17



Einen guten und mehrere schlechte Tage von Arno Petersen später saß Thilo in seinem Kabuff hinter dem Laden über den Geschäftsbüchern. Während er mit einem Ohr zuhörte, wie Christian vorn beim Abwiegen von Salz und Zucker mit zwei Kundinnen Nettigkeiten über das Winterwetter austauschte, dachte Thilo darüber nach, wie es weitergehen sollte.

Im Laden schäumten überschwängliche Abschiedsworte auf, und in den verklingenden Tönen der Glocke erschien Christian im Türrahmen.

»Ich glaube, wir haben zwei neue Stammkundinnen gewonnen.«

»Wird auch gut sein«, brummte Thilo, noch halb in Gedanken. »Was du in der letzten Stunde an Kostproben verteilt hast, müssen wir auch erst wieder reinholen.«

»Ach komm«, wiegelte Christian leichthin ab, »so schlimm kann es nicht sein.«

Wo Christian Licht sah, sah Thilo Schatten, so war es immer schon gewesen.

»Wenn wir doch noch jemanden für Vadder ins Haus holen, werden wir den Gürtel enger schnallen müssen.«

Thilo hatte keine Ahnung, was eine Pflegerin für seinen Vater kosten mochte oder auch nur eine Hilfe, die für ein paar Stunden jede Woche kam; nicht viel, hoffte er, es gab in der Stadt immer noch genug Leute, die händeringend Arbeit suchten.

Diesen Monat würden sie es sich leisten können, die in den Häusern anstehende Weihnachtsbäckerei machte sich in der Kasse deutlich bemerkbar. Überhaupt stand das Geschäft besser da als noch vor zwei oder drei Jahren; trotzdem gab es zwischendurch Monate, in denen sie gerade so mit Einnahmen und Ausgaben hinkamen.

»Deshalb war ich so großzügig«, erklärte Christian. »Wenn die beiden regelmäßig wiederkommen, haben wir am Ende wesentlich mehr in der Kasse, als ich eben gratis verteilt habe. Ab und zu muss man eben investieren.«

Endlich hob Thilo den Blick von den Zahlen.

»Solche Investitionen muss man sich aber auch leisten können. Und ich sehe einfach nicht, dass es sich auszahlt.«

An den Türrahmen gelehnt, ließ Christian betreten den Kopf sinken.

Es war nicht ihre Schuld, dass nicht mehr aus dem Laden herauszuholen war, obwohl sie beide ihr Möglichstes taten – Christian mit Verkaufsgeschick und Charme, Thilo mit dem genauen Austarieren von Soll und Haben.

Es waren schlicht die Zeiten.

Die Brüder hatten nie ein Hamburg ohne Napoleon und das, was er davon übrig gelassen hatte, gekannt. Thilo war frisch geboren, als die Stadtväter die Wallanlagen, die die Stadt im Dreißigjährigen Krieg beschützt hatten, schleifen und die Kanonen einschmelzen ließen. In der Hoffnung, Napoleons Armee würde ein neutrales und friedfertiges Hamburg verschonen. Doch die Franzosen fielen trotzdem ein und rissen sich die strategisch günstig gelegene Stadt unter den Nagel; Christian war gerade ein paar Monate auf der Welt.

In einem Hambourg , das die Hauptstadt des Département des Bouches de l’Elbe war, lernten die beiden Jungen das Abc und das Einmaleins. Während die Handelsblockade der Franzosen die Lebenskraft der Stadt ausbluten ließ, hielt Arno Petersen seinen Laden mit den Schätzen am Laufen, die er von seinen Schmuggelfahrten ins dänische Altona mitbrachte. Kaffee, Kakao, Zucker, Pfeffer, die auf verschlungenen Pfaden von der englischen Insel Helgoland ihren Weg aufs Festland gefunden hatten. Luxusgüter, für die es immer weniger Abnehmer gab, je knapper das tägliche Brot wurde.

Bis die französischen Soldaten auch die Familie Petersen und ihre gesicherte Existenz unter ihren Stiefelsohlen zertraten.

