13



Mit dem Herbst kehrte allmählich wieder Ruhe in Tromsø ein. Die Beute des letzten Walfängers und die der Nordmeerfahrer war verkauft, verladen und verschifft, und einer nach dem anderen verließen die Händler die Stadt.

Der Schnee zog von den Bergen herunter an die Küste, und die Nächte dehnten sich aus. Bis nur noch ein paar Stunden klaren Winterlichts blieben, zwischen dem dunstigen Blau des langen Morgens und der frühen Dämmerung bald nach der Mittagszeit.

Zeit für Katya und Silja Guðmundsdóttir, das Bettzeug durchzusehen, über den Sommer von Dutzenden von Männerleibern strapaziert, zu flicken, was sich noch lohnte, und neu zu nähen, was ersetzt werden musste; buckelige Matratzen stopften sie wieder stramm, füllten Kissen und Decken mit frischen Federn.

Jetzt war es Katya, die im Schein der Lampen am knisternden Kaminfeuer vorlas. Aus dem Neuen Testament, mehr noch aus Sagen und Epen des Nordens, von Göttern und Helden und kämpferischen Frauen. Geschichten von derselben grausamen Schönheit wie das Reich zwischen Feuer und Eis und dem rauen Meer, von dem sie erzählten.

Manchmal stockte Katya noch, gewann aber zunehmend an Sicherheit, während Silja Tischtücher säumte und bestickte oder an einem neuen Rock stichelte und Katya zwischendurch sanft verbesserte und auf ihre Fragen antwortete.

Von Grischa, im Eis des Polarwinters auf Spitzbergen eingeschlossen, sprachen sie nie.

Ihre einzigen Gäste waren die Jäger. Verwitterte und wortkarge Männer, die für ein oder zwei Nächte haltmachten, um noch einmal ein Bett und Hausmannskost zu genießen und in der Stadt Proviant und Munition einzukaufen, bevor sie auf das Festland übersetzten und den Fährten der Rentierherden folgten.

Als auch der Letzte von ihnen sich in die Wildnis aufgemacht hatte, zog Johann Silberberg ein. Ein nicht besonders großer, kerniger Mann mit verschmitzten braunen Augen. Nicht mehr ganz jung, aber auch noch nicht alt, obwohl sein Gesicht an eine vom letzten Jahr übriggebliebene Kartoffel erinnerte und sein ungebärdiger Haarschopf an den Schläfen das erste Grau zeigte.

Mit nicht viel mehr Gepäck angereist als die Jäger mit ihren Rucksäcken, hatte dieser neue Gast in seinem Zimmer in nur einer Nacht ein heilloses Durcheinander angerichtet. Seufzend sammelte Katya die Hemden und die Wollsocken auf, mehr zweckmäßig als kunstfertig gestopft. Die beschriebenen Papierbogen, die sich überall im Raum verteilten, würde sie wieder genauso zurücklegen, sobald sie darunter Staub gewischt, das Bett gemacht, den Boden geschrubbt hatte.

Es war unmöglich, die wundersamen Blumen zu ignorieren, die auf diesen Seiten prangten. Von einer betörend fremdartigen Schönheit, hatten sie für Katya dennoch etwas Vertrautes. Ihr Blick saugte sich an der Handschrift dazwischen fest. Nicht leicht zu entziffern für Katya, bisher nur am gedruckten Wort geübt, und doch sprangen ihr einzelne Wörter ins Auge.

Schnee. Eis.

Auf Deutsch. Mit die ersten Wörter dieser Sprache, die sie gelernt hatte, nachdem Grischa sie im September von seiner Fahrt auf dem Walfänger mitgebracht hatte.

Die Stirn angestrengt gefurcht, versuchte Katya, mehr aus dem Blatt in ihrer Hand herauszulesen. Andere deutsche Wörter, die sie vielleicht schon kannte, oder solche, die sie aus dem Dänischen entschlüsseln könnte.

Schwungvoll öffnete sich die Tür, und im Luftzug flatterte die Flut beschriebener Blätter im Zimmer auf. Schneeflocken auf seiner Jacke und im Haar, weiße Krusten an seinen Stiefeln, sah der Gast sie fragend an, und Katya wurde glutrot.

