20



Das abgedeckte Körbchen in der Hand, verharrte Christian vor der Wohnungstür im obersten Stock.

Ein Schock war es gewesen, nicht nur, dass das schöne Mädchen aus dem Laden Grischas Schwester war, sondern dass sie gerade erst fünfzehn Jahre alt geworden war.

Ein halbes Kind noch. Er hätte sie wesentlich älter geschätzt, vielleicht, weil ihr die Zuckrigkeit solch junger Mädchen fehlte.

Gegen Katyas Anziehungskraft kam er trotzdem nicht an.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er an der Tür lauschte, die Hand gegen das Holz legte. Als ob er sie dahinter sehen könnte, ihre Nähe fühlen; wie ein Lüstling kam er sich vor.

Er riss sich zusammen und klopfte an.

»Katya? Ich bin es. Christian.«

Die Tür öffnete sich und gab den Blick auf Katya frei, in einem dunklen Rock, ihre Zöpfe schwer auf den Schultern ihrer schlichten Bluse. Und wie ihre Augen strahlten, versetzte seinen Herzschlag in Galopp.

»Brot und Salz«, erklärte er auf ihren fragenden Blick hin. »Das schenkt man bei uns zum Einzug in ein neues Heim.«

Neben Brot und dem Leinensäckchen mit Salz schlummerten noch Kopenhagener Plunder mit Marmelade unter dem Tuch; er hoffte, sie gehörte zu den Mädchen, die Süßes mochten.

Katya lächelte, als sie den Korb entgegennahm.

»Das ist ein sehr sinnvolles Geschenk. Vielen Dank.«

Erstaunlich dunkel war ihre Stimme für ein solch schlankes, junges Mädchen, vielleicht durch ihren kehligen Akzent, der bei ihr anmutiger klang als bei ihrem Bruder.

Sinnlich geradezu.

Christian räusperte sich.

»Hast du alles, was du brauchst?«

Katya zögerte. Es war eine schöne Wohnung, mit je einem Zimmer für Katya und Grischa sogar wesentlich größer als ihre Hütte in Russland damals. Katya mochte die alten Balken und Dielen und das Wohnzimmer hoch oben über der Stadt, dessen viele Fenster die Sonne hereinließen und den Wind, den Duft des Wassers und die Rufe der Möwen. Grischa hatte sich viel Mühe gegeben, es roch noch nach Farbe und Kalk und Leim, sogar an die allernotwendigsten Haushaltsgegenstände hatte er gedacht, aber als Mann fehlte ihm der Blick für die Details.

»Weißt du, wo ich hier am besten Stoff kaufen kann? Ich will Bettzeug nähen und vielleicht ein paar Vorhänge. Nur allzu teuer sollte es nicht sein.«

Sie hatte fast ihr ganzes mitgebrachtes Geld Thilo übergeben, damit er es im Tresor des Ladens einschloss, so hatte Grischa es mit ihm vereinbart. Nur einen kleinen Betrag behielt sie für sich, für das Notwendigste, sie musste sparen; alles, was sie jetzt ausgaben, würde ihnen später an Kapital für den Handel fehlen.

»Natürlich. Ich kann auch gern mitkommen. Jetzt gleich, wenn du willst.«

Die übereifrige Hast, mit der er sich ihr aufdrängte, beschämte ihn selbst. Wie Balsam auf seinen glühenden Wangen war dagegen das Leuchten, das über Katyas Gesicht glitt.

»Lass mich nur schnell mein Schultertuch holen.«

Christian konnte sich nicht an ihr sattsehen, wie sie mit ernster Miene und wachem Blick die Tuchballen abschritt. Wie ihre Hände über die verschiedenen Leinenstoffe glitten, die Fritz Bergmann vor ihr ausbreitete, und sie sich schließlich erstaunlich rasch und energisch für einen bestimmten Stoff entschied.

Katya wusste zweifellos, was sie wollte.

Sie wollte auch den blau karierten Kaliko, das sah er an ihren glänzenden Augen und daran, wie ihre Fingerspitzen darüberfuhren, während Herr Bergmann das Leinen ausmaß und zuschnitt. Katya war kaum ein paar Tage in Hamburg und schien schon entdeckt zu haben, was die Deerns, die auf sich hielten, gerade trugen; vielleicht war es auch ein weiblicher Instinkt, quasi mit der Atemluft aufzunehmen, was Mode war.

»Wenn du ihn haben willst, kaufe ich ihn für dich.«

Verwundert richteten sich Katyas Augen auf ihn, dann schüttelte sie den Kopf und ließ die Hand sinken.