Nachdem der französische Kaiser sich an seiner Machtgier verschluckt hatte und die fremden Befehlshaber ihre kranken und maroden Truppen aus der Stadt abzogen, war Hamburg zwar Freie und Hansestadt, aber von nur noch halb so vielen Menschen belebt wie vor Napoleon. Eine Geisterstadt war es, in der die Brüder von ungelenken Burschen zu Männern reiften, der Sumpf von Armut und Elend nie mehr als ein paar Schritte entfernt.

Wenn Arno Petersen seinen Söhnen von der reichen Handelsmetropole erzählte, die Hamburg einmal gewesen war, ein Welthafen, ehe die Franzosen die engen wirtschaftlichen Bande nach Großbritannien kappten, klang es nach einem Märchen aus einem fernen Land.

»Und wenn wir hier doch die Zelte abbrechen und woanders neu anfangen?«, kam es nach einiger Zeit leise von Christian.

Amerika. Das gelobte Land, in dem es jeder schaffen konnte, der den Willen und den Fleiß dazu hatte und vielleicht noch das nötige Quäntchen Glück.

Ein Lockruf, dem einige Hamburger in diesen schwierigen Zeiten folgten und der sich auch in das Ohr der Brüder geschlichen hatte.

»Selbst dafür braucht man Geld. Allein schon für die Überfahrt.«

»Wir haben doch das Haus.«

Unwillkürlich wanderten zwei Augenpaare, eines blau, das andere grau, zu den Deckenbalken hinauf.

Der Laden nahm das Untergeschoss eines der Vorderhäuser ein, die sich dicht an dicht die Wasserfront der Elbinsel Kehrwieder entlangzogen, mit viel Licht und Luft. Anders als die finsteren Häuser, die sich dahinter zusammendrängten und von Gängen und Gassen durchzogen waren wie ein Schweizer Käse mit Löchern.

Erst nur Pächter des Ladens, hatte der junge Arno Petersen zugegriffen, als der Besitzer ihm seinerzeit ein gutes Angebot machte. Auch der darüberliegenden Wohnung wegen, Ottilie hatte gerade eingewilligt, seine Frau zu werden, und die Einnahmen aus der Vermietung der anderen Stockwerke tilgten rasch das Darlehen, das er dafür aufgenommen hatte.

Das waren noch gute Zeiten gewesen. Jetzt stand die Hälfte der Wohnungen leer, und die Miete für die andere Hälfte kam unregelmäßig herein, falls überhaupt; die Krögers und die Willemsens hatten schon seit Monaten nicht mehr bezahlt. Immer wieder sprach einer der Brüder den anderen darauf an, ein bisschen ratlos und nur halbherzig.

In Zeiten wie diesen jemanden auf die Straße zu setzen, das brachten sie beide nicht fertig, nicht für ein paar Mark.

Abgewohnt und von der Besatzungszeit gezeichnet, zugig in steifen Brisen und feucht in manchen Ecken durch die unmittelbare Lage am Wasser, würde das Haus heute sicher nur noch einen Bruchteil von dem einbringen, was Arno Petersen vor einem Vierteljahrhundert dafür bezahlt hatte.

»Und Vadder?«, warf Thilo ein, wie immer an dieser Stelle.

Die ersten Hamburger flohen, noch bevor die Franzosen eingefallen waren, und von denjenigen, die die Vertreibung am Weihnachtstag 1813 überlebt hatten, blieben viele dort, wo sie Zuflucht gefunden hatten – in Altona, Barmbek, Wandsbek, Bremen und Lübeck. Andere folgten ihnen, aus Angst vor der Willkür der Besatzer und der Not, unter dem Druck von Sondersteuern und Zwangseinquartierungen.

Arno Petersen hatte ausgeharrt. Ein Hamburger Jung durch und durch, wäre es grausam, ihn jetzt noch zu verpflanzen, von den Strapazen der Überfahrt nicht zu reden.

Sofern man ihn überhaupt einreisen ließ, mit einem Bein nur beschränkt arbeitsfähig.

Seufzend ging Christian in die Hocke. Eine der Katzen, die die Säcke mit Mehl und Zucker oben auf dem Speicher gegen Mäuse und Ratten verteidigten, hatte sich hereingeschlichen und ließ sich von ihm unter huldvollem Schnurren das rote Fell kraulen. Abrupt stolzierte sie davon und begann, sich stattdessen unter dem Tisch an Thilos Stiefeln zu reiben, umso drängender, je beharrlicher er sie ignorierte.