»Entschuldigen Sie, Herr Silberberg.«

Sie deutete einen Knicks an, wie Fru Guðmundsdóttir es ihr beigebracht hatte, während sie versuchte, den beschriebenen Bogen unauffällig zurückzulegen.

»Wie heißt du?«

Die Finger vor der Schürze ineinander verkrampft, knickste Katya noch einmal.

»Katya, Herr Silberberg.«

»Katya«, wiederholte er, im selben russischen Tonfall wie sie, ein Aufglimmen in den Augen. »Ne sa to wolka bjut, schto ser, a sa to, schto ovtsu sjel , Katya. Der Wolf wird nicht dafür geschlagen, dass er grau ist, sondern weil er ein Schaf gefressen hat. Habe ich das richtig übersetzt? Du hast weder ein Schaf gefressen noch etwas gestohlen. Also schau nicht so schuldbewusst drein. Für Wissbegierde muss sich niemand schämen.«

Seine Stimme war hell für einen Mann, von einer vergnügten Leichtigkeit, sein Dänisch flüssig, nur dann und wann mit einer Ecke, einer Kante darin; ein munterer Bach, der über Kiesel hinwegsprudelte.

Er stellte seinen Rucksack ab. »Verstehst du Deutsch?«

»Ich habe gerade angefangen, es zu lernen.«

Johann Silberberg trat an den Tisch und schob die darauf verstreuten Papiere zusammen.

»Ich forsche über Schnee und Eis. Welche Arten es davon gibt. Wie sie entstehen. Welche Eigenschaften sie aufweisen. Interessiert dich das?«

Katyas Herz schlug ein Mal besonders kräftig. »Sehr.«

Einladend zog er einen der beiden Stühle unter dem Tisch hervor.

»Dann setz dich, und ich erzähle dir etwas darüber.«

»Das geht nicht, Herr Silberberg.«

Johann Silberbergs Augen richteten sich auf Schrubber und Eimer zu Katyas Füßen.

»Natürlich, du hast zu arbeiten.«

Umständlich nestelte er an den Verschlüssen seiner pelzgefütterten Jacke aus Leder herum, die Katya an die Kleider erinnerte, die sie an den Inuit Grönlands gesehen hatte; an beiden Händen fehlten ihm mehrere Fingerspitzen.

»Erfroren«, erklärte er leichthin. »Der Preis für meinen Wissensdurst. Mach du deine Arbeit hier weiter, Katya. Ich bitte Fru Guðmundsdóttir solange um einen Kaffee und frage sie, ob sie dich heute irgendwann für ein oder zwei Stunden entbehren kann. Was hältst du davon?«

Katya war auf der Hut vor Gästen, die allzu freundlich waren. Ihr plump vertraulich zuzwinkerten, Zuckerzeug schenken oder ein verschwenderisches Trinkgeld zustecken wollten, sie Süße oder Herzchen nannten.

Der Verlockung von Eis und Schnee konnte sie jedoch nicht widerstehen.

Atemlos vor Staunen lernte Katya von Johann Silberberg, dass die schönen Blumen, die er gezeichnet hatte, nichts anderes waren als Schneeflocken, durch die Linsen seines Mikroskops betrachtet.

Eiskristalle, die sich weit oben in den Wolken zu Blüten und Sternen geformt hatten; zarte Ornamente, wie Oddveig Halvorsdotter von nebenan sie über den Winter in ihre Spitzen klöppelte.

»Immer sind es sechs. Siehst du, Katya?«, führte Johann Silberberg aus, als sie am Tisch seines Zimmers saßen und die Zeichnungen durchblätterten. »Sechs dieser filigranen Blütenblätter. Sechs Zacken an jedem dieser Sterne. Sechs Ecken, sechs Kanten. Eine vollkommene Symmetrie. Die absolute Harmonie.«

Temperatur und Feuchtigkeit bestimmten Form und Größe der Schneeflocken, die weiß glitzerten, weil sie das Licht reflektierten. Ihr Eis jedoch war klar. Plättchen, Säulen, Nadeln und Prismen, deren Muster einander ähnelten, obwohl es keine zwei Schneeflocken auf der ganzen Welt gab, die genau gleich waren.

»Wie bei uns Menschen«, erklärte Johann Silberberg schmunzelnd. »Sogar Zwillinge sind keine exakte Kopie des anderen, wenn man sich die Mühe macht, ganz genau hinzusehen.«

Muster, die sich innerhalb jeder Schneeflocke wiederholten, kleiner und kleiner, bis selbst Johann Silberbergs Mikroskop sie nicht näher heranholen konnte.