»Ich würde ihn dir wirklich gern schenken.«

Katya hatte wenig Erfahrung mit Männern, nicht auf diese Weise, aber sie spürte sehr genau, dass Christian sie umwarb. Obwohl sie nicht recht verstand, warum, sie war ja noch ein Mädchen, er schon ein erwachsener Mann.

Es fühlte sich falsch an, sich etwas so Teures von ihm schenken zu lassen. Als ob sie ihm danach etwas schuldig sein würde.

»Nein, Christian. Wenn ich den Stoff haben will, kaufe ich ihn mir selbst.«

Klar und fest war ihr Blick dabei, von einem Stolz, für den Christian sie umso lieber mochte.

»Darf ich dann wenigstens mit Bergmann darum feilschen, dass er dir einen besonders guten Preis macht?«

Katya biss sich auf die Unterlippe, um das Lächeln zurückzuhalten, das sich auf ihr Gesicht drängte. Obwohl er ihr Nein widerspruchslos akzeptiert hatte, suchte er nach einem Weg, damit sie sich ihren Wunsch doch noch erfüllen konnte. Bestimmt vergab sie sich nichts, wenn sie sein freundliches Angebot annahm, und schließlich nickte sie.

Während sie den schönen Stoff streichelte, beobachtete sie Christian, der zu Herrn Bergmann getreten war. Wie der Händler mit dem freundlichen Gesicht eines Igels sich wand und zierte, nahm sie nur am Rande wahr. Sie achtete ausschließlich auf Christian, von schlanker Geradlinigkeit unter seiner leichten braunen Jacke. Auf sein scharfes Profil, die lebhaften Gesten und wie schwungvoll und gut gelaunt seine Stimme klang.

Über seine Schulter warf er ihr einen schalkhaften Blick zu. Einen Blick, der wohl flüchtig gedacht gewesen war, dann aber doch auf Katya liegenblieb und sich zu einem Lächeln wandelte. Als ob es für ihn in diesem Moment nichts Wichtigeres zu sehen gäbe, nichts Schöneres, und Katyas Herz wurde groß und weit.

Christian klopfte fast jeden Tag oben bei Katya an die Tür. Mit einem Klotz Butter, süßem Gebäck, einem Pfund Kaffee oder einem Kopf Salat. Übrig geblieben, murmelte er dann auf ihren erstaunten Blick hin, was meist gelogen war.

Das Lächeln, mit dem sie sich dafür bedankte, machte seine Verlegenheit jedes Mal wieder wett.

Schwer beschäftigt schien sie, aus der Wohnung ein Heim für sich und Grischa zu machen. Fadenreste hafteten an ihrem Rock, wenn sie die Tür öffnete, oder sie strich sich eine lose Strähne aus dem erhitzten Gesicht, die Ärmel ihrer Bluse aufgekrempelt; manchmal hatte sie Tintenflecke an den Fingern, als ob sie viele Briefe schriebe.

Mehr als ein paar Worte über das Wetter oder die Frage, ob sie etwas aus dem Laden bräuchte, bekam Christian dabei nie heraus. Er hatte bisher nicht gewusst, wie viel Freude es ihm machen würde, die Treppen hinunterzuspringen und mit einer Spule Zwirn, einem Tintenfass oder einem Briefchen Haarnadeln gleich wieder zu Katya hinaufzujagen, für ein weiteres stummes Zwiegespräch ihrer beider Blicke, ihres Lächelns.

Es kam ihm nicht einmal in den Sinn, sie zu fragen, ob sie zum Abendbrot hinunterkommen wollte, wie er es bei Grischa getan hatte. Als ob er fürchtete, sein Bruder und sein Vater könnten Zeuge werden, wie er sich für ein junges Mädchen zum Narren machte.

Zum glücklichsten Narren der Welt.

Das erste Mal in seinem Leben war Christian Petersen verliebt, hoffnungslos, luftabschnürend, herzstolpernd verliebt.

Fast drei Wochen dauerte es, bis er den Mut fasste, Katya zu fragen, ob sie sich am Sonntag mit ihm zusammen Hamburg ansehen wollte. Der Frühling, der sich gerade in die Stadt drängte, gab ihm den notwendigen letzten Anstoß.

Katya wollte.

Christian konnte die Augen nicht von Katya lassen, in ihrem neuen blau karierten Kleid. Umrahmt von der Haube, die sie sich aus demselben Stoff genäht hatte, eine zierliche Schleife unter dem Kinn, schien ihr leuchtendes Gesicht sogar die dunklen Sträßchen auf dem Kehrwieder zu erhellen.

