34
Die Sonne funkelte auf dem Wasser des Binnenhafens, ganz Hamburg schien zu leuchten in diesem Frühling.
Untätig dümpelten die Kähne an ihren Leinen, es war ein Sonntag. Bis auf ein paar Nachbarn, die sich zwischen Kirchgang und Familienbesuch auf einen Schnack begegneten, und den lockenden Rufen der Möwen, dem Tschilpen der Spatzen war es unten auf dem Kehrwieder still.
Die Arme im aufgekrempelten Hemd auf den angezogenen Knien abgestützt, saß Thilo vor der Luke auf dem Speicher und sah lächelnd zu, wie Katya im Schneidersitz mit einer der Katzen spielte. Ein dürrer Tigerkater mit nur einem Auge und von Krallenhieben ausgefransten Ohren.
Es schien ihm nur natürlich, Katya hier angetroffen zu haben, als er sich an seinen früheren Lieblingsplatz erinnert hatte; sie mochten oft die gleichen Dinge.
Katyas Nähe tat ihm gut, sie war Balsam für seine Wunden.
Thilo hatte gelernt, dass ein Herz nicht immer unter einem einzigen Hammerschlag brach. Manchmal kam ein Haarriss zum anderen und wuchs sich zu tiefen Sprüngen aus, die sich immer weiter verästelten, bis das Herz unter seinem eigenen Gewicht in sich zusammenfiel.
Katya hielt inne und sah zur Luke hinaus, Glanz in den Augen.
»Hier ist man dem Himmel ganz nahe.«
Thilo nickte.
»Als Junge war ich oft hier oben. Mal habe ich mir vorgestellt, ich bin auf dem Turm einer Ritterburg. Mal im Krähennest eines Schiffs, das um die ganze Welt segelt.«
Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, bevor sie sich wieder der Katze zuwandte, die maunzend Aufmerksamkeit einforderte.
Katya streckte ein Bein aus. Barfuß war sie unter ihrem Rock; ein schlanker Fuß mit schmaler Fessel, ihre Haut noch heller als Thilos. Er fragte sich, wie sich dieser Fuß in seiner Hand wohl anfühlen mochte; rasch wandte er den Kopf ab.
Katya warf einen verstohlenen Blick auf Thilo, der niedergeschlagen wirkte.
»Das muss schwer für dich sein«, sagte sie leise. »Du hast dein ganzes Leben hier verbracht.«
Thilo rieb das Kinn an seiner Schulter.
»Ich habe Vadder noch gar nicht gesagt, wie düster es für uns aussieht«, gestand er leise. »Ich will ihn noch ein bisschen schonen.«
Sein Bein plagte Arno Petersen in diesen Frühlingswochen wieder sehr; dass er sich oft übernahm, weil er mit seiner lebhaften Enkeltochter Schritt zu halten versuchte, davon wollte er nichts hören.
»Vielleicht geht doch noch alles gut aus.«
Thilo schmunzelte. »Eis habt ihr ja mehr als genug mitgebracht.«
Unbarmherzig kalt war der Winter in Norwegen gewesen. In keinem Jahr zuvor hatten sie solch dickes Eis geschnitten. Eine Tortur, bei zwanzig Grad unter null, und kaum hatten sie sich zu dem einen Ufer vorgearbeitet, war er am anderen schon wieder fest zugefroren.
Auf der Rückreise hatte die Albatros unter ihrer überschweren Last geächzt und gestöhnt, mit weitaus mehr Tiefgang als eigentlich zulässig, und seither barst das Lagerhaus an den Mühren fast aus den Nähten; sogar eine zusätzliche Fuhre Torf hatten sie benötigt.
Mit dem Mut der Verzweiflung setzten sie alles auf eine Karte.
Katya lachte auf. »Wenn schon, denn schon.«
Sie war aus Norwegen mit einer neuen Gelassenheit zurückgekehrt, mit einer Stärke, die tief in ihr zu wurzeln schien und alles an ihr zum Leuchten brachte, wie voll erblüht.
Ihre Bewegungen waren weicher geworden, fließender. Eine Anmut, die immer wieder Thilos Blicke anzog und ihn unwillkürlich zu ihr driften ließ.
Er beugte sich vor und kraulte den Kater am struppigen Bauch. Misstrauisch warf dieser ihm einen einäugigen Blick zu, entblößte sogar drohend seine abgesplitterten Eckzähne und ließ sich dann doch widerstrebend in diese Wonne fallen.