»Das kann es doch nicht sein, Thilo«, sagte Christian leise in die Stille hinein.

Den Laden gerade so über Wasser zu halten und mehr schlecht als recht davon zu leben. Auch ohne eine Sturmflut wie die im Februar vor knapp drei Jahren, die fast dreitausend Häuser der Stadt hatte volllaufen lassen und die Petersens an ihre finanziellen Grenzen gebracht hatte. Die nächste hohe Arztrechnung für ihren Vater zu fürchten wie die im vergangenen Jahr, als der Doktor wucherndes Gewebe aus dem Stumpf herausschneiden musste, oder dass ihnen das Haus über dem Kopf vermoderte.

Zu jung, um sich damit abzufinden, sprachen sie oft genug darüber.

»Nein«, stimmte Thilo genauso leise zu, »das kann es wirklich nicht sein.«

»Dann muss sich etwas ändern.«

Christian schnellte in die Höhe, nahm den Besen in der Ecke und begann, den Boden zu fegen, während er halblaut darüber nachdachte, was sie alles besser machen könnten, um das Geschäft in Schwung zu bringen.

Thilo hatte sich schon über die scheinbare Ruhe seines Bruders gewundert, der sonst kaum je still stand oder saß. Selbst wenn über Stunden hinweg keine Menschenseele den Laden betrat, war er damit beschäftigt, Gläser gerade zu rücken oder umzustellen, zum wiederholten Mal die langgestreckte Toonbank abzuwischen und die Waage blank zu polieren.

Hektisch war Christian nie dabei, er schien nur gern in Bewegung zu sein; vielleicht, weil er als kleiner Junge so lange im Fieber gelegen hatte, dachte Thilo manchmal. Eine Eigenschaft seines jüngeren Bruders, die den ungleich bedächtigeren Thilo oftmals nahezu in den Wahnsinn trieb.

»Wenn wir mit Zwirn und Rosinen zu wenig verdienen«, erklärte Christian, während er in konzentrierten Schwüngen den Besen aus dem engen Raum hinausführte, in den Laden hinüber, »als dass es für ein gutes Leben reicht, sollten wir uns überlegen, ob …«

Die Regale, Kisten und Fässer im Laden dämpften seinen Wortfluss zu einem unverständlichen Gemurmel, schließlich verschluckte das energische Scheppern der Türglocke Christians Stimme völlig.

Seufzend griff sich Thilo die Jacke von der Stuhllehne und folgte seinem Bruder nach draußen.

Kähne dümpelten im Wasser des Binnenhafens, und Arbeiter hievten Säcke auf den Kai. Zwei Frauen, warm in ihre Schultertücher eingeschlagen, standen zum Klönen zusammen, und eine Horde abgerissener kleiner Jungen rannte johlend an ihnen vorüber, bevor sie sich einer nach dem anderen in einen engen Durchlass zwischen den Häusern fädelten.

»Wir könnten uns spezialisieren«, schlug Christian vor, während er den pudrigen Neuschnee vor dem Laden zusammenfegte. »Moin, Frau Hansen.«

Die hagere Frau, das Gesicht unter der Haube von Gram zerfurcht, nickte grüßend.

»Schau dir doch an, bei wem am meisten los ist. Wer die guten Geschäfte macht.«

Christian hielt inne und deutete den Kehrwieder hinauf und hinunter.

»Diejenigen, die ein ganz klar umrissenes Sortiment anbieten. Anstatt von allem etwas wie wir in unserem Krämerladen.«

Sowohl vor dem Kolonialwarenladen als auch beim Bäcker herrschte reges Kommen und Gehen. Während Christian weiter mit dem Besen Schneehäufchen zusammenschob, dachte Thilo darüber nach, ob es sich unter dem Strich wirklich mehr lohnte, mit Tabak, Reis und Tee zu handeln, mit Safran und Muskat, mit Brot und Kuchen und Hörnchen.

»Moin, Christian«, riefen zwei Mädchen wie aus einem Mund, einander auch zum Verwechseln ähnlich mit ihren frischen Gesichtern, dem hellen Haar, den hellen Augen.

»Moin, Clara«, grüßte Christian zurück. »Moin, Emilie.«

Sein Augenzwinkern, das der einen, der anderen oder beiden zugleich gelten mochte, ließ die Schwestern Bekedorp strahlen, während sie leichtfüßig weitergingen und dabei den vollgepackten Korb zwischen sich schwenkten.

