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Der Wind strich über Grischas von der Sonne beschienenes Gesicht. Er kniete am Ufer des Sees und trank gierig aus der hohlen Hand.

»Grischa«, hörte er Katya flüstern.

Er sah nicht auf. Seit er sie in der vergangenen Nacht zwischen den Gräsern eingeholt hatte, strafte er sie mit Schweigen. Katya war ebenfalls stumm geblieben, während sie sich seit Tagesanbruch abgemüht hatte, mit ihm Schritt zu halten.

Keinen Fingerbreit war er von seinem Plan abgewichen, bis zur nächsten Nacht zügig weiterzuwandern, um möglichst viel Entfernung zwischen sich und das Gehöft zu bringen; er konnte auch starrsinnig sein. Nur wenn er mit einem Blick über die Schulter festgestellt hatte, dass Katya zu weit zurückgefallen war, war er langsamer gegangen. Und nur wenn ihre Wangen glühten, ihre Schritte unsicher wurden, hatten sie eine Rast eingelegt, so wie jetzt.

»Grischa. Schau doch!«

Endlich hob er den Kopf.

Ein paar Armlängen von ihm entfernt tapste ein braunes Fellknäuel auf das Wasser zu. Ein Bärenjunges, hinter dem gleich darauf ein zweites aus dem Ufergras hervorpurzelte.

Im Wald hatte er schon oft Bären gesehen, aber noch nie so nahe; wahrscheinlich hatten der Lärm der Äxte, die dröhnenden Stimmen der Männer sie dazu bewogen, einen großen Bogen zu schlagen. Und noch nie hatte Grischa Bärenkinder gesehen.

Dass Bärinnen mit Jungen unberechenbar waren, das hatte man ihm von klein auf eingebläut. In einem Frühling wie diesem waren einmal zwei Burschen aus dem Dorf von einer Bärenmutter angefallen worden; den einen hatte sie zerfleischt, den anderen mit ihren Klauen derart zugerichtet, dass er ein Krüppel geblieben war, nur noch ein Auge in den Überresten seines Gesichts, der Arm eine nutzlose Hülle für die zersplitterten Knochen und zerfetzten Muskeln.

Grischa fasste nach seinem Stock und zog sich auf die Füße.

In Wellen kräuselte sich raschelnd das Schilf, und ein massiger Tierleib schob sich daraus hervor. Das Fell zottig nach dem langen Winter, blinzelte die Bärin auf das Wasser hinaus und nahm mit bebenden Nüstern Witterung auf.

Einen atemlosen Augenblick standen sie einander gegenüber, die Bärin mit ihren Jungen und die beiden Menschenkinder, abschätzend und lauernd.

»Bleib hinter mir, Katya.«

Die Ohren angelegt, schwenkte die Bärin den Kopf hin und her, drohend und doch unschlüssig; ihr Schnauben klang verächtlich.

Katya setzte auf ihre Erfahrungen, die sie bei ihren Begegnungen mit Bären gemacht hatte, wenn sie Beeren und Nüsse und Pilze gesammelt hatte – am besten ging man ihnen aus dem Weg.

»Hier entlang.« Ihre Finger krallten sich in Grischas Jackenärmel. »Langsam. Und mit dem Wind. Dann verliert sie unsere Spur.«

Grischa ließ sich von seiner Schwester durch das Schilf zerren, einen angestrengten Schritt nach dem anderen. Auf Zehenspitzen, mit ausgedörrtem Mund und schweißfeuchten Händen, der Pulsschlag ein Pochen in der Kehle, ein Rauschen in den Ohren.

Erst als sie sich in sicherer Entfernung wussten, rannten sie los, und ihre zittrige Erleichterung flog als befreites Auflachen zum Himmel hinauf.

Heiterkeit stahl sich immer wieder in ihre Blicke, doch obwohl Grischa seine Schritte denen seiner Schwester anpasste, ihr unterwegs über einen umgestürzten Baum half, blieben sie beide stumm. Als hätten sie mit dem Gehöft auch die alte Vertrautheit hinter sich gelassen, fanden sie keine Worte füreinander.

Etwas Unausgesprochenes stand zwischen ihnen, während sie weiter das Ufer des Sees entlangwanderten.

In der Dunkelheit verbreitete das Feuer einen warmen Schein.

