon mal den Tisch.«

Er klopfte seinem älteren Sohn auf den Rücken und humpelte zügig hinaus.

Thilo stellte die Kisten auf den Stuhl und griff sich die Tasse, tatsächlich nur Tee und Klüntjes. Das heitere Wetter der letzten Zeit tat seinem Vater wirklich gut.

Unwillkürlich warf er einen Blick über seine Schulter. Noch hatten sie Arno Petersen nichts von ihrem neu gegründeten Unternehmen erzählt. Thilo zog es vor, zu warten, bis sie etwas Handfestes vorweisen konnten.

»Ich will mir Samstag ein paar Lagerhäuser ansehen«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Kommst du mit?«

»Hat sie denn eine Ahnung davon?«, warf Christian herausfordernd ein.

Katyas Augen verdunkelten sich, bevor es grün in ihnen aufglomm.

»Bestimmt so viel wie du und Thilo auch.«

»Einer muss im Laden bleiben«, erklärte Thilo seinem Bruder ruhig. »Und Grischa ist nicht da. Also gehen Katya und ich.«

Christian setzte seine Kisten auf den anderen Stuhl ab; der Blick, den er ihnen beiden zuwarf, war stechend.

Während Thilo die oberste der Kisten auszupacken begann, deutete er mit dem Kinn auf den Topf, in dem Katya rührte.

»Du musst das nicht machen, weißt du.«

»Weiß ich«, erwiderte Katya und klopfte den Löffel am Topfrand ab.

Sie kochte gern in der Küche der Petersens, die geräumiger und besser ausgestattet war, und sie mochte Arno Petersen. In seiner Herzensgüte, dem Humor, den er trotz allem nicht eingebüßt hatte, erinnerte er sie manchmal an ihren Großvater.

Sie schlug einen neckenden Tonfall an.

»Obwohl dein Bruder offenbar meint, ich wäre in der Küche am besten aufgehoben.«

Wortlos marschierte Christian aus der Küche, auf der anderen Seite des Flurs schlug eine Tür zu.

Einen Bund Möhren in der Hand, schwieg Thilo ein paar Herzschläge lang.

»Entschuldige. Mein Bruder holt gerade wohl seine Flegeljahre nach.«

Katyas zusammengezogene Brauen glätteten sich, und sie atmete tief durch.

»Außerdem koche ich besser als du«, fügte sie hinzu.

Thilo schmunzelte. »Das stimmt.«

Katya wischte sich die Hände an der Schürze ab, bevor sie die Kisten zu durchstöbern begann. Überreste aus dem Laden, wie Thilo und Christian sie ab und zu abends mitbrachten; noch essbar, aber nicht mehr schön genug, um sie verkaufen zu können. Verschrumpelte Möhren und Rüben nahm sie heraus, braunfleckigen Salat und welkenden Kohl und überlegte sich, was sie morgen davon kochen würde und übermorgen.

Heute waren es besonders viele Reste.

»O Thilo. Das kann ich nicht alles brauchen«, stellte sie schließlich bedauernd fest. »Ich habe doch schon so viel eingemacht. Und wir werden den Winter über ja nicht hier sein.«

Hoffnung schimmerte zwischen ihnen auf.

Daran hielten sie sich fest, wenn am Abend weniger in der Ladenkasse war als erhofft. Wenn Katya von Fritz Bergmann wieder nur eine kleine und schlecht bezahlte Näharbeit bekommen hatte, weil es in der Stadt mehr als genug Näherinnen gab, die geschickter und auch erfahrener waren. Trotz der Heuer, die Grischa von seinen Fahrten mitbrachte, wuchs ihr Erspartes nur schleichend. Auf Thilos Anraten hin hatte er es inzwischen im Namen der Firma zur Bank gebracht, damit es dort wenigstens ein paar Pfennig Zinsen ansammelte.

Obwohl sie noch immer nicht wussten, mit welchem Schiff sie das Eis aus Norwegen holen würden.

»Was machst du jetzt damit?«

Thilo zögerte, seine Hände öffneten und schlossen sich um den Kistenrand.

Trotz allem hatten sie noch Glück, das wussten sie.