Lediglich in seinem Hemd, schien Christian die Kälte nicht zu spüren, die ihren Atem zu Nebelschwaden formte. Als ob er mit jedem Besenschwung überschüssige Energie verbrannte; kein Wunder, dass er nur aus Sehnen und schlanken Muskelsträngen bestand.

Thilo zog die Jacke enger um sich und verschränkte die Arme.

»Was ist falsch an Mehl und Erbsen?«

Christian lachte auf, ein weiches, warmherziges Lachen.

»Nichts, Thilo. Außer, dass die Leute das überall kaufen können und auch woanders hingehen, sobald du mehr dafür haben willst oder ihnen deine Nase nicht mehr gefällt. Spätestens wenn ein neuer Laden aufmacht, der näher an ihrer Wohnung liegt.«

»Was schwebt dir stattdessen vor?«

Christian zuckte mit einer Schulter. »Am besten etwas, das sonst keiner hat.«

»Und was soll das sein?«

Christian richtete sich auf und stützte sich auf den Besenstiel.

»Letzten Endes ist es vielleicht nicht einmal besonders wichtig, was wir verkaufen wollen. Sondern, wie wir es tun. Indem wir für unsere Ware den passenden Markt ins Auge fassen. Und wenn die Nachfrage noch nicht da ist, dann schaffen wir eben eine, mit zündenden Argumenten. Das ist alles nur eine Frage der Strategie.«

Sein Blick fiel auf die Eiszapfen, die sich am Ladenschild über ihren Köpfen gebildet hatten. Er ließ den Besen fallen und sprang hoch, um einen davon abzubrechen und mit einem übermütigen Funkeln in den Augen seinem Bruder hinzuhalten.

»Wenn du es schlau genug anstellst, kannst du bestimmt auch Eiszapfen an Eskimos verkaufen.«

Die Hände in den Hosentaschen, schlenderte Grischa durch die Straßen.

Über den Herbst war er schon ein paarmal in Hamburg gewesen, allerdings immer nur für wenige Stunden. Das erste Mal gleich nach der diesjährigen Walsaison, auf einem Frachter, der Holz aus den norwegischen Wäldern für Hamburg geladen hatte. Noch ehe der Laderaum komplett leer gewesen war, hatte er auf einem friesischen Fischkutter angeheuert, dessen Maat irgendwo in den Schänken der Stadt verschüttgegangen war.

Kapitän Friedrichs, der Pfeifenstiel wie zwischen seinen Lippen verwachsen, hatte dann gefragt, ob Grischa weiter für ihn fahren wollte, und Grischa war mit seinem Seesack in Friesland geblieben.

Viel Geld war mit diesen Pendelfahrten zwischen den Inseln und Hamburg nicht zu machen, weniger sogar als mit den Winterfellen der Polarfüchse Spitzbergens, aber Grischa mochte die Arbeit unter den Fischern. Den wortkargen Menschenschlag, der lieber handelte, als zu reden, und dessen Warmherzigkeit erst nach und nach hinter stoischer Brummigkeit zum Vorschein kam.

Grischa gefiel es auf den sandigen und windumtosten Inseln, die das Wasser eher zufällig zu verschonen schien, wenn es sich bei Flut schnaufend und prustend zusammenzog. Vielleicht fühlte er sich dort wohl, weil es Wolfs Heimat war; eine wohlige Nostalgie, die jedoch nicht so weit reichte, ihn auf Sylt aufzusuchen.

Ein guter Grund, um eine Weile dortzubleiben, war sicher auch Hauke, der an jenem Abend im Dorfkrug nur auf Grischa gewartet zu haben schien. Schweigsam selbst für einen Friesen, lang und dünn wie eine Pappel und genauso flaumbedeckt, war der Bootsbauer unter vier Augen so rau wie das Meer seiner Heimat.

Mit dem Winter kroch jedoch eine Unrast unter Grischas Haut, die ihn schließlich von Haukes reetgedeckter Kate fortlockte. Für ein paar Tage, ein paar Wochen, das wusste er selbst noch nicht.

Dieses Mal nahm er sich Zeit für Hamburg, und was er bisher von der Stadt gesehen hatte, gefiel ihm, auch wenn noch immer zu erkennen war, wie sehr sie im Krieg gelitten hatte.