Grischa schnitt für sich und seine Schwester je ein Stück von dem Käse aus seinem Bündel herunter und wischte die Klinge an seinem Jackenärmel sauber. Es kostete ihn Überwindung, das Schweigen zu durchbrechen.

»Wenigstens hast du an das Messer gedacht.«

Katyas spöttischer Blick stand im Widerspruch zu dem sanften Goldschimmer auf ihrem Gesicht.

»Du hältst dich tapfer«, versuchte Grischa es noch einmal.

Dieses Mal wich sie seinem Blick aus und widmete sich dem Fisch, den sie auf einem zugespitzten Ast über das Feuer hielt.

Schweigend machten sie sich über Fisch und Käse und die trockenen Brotkanten her, ausgehungert nach ihrem langen Marsch.

»Deshalb wollte ich dich nicht mitnehmen«, setzte Grischa nach einiger Zeit erneut an. »Weil ich nicht weiß, ob ich dich unterwegs beschützen kann. Weil ich mir noch nicht einmal sicher bin, dass ich den weiten Weg schaffe. Und das, was danach kommt.«

Katya starrte in die Flammen.

»Wäre ich zu Hause geblieben«, sagte sie schließlich leise, »hättest du mich gar nicht mehr beschützen können. Lieber bin ich mit dir hier draußen. Und vielleicht kann ich dir ja wieder mal aus der Klemme helfen«, fügte sie hinzu, einen schalkhaften Funken in ihren Augen, fast triumphierend.

Ein kleines Lächeln entfaltete sich zwischen ihnen.

Grischas Lächeln verbreiterte sich zu einem Grinsen, als er mit seinem Ast im Feuer stocherte.

»Wir können morgen ja versuchen, ein Kaninchen zu erlegen.«

In ihrem Landstrich fing man keine Kaninchen. Obwohl genug davon über die Felder hoppelten, während Ziegen, Schafe und Hühner so kostbar waren, dass ihr Fleisch nur selten auf den Tisch kam, und immer nur im Winter. Niemand hatte Grischa erklären können, warum das so war; für sein beharrliches Nachbohren hatte er sich nichts als Kopfnüsse eingehandelt.

Fragend sah er seine Schwester an. Doch Katya war bereits eingeschlafen, noch im Sitzen, das Kinn auf die Brust gesunken. Grischa zögerte, dann streckte er sich und zog sie an sich.

Katyas warmes, vertrautes Gewicht und ihre tiefen Atemzüge ließen auch seine Lider schwer werden, während das Feuer herunterbrannte, das Heulen eines Wolfs irgendwo in der Finsternis vielleicht noch Wirklichkeit oder schon Traum.

Die Beine von sich gestreckt, saß Katya im Gras, Sonne und Wind und Frühlingsluft wohltuend an ihren bloßen Füßen, die von Blasen und aufgeplatzten Schrunden übersät waren. Die Stoffstreifen, die sie statt Strümpfen um ihre Füße gewickelt und mit Schnüren festgebunden trug, lagen gewaschen auf einem Stein zum Trocknen; nach den vielen Werst, die Katya und Grischa in nur ein paar Tagen zurückgelegt hatten, war der Stoff bereits durchgescheuert.

»Du hast an alles gedacht.«

Genau wie Grischa war sie dabei, mit dem Büschel Bast aus seinem Bündel die gröbsten Löcher in den Schuhen zu flicken.

Ihr einsamer Marsch durch das Land, nur begleitet von Vögeln und manchmal einem neugierigen Fuchs, ließ ihnen keinen Atem für viele Worte. Was es zu sagen gab, mussten sie sich für solche Augenblicke der Rast aufsparen.

»Ich hätte daran denken sollen, mehr Essen mitzunehmen.«

Zu zweit waren die heimlich vom Tisch abgezweigten Brotkanten, Piroggi und Blini, die aus der Lagerhütte gestohlenen Äpfel und der Käse doppelt so schnell vertilgt gewesen.

»Wir kommen doch ganz gut zurecht.«

Grischa war geübt darin, mit aufgekrempelten Hosenbeinen im Wasser zu stehen und Fische für sie beide herauszugreifen, so wie Katya sich damit auskannte, welche der jungen Blättchen auf den Wiesen essbar waren. Aus einem brachliegenden Acker hatten sie vergessene Rüben vom Vorjahr ausgegraben und die fauligen Stellen herausgeschnitten, und das irgendwo entlaufene Huhn, das sie unter viel Geflatter und Gelächter eingefangen hatten, war ein Festmahl gewesen.