Immer wieder berührten sich Katyas und Thilos Hände, während sie mit ihrem Finger den Kater neckte, er durch dessen Fell fuhr, tauschten sie ein Lächeln.
Eine unbeschwerte Vertrautheit war das zwischen ihnen beiden.
Katya knuffte oder boxte ihn, wenn sie über eine seiner ironischen Bemerkungen lachte, oder legte die Hand auf seine Schulter, wenn sie sich mit ihm über die Geschäftsbücher beugte. Wenn er ihr in der Küche zur Hand ging, drängelten sie sich mit spielerischen Ellbogenstößen gegenseitig vom Herd oder Schneidbrett weg, und er schlug mit dem Geschirrtuch nach ihr, sobald sie beim Abwasch anpacken wollte, den er für sich beanspruchte.
Litt sie besonders unter ihren Monatskrämpfen, ließ er sich mit ihr auf dem Sofa nieder und rieb ihren unteren Rücken, bis sie vor Erleichterung seufzte. Berührungen, die auch ihm guttaten, die er auf eine merkwürdige Art sogar genoss.
Unter halb gesenkten Lidern beobachtete er, wie immer wieder ein Lachen auf ihrem Gesicht aufzuckte, während der Kater, schon halb dösig, nach ihrer Fingerspitze schnappte. Sie war ihm nie schöner vorgekommen.
Thilo hatte noch kein Mädchen geküsst. Niemanden außer Grischa.
Zart und weich war Katyas Mund unter seinen Lippen. Erst als sie zurückwich und erschrocken seinen Namen flüsterte, begriff er, was er getan hatte.
Angestrengt suchte er nach Worten und fand keine, er errötete nur.
Katyas Brauen zogen sich zusammen und glätteten sich wieder, kräuselten sich erneut. Thilos Kuss hatte sie unvorbereitet getroffen, sie wusste nicht, was sie davon halten sollte.
»Ich dachte, du und Grischa …«, begann sie zögerlich.
Falls sie es anfangs merkwürdig gefunden hatte, ihren Bruder und Thilo als Liebespaar zu sehen, dachte sie schon lange nicht mehr darüber nach. Beide waren schöne Männer, jeder auf seine Art etwas Besonderes und von starkem Charakter, warum hätten sie sich also nicht ineinander verlieben sollen.
Thilo schlug die Augen nieder und schüttelte den Kopf.
Es hatte nie ein offenes Wort über das Ende gegeben, keinen finalen Streit. Nur ein unaufhaltsames Auseinandertreiben, ein langsames Zerfasern von Gefühlen und Vertrauen. Wenn Grischa sich manchmal gegen Morgen in das Zimmer schlich, das sie nach wie vor miteinander teilten, roch er nach Frau, süßlich streng und ein bisschen fischig, und mehr noch nach schlechtem Gewissen.
Es hatte weiter Nächte gegeben, in denen Grischa zu Thilo gekommen war, mit einer fast hilflosen Zärtlichkeit, einer fragenden Leidenschaft. Ein paarmal war Thilo darauf eingegangen, weitaus häufiger hatte er ihn von sich gestoßen und aus seinem Bett geworfen.
Seine Lust war untrennbar mit seiner Liebe für Grischa verbunden, und die lag in den letzten Zügen.
Sofern überhaupt noch etwas davon übrig war.
Thilo musste nichts dazu sagen, Katya kannte ihren Bruder.
Der Kater stieß ein ungehaltenes Miauen aus.
Dieses Mal fragte Thilo zuerst. Mit seinen Augen und seinem Finger, der behutsam über ihre Wange strich.
Katyas Lider schlossen sich von selbst, vielleicht war sie schlicht neugierig.
Eindringlicher war dieser Kuss, auf ihrer Zunge wie der Duft einer Sommerwiese. Katya war erstaunt über die Wärme, die in ihr aufstieg, als Thilo sie eng an sich zog.
Fauchend sprang der Kater davon.
Nach Beeren aus einem schattigen Wald schmeckte Katya, dunkel und herb und mit nur einer leichten Süße darin.
Berauschend, und er war allzu bereit, sich daran zu betrinken.
Während sich bei anderen Frauen sichtbare Rundungen abzeichneten und ihre Kleider formten, schienen Katyas Röcke und Blusen, die Hemden und Männerhosen immer ein Geheimnis zu wahren.
