39



Mit verschränkten Armen lehnte Christian am Fenster von Katyas Zimmer und beobachtete, wie das letzte Licht des Tages erlosch.

Alle Schätze Indiens lagerten dort draußen auf ihrem Schiff. Als gemachte Leute würden sie nach Hause zurückkehren, und umso quälender empfand er die Leere in sich.

Ihm graute davor, morgen in der Frühe schon wieder in See zu stechen, kaum dass die letzten ihrer gekauften Waren verstaut sein würden, der Proviant und das Trinkwasser.

Er würde gern noch bleiben. Mehr von der Stadt sehen. Von ihren Menschen, dem Leben hier, in das sie heute für so viele Stunden eingetaucht waren und das doch nur in Bruchteilen von Augenblicken an ihm vorübergezogen war.

Der harte Kontrast zwischen Sonne und Schatten, der Farben beinahe schmerzhaft intensiv leuchten ließ, neue Töne und unbekannte Gerüche hatten ihn hungrig nach mehr zurückgelassen.

Ein Hunger, der auch mit Katya zu tun haben mochte. Wie sie sich über den Basar hatte treiben lassen, mit wachem Blick, offenen Sinnen alles um sich herum in sich aufzusaugen schien.

Christian musste sich nicht nach ihr umdrehen, ihre Anwesenheit füllte spürbar den ganzen Raum.

Wo sie war, ob im Eis Norwegens oder der Sonnenglut Indiens, war auch das Leben, war Schönheit.

Christian begann zu ahnen, wie es sein musste, einen Menschen zu finden, den man bei der Hand nehmen und auch nicht mehr loslassen wollte, um lachend mit ihm in die Welt hinauszustürmen und in langen Sprüngen nach dem Himmel zu greifen.

Wenn er schon die Zeit nicht zurückdrehen konnte, so wünschte er sich, sie möge wenigstens stehen bleiben, an diesem einen Tag heute.

Obwohl er verstand, dass sie sich um alles kümmern mussten, was in Hamburg auf sie wartete. Schulden galt es zurückzuzahlen und zu sehen, was der Verkauf in London eingebracht hatte. Ihren nächsten Winter in Norwegen zu planen, vielleicht ein eigenes Schiff zu kaufen.

Sein Vater wartete auf ihn. Sein kleines Mädchen. Und Henny.

Vielleicht mit ein Grund, weshalb er gern länger hiergeblieben wäre; sein einziger Trost war, dass sie zurückkehren würden, in knapp einem Jahr, mit neuem Eis.

Die Beine unter den Rock ihrer norwegischen Tracht gezogen, saß Katya auf einem der Bodenkissen und starrte auf die Teller und Schälchen, die die Wirtin auf dem niedrigen Tisch angerichtet hatte; ein winziges Weiblein mit einem Gesicht wie eine Dörrpflaume über ihrem bunten Sari.

Seitdem warteten sie auf Grischa und Thilo.

Im verlockenden Duft der fremdartigen Speisen trieb eine dunkle Ahnung in Katya herauf, ihr Magen krampfte sich zusammen.

»Sie werden nicht mehr kommen«, flüsterte sie heiser.

Christian löste sich von der Wand.

»Dann fangen wir ohne sie an.«

Er ließ sich auf dem Kissen neben Katya nieder.

Im flackernden Schein der Öllämpchen sah sie bedrückt aus, vielleicht war sie auch nur erschöpft. Die lange Zeit auf See und der Wirbel der letzten beiden Tage hatten auch an ihm gezehrt.

Eine unbestimmte Scheu hielt ihn davon ab nachzufragen. Wie sie jetzt zueinander standen, schien ihm so fragil wie neues Eis, er wollte nichts davon zerbrechen.

Stattdessen begann er, über ihre Reise zu reden und über ihre spontane Auktion am Strand. Er freute sich an ihrem Lachen und wie lebhaft sie mit ihm kühne Pläne für den Handel mit Eis entwarf.

»Ich hatte dir doch gesagt, dass wir dich brauchen«, neckte sie ihn.

Um seinen Mund zuckte es. »Ich wusste nicht, ob es auch gelingen würde.«

Er zögerte, plötzlich ernst.

»Ich habe es nicht nur für die Firma getan.«

»Ich weiß«, erwiderte sie.

Dass er das Bedürfnis hatte, ihr das zu sagen, bedeutete ihr noch einmal so viel.