»Trotzdem«, beharrte Grischa.

Der Vorwurf schien mehr ihm selbst zu gelten als Katya. Seine Miene hellte sich nur langsam auf, als er das zerfasernde Bastgeflecht in seinen Händen betrachtete.

»Von meinem ersten Geld«, sagte er leise wie zu sich selbst, »kaufe ich mir Schuhe. Richtige Schuhe. Aus Leder und mit genagelten Sohlen. Wie sie der Grundherr hat.«

Mit solchen Schuhen an den Füßen lässt sich bestimmt die ganze Welt erobern, dachte er sich.

Er wirkte ein wenig verlegen, als er sich wieder mit dem Flechtwerk beschäftigte.

Katya fragte sich nicht zum ersten Mal, woher Grischa all diese Gedanken zugeflogen waren. Ob es daran lag, dass er ein Junge war oder schon älter als sie, oder schlicht daran, dass er Grischa war.

Sie wäre nie auf die Idee gekommen, von einem anderen Leben zu träumen und dafür wegzulaufen; vielleicht, weil sie noch so klein war oder ein Mädchen oder eben Katya. Und dann war es doch ganz einfach gewesen, von einem Wimpernschlag zum nächsten, so leicht und mühelos wie ein Atemzug.

Seitdem setzte sie einen Fuß vor den anderen, immer Grischa hinterher. Weil es nichts anderes gab, was sie tun konnte, und jeder Schritt die Hürde für ein Umkehren höher und höher legte.

Zweifel oder Gewissensbisse hatte sie keine. Bestimmt suchten der Vater und die Brüder nach ihnen, vielleicht sorgten sie sich sogar. Es würde sich nur nichts ändern, wäre sie morgen wieder zu Hause. Über kurz oder lang würden wieder Schelte und Schläge die Oberhand gewinnen, und wenn Grischa gerade nicht in Sicht war, würde Igor sie festhalten, damit Jakov und Boris ihr unter die Röcke fassen konnten.

Von selbst hielten Katyas Finger inne, und ihr Blick schweifte von der Arbeit ab. In diese Landschaft hinaus, die doch nur das wiederholte, was sie schon kannte, den See und die Wälder und Felder und Wiesen, manchmal in der Ferne die Umrisse eines Gehöfts, eines Dörfchens, eines verlorenen Holzkirchleins.

Katya konnte sich nicht vorstellen, wie man aus dem Vertrauten, Immergleichen den Traum von etwas Neuem schuf. Sie sah nur, wie klein sie waren. In diesem Land, von dem die Leute sagten, es sei so weit und leer, dass es Menschen einfach verschluckte.

Sie vertraute darauf, dass das Land sie wieder ausspucken würde, weil sie Grischa vertraute. Auch wenn sie sich nicht ausmalen konnte, wie es dort sein würde. Ob dies dann vielleicht ein Ort war, an dem sie anfangen konnte zu träumen.

Ein Paar richtiger Schuhe wäre auf jeden Fall ein guter Anfang.

Regen flutete das Land. Ein Segen für die Bauern, ein Fluch für Katya und Grischa.

Sobald sich unter der warmen Sonne die Haut auf Grischas Unterarmen gekräuselt hatte, hatte er nach einem Unterschlupf Ausschau gehalten. Noch bevor sich der blaue Himmel verfinsterte und seine nasse Last ablud. Mehr als ein ausladender Baum, um sich für die Nacht darunter zusammenzukauern, war ihnen jedoch nicht vergönnt gewesen. Und so bald würde der Regen auch kein Ende finden.

Dieses eine Mal wünschte sich Grischa, dass sein Gespür ihn vielleicht doch trog; eine solche Gabe nutzte nichts, wenn man nicht auch die Mittel hatte, dem Wetter die Stirn zu bieten.

Ihrer beider Schuhe trug er in seinem Bündel über der Schulter. Barfuß kamen sie besser voran, aber alles andere als leichtfüßig; bei jedem Schritt quoll Schlamm zwischen ihren Zehen hervor, oft versanken sie bis über die Knöchel im Morast.

Ihr Glück, das sie ohne größere Schwierigkeiten und Hindernisse bis an den Lauf der Newa gebracht hatte, war aufgebraucht.