Der Laden warf genug ab, dass es zum Leben reichte, und wann immer es ging, legte Thilo ein paar Mark zur Seite und trug sie am Ende der Woche zur Bank. Und während die Kais ringsum voll waren von arbeitslosen Matrosen und verhärmten Schauerleuten, die vergeblich darauf warteten, dass irgendjemand ihre Hilfe beim Laden und Löschen seiner Fracht brauchte, hatte Grischa nie Mühe, auf einem Segler anzuheuern, kaum dass er von einer Fahrt zurück war. Kraftstrotzend und selbstbewusst stach er aus der Masse heraus, und seine norwegischen und inzwischen auch deutschen Papiere wiesen ihn als erfahrenen Maat aus.

»Ich bringe es später nach hinten in die Höfe«, erklärte Thilo schließlich. »Die Leute dort haben so wenig.«

Katyas Blick, der sich unter seine Haut zu tasten schien, war ihm unangenehm.

»Erzähl es niemandem«, knurrte er, bissig vor Verlegenheit. »Das schadet meinem Ruf als Pfennigfuchser.«

»Darf ich mitkommen?«

Ihr scheues Lächeln taute sein hartes Gesicht auf.

Thilo schloss die Tür zum Zimmer der Brüder hinter sich.

Auf seinem Bett ausgestreckt, die Arme über Kreuz hinter dem Kopf, lag Christian reglos da. Nur seine Augen bewegten sich und verfolgten die Schattenschwingen der Vögel, die über das Stück Himmel vor dem offenen Fenster huschten. Als ob die überschüssige Energie, die ihn sonst umtrieb, sich tief in ihn zurückgezogen hätte und keinen Weg hinausfände.

Thilo verschränkte seinerseits die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen die Tür.

Beide schwiegen sie. Die Abendluft roch nach Wasser und Sonne, tangig und ein bisschen nach Fisch.

Das Glockenspiel von Sankt Nikolai schlug die halbe Stunde.

»Wir waren uns doch einig«, sagte Thilo. »Ob Grischa hier ist oder nicht, unterm Strich sparen wir alle, wenn wir zusammen kochen und essen anstatt jeder für sich, oben und unten.«

Christian hatte nicht gewusst, wie hart es werden würde.

Jeden Tag bekam er vor Augen geführt, wie es wäre, Katya zur Frau zu haben. Ohne dass er die Arme um sie schlingen konnte, wenn sie am Herd stand, und das Gesicht in ihre aufgesteckten Zöpfe zu drücken, die schwarzen Härchen in ihrem Nacken zu küssen. Nicht im Lampenlicht zu ihr ins Bett zu schlüpfen und sich an ihrer Schönheit betrinken zu dürfen, ihren Atem auf seiner Haut, ihr gehauchtes Lachen in seinem Ohr, und morgens als Allererstes in ihr Gesicht zu blicken.

Ein Jahr musste er darauf warten, bis er sie ausführen durfte, von dem erst ein paar Monate vergangen waren; für sich genommen schon eine Ewigkeit. Zwei weitere Jahre, in denen er sich damit begnügen musste, ihre Hand zu halten und sie zu küssen.

Eine Folter war es, für den Leib ebenso wie für die Seele.

»Geht es um das Geschäft?«, riet Thilo.

Eine kalte Hand streckte sich nach Christian aus.

»Sie führt sich auf, als wäre es allein ihres.«

Christian tat ihr unrecht, und das wusste er auch.

Eine beißende Unruhe war unter seine Haut gezogen und reizte ihn bis auf die Knochen. Eine rebellische Rastlosigkeit, die er nicht einmal als Heranwachsender erlebt hatte, während seine Arme und Beine in die Länge schossen wie Bohnentriebe, sein Körper sich auf verstörende Weise täglich neu zusammenfügte, hin zu etwas, das er irgendwann danach als Mannsein begriff.

Jetzt erst brach blinder Zorn aus ihm hervor, in dem er sich gegen Katya auflehnte, die Welt, gegen sich selbst.

Thilo hob die Brauen.

»Das Geschäft steht und fällt mit Katya, das ist dir doch klar. Ich jedenfalls könnte Gletschereis nicht von Eis aus einem See oder einem Fluss unterscheiden.«

»Meinetwegen«, erwiderte Christian. »Aber deswegen muss sie doch nicht gleichberechtigte Geschäftspartnerin sein.«

Es würde noch härter werden, tagelang mit Katya auf einem Schiff zusammengepfercht. In den Wochen, vielleicht Monaten, die sie durch Norwegen ziehen würden, in einer Leere aus Schnee und Eis.