Christian stieß ein kleines Lachen aus und schüttelte belustigt den Kopf.

Wechselseitig machten sie sich auf besondere Leckereien aufmerksam und rätselten über die fremdartigen Zutaten, die exotischen Früchte und Gewürze, und immer wieder spürte er Katyas Augen auf sich, forschend und fragend.

Als wäre er ein Fremder, den sie gerade erst kennenlernte.

Für Katya war es seltsam, hier mit Christian zu sitzen. Seltsam und schön; er machte es ihr leicht und lenkte sie von ihren Befürchtungen ab, indem sie plauderten und scherzten, Tee tranken und mit den Fingern aßen.

Und trotzdem drängte sich ihr immer wieder der Gedanke an Thilo und Grischa auf.

Christian stellte das Schälchen in seiner Hand ab und fasste sie behutsam beim Arm.

»Geht es dir nicht gut?«

Katyas Blick verlor sich zwischen den noch immer halb vollen Schüsseln; irgendwann musste sie es ja auf den Tisch bringen.

»Thilo und ich haben uns verlobt.«

Wie er sich neben ihr versteifte, verriet ihr, dass Thilo noch nicht einmal seinem Bruder davon erzählt hatte, im Vertrauen, irgendwann in all den Monaten. Sie fragte sich, ob Thilo es überhaupt ernst gemeint hatte, und es versetzte ihr einen Stich.

Christian schluckte.

»Ich dachte, du und Johann Silberberg …«, sagte er, um überhaupt etwas zu sagen, und sprach dann überhastet weiter. »Ich habe euch einmal gesehen. Draußen, in der Nacht. In unserem ersten Winter in Norwegen.«

»Johann?«, erwiderte sie weich. »Nein. Nicht auf diese Weise.«

Ihr Lächeln wirkte rätselhaft, erzählte eine eigene Geschichte.

Dann erst traf es Christian mit ganzer Wucht.

Es war noch nicht einmal Eifersucht oder Neid, nur blanke Pein.

Für einen Augenblick schloss er die Lider. Auf eine merkwürdig verdrehte Weise hatte er geglaubt, Katya würde immer da sein. Als ein Ziel für seine unerfüllbare Sehnsucht. Ein Traum, den er als junger Mann gehabt und achtlos weggeworfen hatte, aber nie vergaß und insgeheim immer wieder dazu zurückkehrte. Sein Widerpart, an dem er sich mit fast schon lustvoller Hingabe reiben konnte, bis sie beide Funken schlugen.

Jetzt musste er sie loslassen.

Er öffnete die Augen und zwang sich zu einem Lächeln, das erstaunlich echt geriet, im Einklang mit seinen Worten.

»Du hättest keinen besseren Mann finden können. Mein Bruder keine bessere Frau. Ich wünsche euch alles Glück der Welt.«

Katya blinzelte.

Sie hatte mit Widerspruch gerechnet, einer beißenden Bemerkung, wenigstens Gleichgültigkeit. Nicht mit dieser aufrichtigen Herzlichkeit, die sie nicht nur verwunderte, sondern geradezu enttäuschte. Es tat sogar ein bisschen weh.

Falsch war es, so zu fühlen. Wie sich an diesem Abend alles falsch anfühlte.

Thilo. Grischa. Christian. Sie selbst.

Nachdem ein paar Stunden zuvor alles noch so vollkommen gewesen war.

Sie hatten ihr Geschäft mit dem Eis zum Erfolg geführt, aber menschlich hatten sie aneinander versagt.

»Hast du mich je wirklich geliebt?«, fragte sie leise.

Christian sah zum Fenster, ein winziger Ausschnitt aus der weiten Nacht.

Vielleicht war es gerade die Tropenschwüle, die umso mehr nach Klarheit verlangte. Der Märchenzauber des Orients, der mit seinen fremden Gerüchen, fremden Klängen und Stimmen die Sinne verwirrte.

Vielleicht war es auch schlicht der richtige Zeitpunkt, um ehrlich zu sein.

»Du warst das erste und einzige Mädchen, in das ich je verliebt war«, erwiderte er, seine Stimme wie aufgeschürft. »Ich brachte nur die Geduld nicht auf, um darauf zu warten, ob aus dieser Verliebtheit irgendwann Liebe würde. Das werde ich immer bereuen.«

Katyas Augen weiteten sich, fast wund wirkten sie in ihrem Blau. »Du hast nie etwas dergleichen gesagt.«

Christian schüttelte den Kopf, einen schmerzvollen Ausdruck auf dem Gesicht.