Er vermisste ihre prachtvollen Zöpfe, die unter dieser Haube verschwunden waren; andererseits konnte er sich so der Illusion hingeben, dass die Kluft an Jahren zwischen ihnen geschrumpft war wie durch Zauberhand. Vielleicht lag es auch daran, dass sie so schlank und hochgewachsen war wie eine Weide.

Ihre Ernsthaftigkeit tat ein Übriges, sodass er vergaß, wie jung sie noch war. An Katya war nichts Kokettes, Albernes, Schnatterndes, wie er es von anderen Mädchen kannte. Trotzdem lächelte sie viel, und ihr dunkles Lachen, das tief aus ihr herauszukommen schien, ließ jedes Mal etwas hinter Christians Brustbein vibrieren.

Er vergaß auch, was er ihr eigentlich von Hamburg hatte zeigen wollen. Christian ließ sich einfach treiben, kreuz und quer durch Straßen und über Brücken hinweg, in ständigem Wechsel zwischen Wasser und Land.

Auf dem Holländischen Brook, wo sich Lagerräume und Wohnungen in hohen Häusern zusammenzwängten und unter alten Bäumen Kähne auf dem Fleet dümpelten und am Backsteinbug von Sankt Katharinen vorbei. An den feineren Bürgerhäusern auf dem Wandrahm, vor der Kaserne, die einmal das Kornhaus gewesen war, und am Zippelhaus, hinter dessen Fachwerk die Gemüsehändlerinnen ihre Stände hatten. Um die zwergenhafte und von schiefen Häusern bedrängte Kapelle von Sankt Annen herum, die vor sich hin bröckelte und an deren längst aufgegebenem Armenfriedhof Christian sich noch aus seiner Kindheit erinnerte.

Christian schien einer inneren Route zu folgen, die einzig darauf ausgerichtet war, so viel Zeit wie möglich mit Katya zu verbringen. Inmitten des Geflechts von Fleeten und Schleusen und Hafenbecken fiel es ihm leicht, von sich zu erzählen und von früher.

In einem Hamburg zwischen Sonntagsruhe und Frühlingslaunigkeit schufen sie mit ihren Schritten einen Raum, der nur ihnen beiden gehörte.

Flanieren. Ein neues Wort für Katya. Offenbar taten das viele Hamburger an ihrem Sonntag, einzelne Herren mit Hut und Stock, untergehakte Paare, Grüppchen oder ganze Familien. Kinder tollten umher, stocherten im Wasser herum oder turnten am Brückengeländer. Bärtige und bemützte Männer hockten mit ihren Pfeifen am Rand der Fleete zusammen und führten einsilbige Gespräche, während ihre Frauen sich aus dem Fenster lehnten, den Busen bequem auf den überkreuzten Armen abgelegt, und sich gegenseitig den neuesten Tratsch zuriefen.

Auch Katya hatte inzwischen gelernt, ihre Wäsche an einer Leine unter dem Fenster zum Trocknen hinauszuhängen; die Fassaden Hamburgs, krumm und verwittert und düster verrußt, schienen unter ständiger Beflaggung von Kinderhosen, Männerhemden und Bettwäsche zu stehen.

Katya mochte die Sprache hier, die sich schnell in ihr Ohr geschlichen hatte. Anders als das zähe und behäbige Deutsch von Johann Silberberg aus Mainz war Hamburgisch weich und leicht und schwungvoll. Dem dänischen Zungenschlag nicht unähnlich, erinnerte es Katya an das Tschilpen von Spatzen, die auf- und absteigenden Melodien einer Amsel, manchmal mit einem spitzen Triller darin oder dem heiseren Ruf einer Möwe.

Kehrwedder. Hamburch. Denn man tau.

Ihre eigenen Worte kamen ihr dagegen klobig vor, wenn sie Christian von Russland und Norwegen erzählte. Immer wieder suchte sie fieberhaft nach einem bestimmten Ausdruck oder musste ausschweifend erklären, was sie meinte.

Christian schien es nicht zu stören, geduldig hörte er zu, legte nur ab und zu die Hand in ihren Rücken, um sie aus der Bahn eines Pferdefuhrwerks zu leiten; eine Geste, die eher fürsorglich und galant war als zudringlich und die doch jedes Mal ein Kribbeln ihr Rückgrat hinabrinnen ließ.