Eine Unendlichkeit, die dem menschlichen Auge verborgen blieb.

Katya hatte das Eis vergessen gehabt wie einen Traum, von dem ein unbestimmtes Gefühl zurückbleibt.

Johann Silberberg erinnerte sie wieder daran. Er gab diesem Gefühl Konturen und eine Form, er schenkte ihm Namen.

Raufrost. Grundeis, das auf dem Boden von Flüssen und Seen Skulpturen schuf. Glimmereis, das sich in den Sprüngen und Mulden alten Eises aus dem Schmelzwasser des Frühlings bildete, und das Glittereis gefrorenen Schneematschs.

In den Abendstunden am Tisch seines gemieteten Zimmers, während draußen Schnee fiel und die langen Nächte silbrig weiß und rauchblau färbte. Im eigentümlich klaren Mittagslicht der Sonne hinter den Bergen, wenn es Johann Silberberg nach draußen zog, in seinem Rucksack Mikroskop und Apothekerwaage, Thermometer und Hygrometer, und Katya ihm dabei half, Schnee und Eis zu studieren und zu vermessen.

»Haard’dloq nennen die Inuit das ganz frische, noch dünne Eis«, erzählte Johann Silberberg, der neben Katya durch den Schnee am Ufer des Sunds ging. »Hikuliaq , wenn es noch schlüpfrig ist, man aber schon darauf treten kann. Kaneq sind die Frostblumen, die erscheinen, wenn das Eis so fest und haltbar und griffig ist, dass man es gefahrlos überqueren kann. Aputainnaq ist die heimtückische Eisschicht auf einem offenen Ozean. Die Inuit haben ein ganzes Vokabular für das Eis, weil sie seit Menschengedenken damit leben und ihr Wohl und Wehe davon abhängt. Während wir, die wir aus den gemäßigten Breiten kommen und uns im Winter in unseren Häusern verkriechen, gerade erst anfangen, es zu verstehen.«

Johann Silberberg hatte nicht nur unter den Inuit Grönlands gelebt, dort, wo dieses Land am kältesten und feindlichsten war, sondern auch im Permafrost der sibirischen Tundra. Unter den Bergbewohnern der Schweiz und den Saami Norwegens, wo er den vergangenen Winter und auch den letzten Sommer verbracht hatte.

Während sie den verschneiten Hügel hinaufstapften, wanderten seine Augen zum zähgrauen Himmel.

»Stell dir das einmal vor, Katya. Ein Staubkorn, so winzig, dass wir es nicht sehen können, irgendwo weit oben in der Atmosphäre. Ein Eiskristall, der sich anlagert und weitere Kristalle anzieht. Schneeflocken entstehen, Myriaden davon, die zur Erde herabschweben. Dort, wo es so kalt ist, dass dieser Schnee den Sommer überdauert, altert er zu körnigem Firn und verdichtet sich, bis er schließlich kristallisiert. Ein Meter Neuschnee, praktisch nur Luft und ein bisschen gefrorenes Wasser, presst sich so zu einer Eisschicht von einem Zentimeter zusammen. Im kommenden Jahr wieder und im Jahr darauf. Jedes Jahr aufs Neue, und der einstmals luftige und schwerelose Schnee verwandelt sich im Lauf der Zeit zu einem Gletscher. So mächtig und schwer, dass zwischen seinen großen Kristallen alle Luft entweicht und er erst glasklar und spiegelnd glänzt, bevor er irgendwann das Licht zu leuchtendem Blau oder Grün filtert.«

Das Gesicht unter der weißen Pelzkappe gerötet und Atemwölkchen vor dem Mund, dachte Katya einige Schritte darüber nach.

»Heißt das dann, dass Gletschereis langsamer schmilzt? Weil seine Kristalle größer sind?«

Johann Silberberg nickte begeistert.

»Nur ein feiner Unterschied bei einem kleinen Stück Eis, der sich aber umso stärker bemerkbar macht, je größer die Masse des Eises ist.«

Schweigend wog Katya mit jedem Schritt einen Gletscher aus erstarrtem Schnee gegen das Eis des Meeres ab, das durch sein Salz und die Kräfte von Wind und Strömung schöpferischer und launischer als seine süße Schwester war.