Jetzt konnte er es erraten, als er sie an sich presste. Von einer schmächtigen Weiblichkeit war sie, knabenhaft schmal, und zu seiner eigenen Überraschung sprang Begehren in ihm auf.
Grischa war nichts als eine Verirrung gewesen, das verstand er jetzt. Ein Ventil für triebhafte Gier. Ein dankbares Ziel für Thilos Hunger nach Nähe und Zärtlichkeit.
Katya hätte es sein sollen, war es vielleicht auch immer gewesen, von Anfang an. Die ganzen fünf Jahre lang, seit sie unten im Laden zum ersten Mal vor ihm gestanden hatte.
Er nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände.
»Willst du mich heiraten?«
Ungläubig riss Katya die Augen auf, dann lachte sie leise.
»Nur weil wir uns geküsst haben, müssen wir doch nicht gleich heiraten.«
Thilo lachte mit, atemlos von ihren Küssen. Sein Blick wanderte über ihr Gesicht, Unsicherheit schlich sich in seine Augen; fast bang blickte er drein.
»Ich würde es trotzdem wollen. Wenn du mich denn haben magst.«
Katya schlug die Augen nieder.
Viel zu schnell, zu plötzlich kam dieser Antrag, obwohl sie sich schon lange kannten, tief vertraut miteinander waren.
Sie zweifelte, ob sie wirklich genug voneinander wussten.
»Ich bin nicht mehr unberührt«, gestand sie leise.
Thilo schluckte, versteifte sich kaum merklich.
»Christian?«, riet er.
Katya schüttelte den Kopf.
»Ein Mann in Norwegen. Diesen Winter. Ein sehr guter Freund.«
Erleichterung durchströmte Thilo. Er hatte nur eine vage Vorstellung davon, was eine Frau von einem Mann erwarten mochte; dass Katya schon Erfahrung hatte, würde es einfacher machen.
»Ich bin es ja auch nicht mehr«, erwiderte er.
Ein Lächeln spielte um Katyas Mund, als sie den Blick wieder zu ihm hob.
Thilo schätzte sie nicht geringer, nur weil sie eine Frau war. Für ihn war sie mindestens so gut, so klug, so tapfer wie irgendein Mann. In seinen Augen verdiente sie immer die gleiche Achtung, die gleiche Anerkennung, das hatte sie von Anfang an für ihn eingenommen.
Sie versuchte, sich ein Leben mit ihm vorzustellen. Mit diesem Mann, der so schön war, dass es fast schmerzte, ihn nur anzusehen. Unberührbar schien er mit seiner kühlen Schönheit, und dabei hatte er ein großes und gutes Herz, das so oft mit Katyas Herz im Gleichklang schlug.
Was könnte das anderes sein, wenn nicht Liebe?
Thilo würde ihr nie wehtun wie Christian mit seinem Wankelmut, seinem lächerlichen Mannesstolz. Ihn würde sie immer an ihrer Seite wissen. Ihr bester Freund, ihr Kamerad, in jeder Hinsicht; das musste Johann Silberberg gemeint haben, als er über eine gute Ehe sprach.
Katya legte die Hand an seine Wange. Auf wohlig wehe Art rührte es sie an, wie er mit geschlossenen Augen sein Gesicht in ihre Handfläche schmiegte.
Katyas norwegische Nächte mit Johann Silberberg waren folgenlos geblieben, beruhigend und enttäuschend zugleich. Thilos kantige Kieferlinie in ihrer Hand, konnte sie schon fast die Kinder in ihrem Bauch fühlen, die sie zusammen erschaffen würden. Kinder, in denen ein Teil von Thilo und ein Teil von Katya ineinander verschmolzen.
Wunderschöne Kinder würden es sein, gesund und stark, aufgeweckt und glücklich und aus tiefster Seele geliebt.
Katya und Thilo waren die Übriggebliebenen, verschmäht jeweils vom Bruder des anderen. Im Fegefeuer unglücklicher Verliebtheit gereift und seither naiver Jugendlichkeit entwachsen.
Letztlich vielleicht nichts als Umwege, über die sie schließlich zueinander gefunden hatten, Katya mit zwanzig, Thilo mit achtundzwanzig Jahren.
Das hier würde Bestand haben, selbst wenn ihnen sonst alles an Träumen und Hoffnungen und Plänen durch die Finger rann.
Sie küsste ihn sanft.
»Ja, Thilo. Ich will gern deine Frau sein.«