»Warum nicht? Mutter hat doch auch mit im Laden gestanden und ihn oft allein gestemmt, wenn Vadder nach Altona hinübergefahren ist.«

»Das war etwas anderes.«

Thilo runzelte die Stirn. »Inwiefern?«

Wie der Stich einer dünnen Klinge war der Blick, den Christian seinem Bruder zuwarf.

»Angeblich ist sie noch nicht alt genug, um mit mir auszugehen. Aber zu jung, um ein Geschäft mit uns zusammen zu führen, ist sie offenbar nicht.«

Ein Anflug des Begreifens glitt über Thilos Gesicht; daher wehte also der schneidende Ostwind bei Christian.

»Du vergleichst Äpfel mit Birnen, und das weißt du auch.«

Schweigend blinzelte Christian in das Licht des Sommerabends.

Er wünschte, er könnte wie Grischa sein, der sich nahm, was er wollte, ohne Gewissensbisse, ohne Reue, ob sie nun Wiebke hieß, Johanna oder Lotte.

»Du kannst immer noch aussteigen«, sagte Thilo.

So weit kam es noch, dass er sich von einem Mädchen aus einem vielversprechenden Geschäft drängen ließ. Christian erschrak selbst über diesen Gedanken.

So sollte es nicht sein, dachte er, wenn man verliebt ist.

Es sollte nicht das Hässliche in einem hervorbringen. Nicht die Schwächen und Unsicherheiten ans Licht zerren, die dunklen Flecken; es sollte nicht hungrig machen, sondern satt.

Thilo betrachtete seinen Bruder, der nur ein einziges Mal hatte kämpfen müssen, und dann gleich um sein Leben; vielleicht war es auch nur eine Gnade gewesen, die ihm genauso in den Schoß gefallen war wie alles andere. Sein gutes Aussehen. Seine sonnige Art. Der Schlag, den er beim anderen Geschlecht hatte.

Ihm dämmerte, wie schwierig es werden würde, das Versprechen, das sie oben bei Katya und Grischa mit einem Handschlag besiegelt hatten, auch zu halten; es wäre leichter, hätten sich vier Fremde zusammengetan. Thilo war jetzt schon müde, wenn er daran dachte, wie sie den Handel nicht nur durch die Stürme und Untiefen des Geschäftslebens steuerten, sondern auch durch die Unwetter, die sie selbst untereinander heraufbeschworen.

Eine Weile war nur das Wasser zu hören, das draußen an die Kähne und die Hafenmauer schlug. Die Rufe der Bootsleute, die Stimmen, die sich unten auf dem Kai zusammenzogen und wieder zerstreuten, das Lachen. Das Locken der Möwen, eigentümlich sehnsuchtsvoll.

Klänge, die schon den Herzschlag der Brüder begleitet hatten, bevor sie überhaupt geboren waren.

In diesem Moment fühlte sich Thilo mehr mit seinem Bruder verbunden, als Christian ahnen konnte. In seinem eigenen Begehren, das ihn manchmal nachts wach hielt, sein unruhig pochendes Herz dann eine schmerzhaft leere und erschreckend dünne Membran.

Sinnlos, darauf zu hoffen, dass sich sein Sehnen irgendwann erfüllte; ein Gefühl von Vergeblichkeit, so fahl wie das Licht eines neuen Tages.

Jenseits der Tür rief Katya zum Essen.

Christian dachte an Henny Pohl. Wie sie ihn heute Morgen im Laden angesehen hatte, verzückt und hingebungsvoll. Von einem milden, lieblichen Blau waren ihre Augen, wie Vergissmeinnicht. Anders als Katyas Augen, schillernd und durchdringend und unergründlich.

Bei Augen wie denen von Henny musste man nicht fürchten, dass sie einen verhexten. Dass man sich darin verlor.

Ein verirrter Sonnenstrahl, irgendwo von einer Fensterscheibe, einem Stück Metall reflektiert, fiel auf Christians Gesicht, und geblendet schloss er die Lider.

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