Eine Stadt des Wassers wie Venedig, hatten Seeleute ihm erzählt, und obwohl sie Venedig genauso wenig mit eigenen Augen gesehen hatten wie Grischa, begann er zu ahnen, was sie damit gemeint hatten. Zwischen Alster und Elbe, von einem Netz aus Fleeten miteinander verbunden, schien auch Hamburg eine schwimmende Stadt zu sein, eine Stadt der Brücken.

Ein Riese war Hamburg, von einer Armee aus Ratten mit Zähnen und Klauen attackiert und zu Fall gebracht, der sich nur langsam wieder aufrappelte. Mit tiefen Wunden, dem einen oder anderen gebrochenen Knochen, der nicht recht heilen wollte, aber von unbezwingbarem Willen.

Es war der Wind, der Grischa am meisten für Hamburg einnahm. Aus Nord und Süd, Ost und West schienen die Brisen zu kommen, die sich hier kreuzten, am Mittelpunkt eines Himmelskompasses. Und doch war es immer unzweifelhaft ein Meereswind, unberechenbar und turbulent. Ein Wind, der Veränderung in sich trug, etwas Neues versprach.

Seine Unruhe mochte auch damit zusammenhängen, dass seine Flucht aus der Leibeigenschaft fünf Jahre her war. Seit dem Frühling konnte er sogar wieder russische Häfen anlaufen, ohne die Krallen des Gesetzes fürchten zu müssen. Jetzt, mit achtzehn Jahren, war er wirklich frei, jetzt stand ihm die ganze Welt offen.

Dafür war er nach Hamburg gekommen. Um durch die Stadt und ihren Hafen zu streifen und Ausschau nach einer lohnenden Arbeit zu halten. Nach einem guten Geschäft, das nur auf ihn wartete.

Sein Blick traf sich mit den blau strahlenden Blicken zweier Mädchen, goldene Haarflechten unter ihren Hauben, die Gesichter von samtiger Jugend.

Hamburg hatte wirklich die hübschesten Mädchen. So viele davon, dass sogar eine ganze Straße nach ihnen benannt war, der Jungfernstieg.

Nach den langen Monaten auf See, nach Hauke, hatte er für den Moment genug von harten Muskeln, harten Schwänzen, er sehnte sich nach weichen Rundungen. Nach der Anschmiegsamkeit einer Frau, deren Schoß ein solches Geheimnis barg.

Grischa lächelte und deutete eine Verbeugung an. Die Wangen der Mädchen röteten sich, hin- und hergerissen zwischen dem, was sich schickte, und der Aufmerksamkeit des fremden Burschen.

Ein Kichern perlte zwischen ihnen auf.

»Wenn du es schlau genug anstellst, kannst du bestimmt auch Eiszapfen an Eskimos verkaufen.«

Die Mädchen waren vergessen.

In diesem einen Augenblick ergab alles einen Sinn.

Katyas sture Beharrlichkeit, mit der sie ihm ein ums andere Mal auseinandersetzte, dass mit Eis Geld zu machen sei, viel Geld. Das Gerede, das unter Seeleuten umging, von einem verrückten Amerikaner, der Eis unter Palmen verkaufen wollte, sogar durch Bankrott und Schuldgefängnis nicht von seinem Vorhaben abzubringen. Gedanken, die nicht aufhörten, an ihm zu nagen, obwohl er sie immer wieder als unsinnig abgetan und beiseitegeschoben hatte.

In Friesland war er oft über den Strand hinausgewandert, bei Ebbe, wenn das Watt trockenfiel. Sobald die Grenze zwischen Land und Meer verschwamm und sich auflöste, schien es, als würde weit hinten am Horizont etwas auf ihn warten, das sich jedoch nie zu erkennen gab.

Jetzt konnte er es sehen, in Gestalt zweier junger Männer vor einem Laden, von denen der eine skeptisch den Eiszapfen in der Hand des anderen betrachtete.

»Die Eskimos brauchen kein Eis«, sagte Grischa, als er zu den beiden trat. »Davon haben sie selbst genug. Aber in anderen Teilen der Welt, die keine Winter kennen, lässt es sich verkaufen.«

Zwei Augenpaare musterten ihn, die sich in ihrer schmalen Form verblüffend glichen; damit hatte sich die Ähnlichkeit zwischen ihnen aber auch schon erschöpft.