Das war etwas anderes, als sie für Johann Silberberg empfunden hatte; dass dies nicht mehr als die Schwärmerei einer Schülerin für ihren Lehrer gewesen war, hatte sie damals schon gewusst. Nichts, was jemals über ein paar Scherze und harmlose Komplimente hinausgehen würde. Über versponnene Tagträume von Liebesschwüren und gemeinsamen Wanderungen durch Landschaften von Schnee und Eis.

Christian berührte sie tiefer. Jedes Mal, wenn er mit einer Wurst, einer Speckseite vor ihrer Tür stand. Kein Almosen und auch kein Köder, das verrieten sein vorsichtiger Blick, sein scheues Lächeln.

Morgengaben waren es. Wie die eines Milans, der sein Nest mit Münzen und Silberlöffeln füllt, um zu beweisen, dass er klug und umsichtig genug ist, seine Feinde zu blenden und für seine Liebste zu sorgen.

Ein Pfund Kaffee, ein Kanten Käse und süße Plunderteilchen bedeuteten Katya ungleich mehr, als Blumen oder Bänder es getan hätten. Beide verstanden sie diese kleinen Gesten Christians gleich, weil sie beide Armut und Not kennengelernt hatten.

Leichthin und fast flapsig hatte er davon erzählt, darunter klangen jedoch die Sprünge und Brüche an, die jene Jahre bei ihm hinterlassen hatten; Katya fragte sich, ob sich damals diese Schärfe in sein Gesicht geritzt hatte.

Nach der Salzsiederei und der neu gebauten Dampfmühle öffneten sich die Häuserschluchten, fielen dann hinter ihnen zurück. Vor dem bewachsenen Wall eines Stadttors erstreckte sich das Grün, das Katya in Hamburg bislang vermisst hatte. Eine abschüssige Wiese am Wasser, die Sonntagsangler angelockt hatte und einen Hirten, der seine Ziegen grasen ließ. Hohe Bäume standen im ersten zarten Laub, dahinter schwankten die Schiffsmasten mit leerer Takelage in einem der Hafenbecken.

Unterwegs waren die Pausen zwischen ihren Sätzen immer länger geworden, jetzt schwiegen sie beide, während sie auf einer Bank nebeneinandersaßen und in die Sonne blinzelten. Die einzigen Stimmen waren die anderer Spaziergänger, die sich näherten und wieder entfernten, dann und wann meckerte eine der Ziegen zufrieden.

Die Wohlgerüche des Ladens hatte Christian in seinen Kleidern mitgebracht, geräucherter Speck und Kaffee und Bohnenkraut, und unter dem Duft einer herben Seife lag etwas wie junges grünes Holz, das Christian selbst sein musste.

Ein ums andere Mal trafen sich Katyas und Christians Blicke, tauschten sie ein Lächeln, bevor einer von beiden abrupt die Augen abwandte, um dann doch wieder zum anderen zurückzukehren.

Als Christian sich vorbeugte, streifte sein Ellbogen eine Beule in seiner Jackentasche.

»Das habe ich ganz vergessen«, sagte er und zog eine Papiertüte mit Bonbons heraus. »Die habe ich dir mitgebracht.«

Katya zögerte, sie wollte ihn nicht kränken.

»Du sollst mir nicht so viel schenken«, sagte sie dann dennoch leise.

»Das mache ich gern«, versicherte er hastig.

Katya lächelte. »Ich weiß. Trotzdem ist es zu viel.«

Christian starrte auf die Bonbons in seiner Hand und schluckte. Er konnte Katya das Gefühl nicht erklären, ihr sonst nicht viel bieten zu können. Mit hängendem Kopf steckte er Tüte wieder in die Jackentasche.

Katya holte tief Luft. »Ich mag dich auch so.«

Stumm blinzelte Christian vor sich hin, ein Ziehen irgendwo in seiner Brust, so schön, dass es beinahe wehtat.

Katyas Hand lag auf der Bank neben ihm. Christian streckte seinen kleinen Finger aus und fuhr sacht über den Katyas. Sie wich nicht zurück, lächelte nur in die Frühlingsluft hinein.

Nach und nach begann seine Hand, jeden ihrer Finger zu erobern. Zierliche Finger von erstaunlich zupackender Kraft waren es, die Kuppen von Nadelstichen vernarbt und raue Stellen in der Handfläche, die ihn erst richtig begreifen ließen, dass es dieses wunderbare Mädchen wirklich und wahrhaftig gab.

Katya war diejenige, die mit Herzklopfen den letzten, den großen Schritt wagte und ihre Hand schließlich ganz in seine schob, schlank und sehnig wie er selbst, und Christian schloss die Augen in einem Augenblick absoluten, vollkommenen Glücks.