Das Schafsleder ihrer Jacken hielt zwar den Regen ab, trotzdem hatten sie darunter keinen trockenen Faden am Leib. Katyas Bluse klebte ihr genauso auf der Haut wie ihre vollgesogenen Röcke, die sich ständig um ihre Beine wickelten. Wasser schien durch jede ihrer Poren zu dringen, und eine Kälte war in sie hineingekrochen, die ihre Knochen steif werden ließ.

Katya sehnte sich nach nichts mehr als nach einem warmen Feuer. Doch selbst wenn der Regen von jetzt auf gleich aufhörte, konnte es Tage dauern, bis die im Wald herumliegenden Äste wieder getrocknet waren.

Ihre Knie knickten ein, und sie fiel in den Morast. Grischa half ihr auf.

»Komm weiter. Wir folgen dem Fluss jetzt schon so lange, weit kann es bestimmt nicht mehr sein.«

Katya schaffte noch ein paar Schritte an Grischas Hand, dann sackten die Beine erneut unter ihr weg, schlaff wie gekochter Kohl. Ihr unbedingter Wille weiterzugehen musste sich der Erschöpfung beugen. Ein Zurück war genauso unmöglich wie das Vorwärts, und Katyas Tränen mischten sich unter den Regen, der über ihr Gesicht lief.

Verzweifelt sah sich Grischa nach einem Baum um, unter dem er mit Katya eine Weile rasten könnte, oder nach einer verfallenen Scheune. Und obwohl sie Ansiedlungen immer gemieden hatten, um neugierigen Fragen zu entgehen, hätte er jetzt sogar an die Tür eines Bauernhauses geklopft. Alles wäre ihm recht gewesen, um Katya eine Pause im Trockenen zu verschaffen.

Doch da war nichts. Nichts als überschwemmtes Grasland und die ausgedehnten Wasser der Newa.

Grischa zerrte Katya durch den Schlamm vorwärts, versuchte sogar, sie ein Stück weit zu tragen. Bis er einsehen musste, dass es sinnlos war.

Während der Regen unaufhörlich auf sie herabströmte und die Linie zwischen Himmel und Erde verschmierte, waren sie im Nirgendwo gestrandet.

Einmal mehr blickte Grischa sich hilfesuchend um, so sinnlos es ihm auch schien. Mehr konnte er nicht tun, als tropfnass hier zu stehen und auf eine Eingebung zu hoffen. Auf irgendetwas, das ihnen hier heraushalf.

Er stutzte und wischte sich das Wasser aus den Augen. Am Horizont schälte sich ein Umriss aus dem Regen und formte sich zu einem Pferd, das einen Karren zog.

Grischa warf Bündel und Stock von sich.

»Warte hier!«

Querfeldein rannte er los, durch den hoch aufspritzenden Matsch. Auf das Fuhrwerk zu, das über einen schlammigen Pfad schlingerte. Unter lauten Rufen schwenkte Grischa beide Arme über dem Kopf und sprang schließlich breitbeinig vor den Wagen.

Sichtbar widerwillig zügelte der Kutscher den müden Gaul und lugte argwöhnisch unter der Kapuze seines Umhangs hervor, von dem der Regen troff, eine Hand schon am Griff der Peitsche.

»Verzeiht, dass ich Euch aufhalte, Väterchen«, rief Grischa ihm atemlos entgegen. »Aber würdet Ihr uns ein Stück mitnehmen? Um meiner kleinen Schwester willen?«

Noch immer misstrauisch, wanderte der Blick des Mannes zu Katya, die in der Ferne wie ein Häufchen Elend auf dem Boden kauerte. Er murrte etwas in sich hinein, wickelte dann jedoch die Zügel fest um die Rückenlehne und schickte sich mit einem Seufzen an abzusteigen.

»Du musst sie aber schon herbringen. Wenn ich in diesen Modder da reinfahre, komme ich so schnell nicht wieder heraus.«

Grischa rannte zu Katya zurück. Den Stock ließ er liegen, drückte ihr das Bündel in die Hände und schleppte seine kleine Schwester zum Fuhrwerk, einen taumelnden und mühevollen Schritt nach dem anderen. Mit Hilfe des Kutschers bettete er sie auf die Ladefläche und breitete eine Filzdecke über sie, bevor er neben dem Mann aufstieg und der Karren ruckelnd wieder anfuhr.