»Ich konnte nicht. Im Nachhinein, älter und vielleicht auch klüger, klingt es nach einer schwachen Ausrede. Aber ich konnte es einfach nicht.«

Katya tunkte die Finger in das Schüsselchen mit Wasser und rieb sich dann die Hand trocken. Eine Tätigkeit, die ihr ein wenig Zeit verschaffte, um ihren Mut zu sammeln.

»Hast du deshalb Henny geheiratet?«

Christian atmete tief durch, ohne dass es ihm Erleichterung brachte. Die Last auf seiner Brust war zu schwer.

»Auch das werde ich immer bereuen. Dass ich mir so bereitwillig den Kopf von ihr verdrehen ließ und mich dann blindlings in diese Ehe stürzte. Es ist schrecklich, das zu sagen, das weiß ich. Weil sie ein guter Mensch ist. Eine gute Ehefrau. Und weil wir Jette haben. Trotzdem wünschte ich, ich hätte sie nicht geheiratet.«

Er wollte weitersprechen, stockte dann aber. Erst ein paar Herzschläge später gelang es ihm, neu anzusetzen.

»Henny gab mir damals das Gefühl, gut genug zu sein. Ein ganzer Kerl. Albern und unsinnig, das sehe ich heute. Aber ich hielt es einfach nicht aus, wie schwach und hilflos ich mich bei dir fühlte. Wie klein.«

Katya runzelte die Stirn.

»Wo soll man das sonst sein können, wenn nicht bei einem Menschen, den man liebt?«

Unter halb gesenkten Lidern beobachtete sie das Lächeln, das über Christians Gesicht wanderte, wehmütig und ein bisschen traurig.

»Das weiß ich heute auch.«

Katya senkte den Kopf und ließ das Tuch durch ihre Finger gleiten.

Sie musste an den Gaukler am Strand denken, der Christian gestern gewesen war und der doch in jedem Augenblick unter seinen Späßen etwas Ernsthaftes gehabt hatte. Dieser Sonnenstrahl, der trotzdem tief im Boden verwurzelt schien.

Wie sie ihn heute auf dem Basar erlebt hatte, von einer staunenden Neugierde auf dieses fremde Land. Ihr gefiel die Art, wie er um die schönen Stoffe feilschte, die sie hatte haben wollen, um die Federn und das wunderbare Leder. Mit einer freundlichen Bestimmtheit, Schalk in den Augen, einen Scherz auf den Lippen. Unnachgiebig hatte er verhandelt, aber nicht bis zum Äußersten, sodass am Ende beide Seiten in dem Gefühl auseinandergingen, ein gutes Geschäft gemacht zu haben.

War es immer so, dass sich in der Fremde der Blick auf jemanden änderte, den man zu kennen glaubte?

Christian hatte an Tiefe gewonnen über die Jahre; vielleicht war diese Tiefe auch schon immer da gewesen, er sträubte sich nur nicht mehr dagegen.

Wenn sie zwischen dem Christian damals und dem heute wählen müsste, würde sie sich für den entscheiden, der jetzt neben ihr saß; leicht zu sagen, im Nachhinein, da nichts mehr ungeschehen zu machen war.

Auf jeden Fall ein seltsamer Gedanke an diesem seltsamen Abend, der ihren Herzschlag aus dem Takt brachte.

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.

Zittrig hoben die ersten Zikaden an zu singen. Sonst war nur das Meer zu hören, das mit jeder heranschäumenden und wieder zurückgleitenden Welle eine Ahnung von Vergänglichkeit mitbrachte.

Ein Gefühl von Verschwendung – an Jahren, an Gefühlen, an Leben.

Vielleicht waren manche Menschen früher bereit für die Liebe, manche später, andere nie. Und es war niemandes Schuld, wenn sich zwei begegneten, von denen der eine schon weiter war als der andere.

»Wirst du mir je verzeihen können? Wie sehr ich dich verletzt habe? Was ich alles an hässlichen Dingen gesagt habe?«

Offen war sein Blick, fast so weit wie der Ozean.