In der Stube der Petersens breitete Thilo eine Decke über seinen Vater, der mit offenem Mund im Sessel eingeschlafen war. Sein Gesicht wirkte eingefallen; heute war ein weniger guter Tag gewesen. Die Kapriolen des Hamburger Wetters machten Arno Petersen immer wieder böse zu schaffen, gerade jetzt im Frühjahr.

Thilo warf einen Blick auf den gedeckten Tisch, Brotkorb und Butter, Wurst und Käse waren unberührt. Sie warteten immer noch auf Christian, dabei wusste er doch, wann sie Abendbrot aßen.

Er trat ans Fenster und spähte auf den Kehrwieder hinunter, ob er seinen Bruder irgendwo entdecken konnte, bei einem Schnack mit jemandem aus der Nachbarschaft oder mit einem Mädchen schäkernd.

Thilo wollte sich schon abwenden, als er stutzte und noch einmal genauer hinsah. Von der Brooksbrücke schlenderte Christian heran, Katya an seinem Arm.

Die leuchtenden Gesichter der beiden, ihre ineinander verhakten Blicke sprachen Bände. Auf eine Art, die Grischa bestimmt nicht im Sinn gehabt hatte, als er den Brüdern das Versprechen abnahm, ein Auge auf seine kleine Schwester zu haben, während er auf See war.

Christian hatte gerade die Wohnungstür aufgesperrt, als Thilo ihn packte und in das Zimmer zerrte, das die Brüder aus alter Gewohnheit miteinander teilten. Mit Nachdruck schloss er die Tür hinter sich.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, rief Thilo gedämpft, um ihren Vater nicht zu wecken. »Mit Grischas Schwester herumzupoussieren?«

»Wir waren nur spazieren«, verteidigte sich Christian lahm.

»Glaubst du, ich bekomme das nicht mit, wie oft du zu ihr hochgehst?«

Christian wich dem bohrenden Blick seines Bruders aus und schwieg verstockt.

»Was meinst du, was Grischa dazu sagen wird, wenn er wieder hier ist?«, hakte Thilo nach. »Wenn er herausfindet, dass du seine Abwesenheit ausgenutzt hast, um dich an seine kleine Schwester ranzumachen? Herzlichen Glückwunsch, willkommen in der Familie, Schwager?«, fügte er mit beißender Ironie hinzu.

Seit sie kleine Jungen gewesen waren, hatte Christian ihn nicht mehr so aufgebracht erlebt, damals hatte sein großer Bruder ihn beim Zündeln erwischt.

»Muss es denn unbedingt Katya sein?« Thilo ließ nicht locker. »Kannst du dich nicht mit irgendeiner anderen vergnügen?«

»Verdammt, Thilo«, erwiderte Christian ungeduldig, »ich meine es ernst mit Katya!«

»Umso schlimmer. Herrgott, Christian, sie ist doch noch ein halbes Kind!«

Der einzige Makel an Christians ansonsten vollkommenem Glück; eine wunde Stelle, in die Thilo erbarmungslos seinen Finger presste.

»Du hast doch keine Ahnung!«, fuhr Christian ihn an. »Nur weil du aus Stein bist, muss ich es nicht auch sein!«

Aus harten Augen starrte Thilo seinen Bruder an; in diesem Augenblick fühlte er sich tatsächlich wie eine Säule aus Marmor.

Das war es doch, was alle über ihn dachten: Thilo Petersen hat kein Herz, im Kopf nur seinen Rechenschieber. Ein Zahlenhengst, kalt wie ein Fisch und irgendwie unheimlich. Thilo hatte sich immer schon gefragt, warum Mädchen eigentlich nie bemerkten, wie weit ihre Flüsterstimmen trugen.

Lange hatte er das alles selbst über sich geglaubt, die spontanen Anfälle von körperlicher Lust eine lästige Begleiterscheinung seines Mannseins, derer er sich so mechanisch entledigte, wie er sich die Zähne putzte oder sich rasierte.

Inzwischen war er nicht mehr sicher, ob nicht doch so etwas wie Gefühle in ihm schlummerten. Noch sträubte er sich dagegen, hatte er sich kühl und klar im Griff.

»Hab wenigstens den Anstand, Grischa um Erlaubnis zu fragen, sobald er wieder da ist«, sagte er rau und wandte sich ab. »Komm jetzt essen.«

Christian nickte, obwohl sich ihm bei dem Gedanken an ein solches Gespräch mit Grischa der Magen umdrehte.

Загрузка...