Fast einen Kopf kleiner als Grischa, war der eine sehnig und spürbar energiegeladen, sein Gesicht mit der markanten Nase kühn, fast verwegen. Die durchdringenden blauen Augen darin blitzten belustigt; einer dieser Burschen, die bei Frauen leichtes Spiel hatten und mit anderen Männern schnell gut Freund waren. Niemand, den man zum Feind wollte; in seinen Zügen lag eine Schärfe, an der man sich den Finger ritzen konnte.

Der andere war genauso groß gewachsen wie Grischa, vielleicht noch eine Spur größer, aber schlanker gebaut. Trotzdem immer noch beeindruckend breitschultrig, hielt er sich mit der Kraft starker Muskeln aufrecht. Gegen das Dunkelblond seines Bruders wirkte sein Haar ausgeblichen, fast weiß, die Brauen und Wimpern wie Eiskristalle über den kühlgrauen Augen.

Wie aus hellem, glattem Stein geschaffen sah er aus. Ein Stein, der sich unter der Hand warm anfühlen mochte und so weich war, dass sein Schöpfer mühelos und präzise ein eckiges Kinn hatte herausschneiden können, eine kantige Wangenlinie; ein markiges Profil von absoluter Vollkommenheit.

Grischa konnte nicht aufhören, ihn anzustarren, während die feine Röte, die in das Gesicht des jungen Mannes kroch, verriet, dass er sehr wohl aus Fleisch und Blut war.

Grischa riss sich zusammen und streckte ihm die Rechte entgegen. »Grischa.«

Christian gefiel Grischas zupackende Zielstrebigkeit, die seiner eigenen glich, auf Anhieb. Während Thilo noch zögerte, ergriff er stattdessen die ausgestreckte Hand.

»Christian Petersen. Mein Bruder Thilo.«

Thilo wusste nicht recht, was er von diesem draufgängerischen Burschen halten sollte, der sich ungefragt und besserwisserisch in ihr Gespräch eingemischt hatte. In einem Deutsch, das tief aus seiner Kehle kam, mit teils russischem, teils skandinavischem Akzent rollte und rumpelte.

Er mochte siebzehn Jahre alt sein oder siebenundzwanzig, genauer ließ sich das Adlergesicht nicht einordnen, mit dem schief stehenden Zahn gleichermaßen wild und jungenhaft. Seine Haut war sogar jetzt, im Winter, leicht gebräunt, vielleicht hatte er auch von Natur aus eine kräftigere Hautfarbe zu seinen dunklen Augen, dem dunklen Haar.

Seine zweireihige Jacke aus schwerem dunklem Wollstoff war die der Seeleute und der Marine, aber der Bart, der Mund und Kinn umschloss, war nicht der eines Seebären, sondern kurz getrimmt und gepflegt. Und in seinen sichtlich teuren Stiefeln konnte man sich spiegeln.

Diesen Grischa konnte er nicht recht greifen, daran störte sich Thilo.

»Bei uns in Deutschland stellt man sich mit dem Nachnamen vor«, hörte er sich selbst sagen.

Grischa zog eine Braue hoch. Unerträglich arrogant wirkte Thilo Petersen, und doch flackerte es dabei unsicher in seinen grauen Augen. Als ob er nicht wüsste, was für ein schöner Mann er war, oder sich sogar dafür schämte.

»Grigori Jakovlewitsch Voronin«, leierte Grischa herunter. »Achtzehn Jahre alt. Ursprünglich vom Ladogasee im russischen Karelien. Inzwischen in Tromsø, Norwegen, mehr oder weniger sesshaft. Seit zwei Tagen in Hamburg, im Gasthaus Schwarzer Elefant.«

Thilo wusste, wann man sich über ihn lustig machte. Und auch, wann er es sich selbst zuzuschreiben hatte. Bis unter die Haarwurzeln lief er rot an, während er weiterhin stur Grischas Hand ignorierte.

Lachend warf Christian den Rest des schmelzenden Eiszapfens weg und hob den Besen vom Boden auf; frische Schneeflocken schwebten durch die Luft.

»Willst du auf einen Kaffee reinkommen?«

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