Eine Frage, die für Katya jenseits von Ja oder Nein lag, so lange sie auch darüber nachdachte.

Sie konnte nur antworten, indem sich ihre Hand auf seinen Nacken legte und sanft über die feinen Härchen dort strich. Indem sie sich irgendwann an ihn schmiegte, während er die Arme um sie schloss wie um eine Kostbarkeit.

Arm in Arm hatten sie sich auf den Kissen ausgestreckt. Im Flüsterton holten sie hervor, was sie alles voreinander verborgen gehalten hatten, an Gedanken und Gefühlen und Geheimnissen.

Nicht, um das zu kitten, was zwischen ihnen zerbrochen war, vor Jahren schon; für diese Art von Verliebtheit hatten sie nichts mehr übrig.

Sie wollten herausfinden, ob seit damals nicht doch etwas zwischen ihnen gewachsen war. Versengt von zornigen Blicken, beschnitten von scharfen Worten. Begraben unter Eis und Schnee, was jetzt, in dieser Tropennacht, zu schmelzen begann.

Ob es nicht etwas war, das sie wieder dazu bringen konnten, auszutreiben und zu blühen. Wenn sie nur achtsam genug waren.

Für alte Erinnerungen war kein Platz, zu verlockend war der Gedanke an das Neue.

»Wir könnten hierbleiben«, sagte Christian leise. »Den Handel von hier aus führen. Ein neues Geschäft gründen, mit Waren aus Indien.«

Katya lauschte in die Tropennacht hinaus, die Sonne noch tief unter ihrer Haut, der Geschmack ungewohnter Aromen auf der Zunge. Zum Bersten angefüllt mit den Farben und der überbordenden Lebendigkeit von Madras und ein unbestimmtes Sehnen nach mehr hinter ihrem Brustbein.

Der Gedanke war verlockend, sich dieses Mehr einfach zu holen, blind und selbstsüchtig und rücksichtslos.

Feige wäre es jedoch und grausam; man konnte nicht einfach abschütteln, was zu einem gehörte.

»Wir können nicht hierbleiben«, widersprach Katya. »Du hast Frau und Kind zu Hause. Und ich habe einen See in Norwegen.«

Einige Zeit starrte Christian an die Decke hinauf, in die tanzenden Schatten der Öllichter.

Eine Scheidung war etwas für Künstler und feine Leute, die über den Dingen standen. Nicht für die braven Bürger auf dem Grasbrook, gleich, ob arm oder betucht. Nicht einmal, wenn der Mann trank und prügelte oder die Frau sich als zänkischer Drachen entpuppte und ihrem Gatten Hörner aufsetzte.

Sich scheiden zu lassen kam einer Schande gleich; schon beim Gedanken daran drehte es Christian den Magen um.

Heinrich Pohl würde ihm das nie verzeihen, so gut kannte Christian seinen Schwiegervater. Von ihm würden sie kein Schiff mehr bekommen, vielleicht von keinem Makler mehr, der mit den Pohls bekannt war.

Am Ende würde Christian sich womöglich zwischen seiner Freiheit und der Firma entscheiden müssen.

»Ich weiß nicht, wie ich da mit heiler Haut herauskommen soll.«

»Das wirst du nicht. Es wird hässlich und schmerzhaft werden. Für alle. Aber wir werden es auch alle überstehen. Irgendwie.«

»Wirst du da sein? Danach?«

Das Gesicht an seiner Brust, den Schlag seines Herzens unter ihrer Wange, horchte Katya in sich hinein.

Sie wusste nicht, ob sie ihm schon so weit traute. Sie wusste nicht einmal, was sie für ihn empfand.

Nur dass sie es wagen wollte, ihn in ihre Nähe zu lassen, das wusste sie sicher.

Ihre Finger verflochten sich mit seinen, und ohne einander in die Augen zu sehen, lächelten beide bei diesem stummen Versprechen.

Im Silberlied der Zikaden und dem Atem des Meeres, während die Nacht, bewegt und lebendig, über sie hinwegstrich.

»Glaubst du, eine einzige Nacht kann das ganze Leben verändern?«, raunte Christian.

»Vielleicht ist es die Nacht, die Veränderungen erst sichtbar macht«, wisperte Katya zurück.

Solange es über Madras noch dunkel war, gehörte die Welt ihnen allein.

Sie stahlen sich ihr Glück, zwei Diebe in der Nacht.

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