Auf dem schaukelnden Kutschbock zog Grischa sich die zweite Decke tiefer über den Kopf, die ihm ihr barmherziger Samariter angeboten hatte. Immer wieder warf er einen Blick hinter sich, wo Katya zusammengerollt lag. Zwischen Käfigen, in denen Hühner ihr Gefieder aufplusterten und Gänse sich unter Protestgeschnatter aneinanderdrängten.

Der Grund, weshalb Pjotr Iwanowitsch aus seinem Gasthaus in der Stadt aufs Land hinausgefahren war.

»Wenn das Federvieh nicht von selbst dem Koch entgegenflattert, muss der Koch es eben holen«, knurrte er übellaunig unter seinem Umhang hervor. »Rentiert sich dennoch, dafür rauszufahren, Wetter hin oder her.«

Er streifte Grischa mit einem Seitenblick.

»Was habt ihr zwei denn hier draußen zu suchen, an so einem Tag?«

Grischa zögerte. Gerade so lange, wie es ihm für die Geschichte angemessen schien, die er sich zurechtgelegt hatte.

»Unsere Eltern sind gestorben«, begann er, betont langsam und angestrengt. »Ist noch nicht lang her. Erst unsere Mutter, dann auch der Vater. Wir sollen jetzt zu Verwandten in die Stadt.«

Pjotr Iwanowitsch brummte einige Worte des Beileids und so etwas wie einen Segen für die Verstorbenen, bevor er den Kopf darüber schüttelte, dass jemand zwei Waisenkinder allein durch die Gegend wandern ließ, anstatt sie abzuholen.

»Nichts für ungut«, fügte Pjotr Iwanowitsch mit einem Aufschnaufen hinzu. »Eure Leute werden schon ihre Gründe gehabt haben. Zum Glück seid ihr mir über den Weg gelaufen, und jetzt habt ihr es ja auch fast geschafft. Auf die Stadt könnt ihr euch freuen, euch werden die Augen übergehen! Kenne ich noch von mir, ich bin auch vom Land, von weiter im Süden. Ich sag’s dir, Junge, eine Stadt wie Petersburg gibt es kein zweites Mal auf der ganzen weiten Welt …«

Während Pjotr Iwanowitsch ihn mit schwärmerischen Schilderungen der Stadt überschüttete, musste Grischa eingenickt sein; ein hartes Rucken des Fuhrwerks schreckte ihn auf.

Unter dem Regen sammelte sich zähe Dunkelheit. Es war schon fast Abend, am Horizont konnte Grischa die ersten Lichter ausmachen. In ein paar Stunden würde der Regen nachlassen, spätestens gegen Morgen.

»Wo müsst ihr denn hin in der Stadt?«, fragte Pjotr Iwanowitsch, als sie über eine schmale Brücke rumpelten. »Dann setze ich euch da ab.«

Verschwindend klein wirkte das Fuhrwerk zwischen den klotzigen Hausmauern, die sich in der Dämmerung zu beiden Seiten auftürmten, verheißungsvoll und abweisend zugleich.

Grischa warf einen Blick über die Schulter zu Katya, die sich die Fahrt über nicht gerührt zu haben schien. Auf sich allein gestellt hätte er es darauf ankommen lassen, wie er die Nacht überstand.

»Ich habe nicht die ganze Wahrheit gesagt, Pjotr Iwanowitsch.«

Es war demütigend, die Fallstricke der eigenen Lüge zu entwirren. Sein Wohlergehen und das Katyas in die Hände eines Fremden zu legen.

»Unsere Mutter ist tatsächlich tot, aber wir sind nicht zu Verwandten unterwegs. Wir sind ausgerissen, um irgendwo ein besseres Leben zu finden. Entlaufene Leibeigene, das sind wir.«

Unter zusammengekniffenen Brauen starrte Pjotr Iwanowitsch ihn an und brachte mit stramm gezogenen Zügeln das Pferd zum Stehen. Grischa wich diesem bohrenden Blick aus, das Herz schlug ihm bis zum Hals.

Augenblicke der Beklommenheit, die nur zäh verstrichen.

»Dann sag das mal besser nicht zu laut«, ließ sich Pjotr Iwanowitsch schließlich nach einem tiefen Atemzug vernehmen. »Du weißt, das Gesetz schnappt sich immer die Fliegen und lässt die Hornissen davonkommen.«

Entschieden schnalzte er mit den Zügeln.

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