Dass er ihr immer diese Zeit gab, seine Worte in sich sinken zu lassen, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen, nahm sie sehr für Johann Silberberg ein.

Abrupt blieb sie stehen.

»Wenn Gletscher aus Schnee entstanden sind … dann müssen doch Eisberge immer aus Süßwasser sein. Nie aus Meerwasser.«

»Genau so ist es.«

Sie fing einen belustigten Blick von ihm auf.

»Vorsicht, Katya«, warnte er schmunzelnd. »Bei einem jungen Fräulein wirkt so viel Wissensdurst und Verstand noch reizvoll. Eines Tages wird es dich aber zu einer gefährlichen Frau machen.«

Katya brach in Lachen aus, so absurd fand sie diesen Gedanken.

Der lockere Schnee unter ihren Sohlen gab nach, und sie geriet am Hang ins Rutschen. Johann Silberberg streckte die Hand nach ihr aus, und ihr weißer Pelzfäustling ergriff seinen braunen Lederhandschuh.

Der dünne Lichtstreifen, der sich unter der Tür hervorstahl, zog Silja Guðmundsdóttir an, lautlos wie ein Nachtfalter. Hinter der Tür war Johann Silberbergs Stimme zu hören, in die sich immer wieder Katyas glasklare flocht, die sich zunehmend dunkel färbte, nicht mehr ganz Mädchen, noch nicht Frau.

Es waren die Pausen dazwischen, die Silja beunruhigten.

Sie sollte Katya nicht erlauben, allein mit ihm im Zimmer zu sein, schon gar nicht so spät am Abend. Auch nicht, mit ihm über die verschneiten Wiesen zu wandern; Oddveig Halvorsdotter hatte neulich eine entsprechende Bemerkung fallenlassen.

Als ob irgendein Mann, der seine Sinne einigermaßen beisammenhatte, in der Kälte dort draußen freiwillig seine Hose herunterließe.

Der Klatsch, den Oddveig Halvorsdotter verbreitete, kümmerte Silja nicht, ihre einzige Sorge galt Katya.

Hellhäutig und blauäugig waren die meisten Mädchen hier, aber weit und breit hatte keines solches Haar wie Katya, schwarz und glänzend wie Lakritz. Aus ihrem weichen Kindergesicht begannen sich kühnere Züge herauszubilden, im selben Maß, wie sich auch ihr Körper reckte und streckte.

Veränderungen, die umso deutlicher sichtbar wurden, seit Katya in Johann Silberbergs Nähe aufgeblüht war. Ihre Schritte waren leichter, ihre Stimme fröhlicher; sie lächelte viel, lachte sogar.

Als ob Johann Silberberg ihr gezeigt hätte, die Augen anzuheben und offen in die Welt hinauszuschauen.

Noch schien Katya nicht zu bemerken, wie wohlwollend manch ein Gast sie während des Sommers gemustert hatte. Dass Ove Karlsson sich den pickeligen Hals nach ihr verrenkte, wenn er das Fleisch aus der Schlachterei seines Vaters vorbeibrachte. Silja wusste nicht, ob eine solche unbedarfte Ahnungslosigkeit wie die Katyas nun Fluch oder Segen war.

Sie wollte Katya davor bewahren, dass sie sich in jugendlichem Ungestüm zu etwas hinreißen ließ, was sie später bitter bereute. Und sei es nur, sich kopflos in eine Schwärmerei für einen mit Ende dreißig viel zu alten Mann zu stürzen, dessen Beruf es war, durch die unwirtlichsten Regionen der Welt zu ziehen.

Bevor die Sonne wieder hinter den Bergen auftauchte und Johann Silberberg die Stadt verlassen würde, spätestens mit dem letzten Schnee, und Herzensleid über Katya hereinbrach.

Siljas Hand legte sich auf das Holz der Tür, um scharf anzuklopfen und ein Machtwort zu sprechen.

Dabei wusste sie doch, dass sie Katya nicht davor behüten konnte, zur Frau zu werden und ins Leben hinauszumarschieren, das voller Fallstricke und Gefahren war.

Nichts und niemand auf dieser Welt konnte man festhalten, schon gar nicht die Zeit.

Sie ließ die Hand wieder sinken und ging auf leisen Sohlen davon.

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