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Katya löste ihren Blick vom Kaminfeuer und ließ ihn durch die Blockhütte wandern, die im Winter vor zwei Jahren hier entstanden war.

Wände und Dielenboden und Balken rochen noch nach dem Wald an der Küste, in dem das Holz geschlagen und von Rentieren hierher gezogen worden war, während das Eis im See von Voroninvatnet sich auswuchs und verdichtete. Winzig war diese Hütte, aber sie war auch nur für die einzige Frau in der Gruppe gebaut.

Katya hätte es nichts ausgemacht, sich mit den Männern das größere Blockhaus weiter oben am See zu teilen. Trotzdem war sie glücklich, diese Hütte ihr Eigen zu nennen, ihr Geschlecht einmal kein Makel, sondern ein Privileg.

Katyas Blick streifte die simple Bettstatt und den kleinen Herd, an dem sie kochen konnte, wenn das Wetter schlecht war, und sich zwischendurch einen Kaffee machen. Rentierfelle an den Wänden und auf dem Boden milderten die Kahlheit des nackten Holzes. Selbst genähtes Bettzeug hatte sie sich aus Hamburg mitgebracht und Vorhänge mit norwegischer Stickerei. Jetzt, am Abend, waren sie zugezogen, die Fensterläden geschlossen; draußen fauchte der Wind.

Für Abende wie diesen hatte sie sich Bücher kaufen wollen, sobald sie das Geld dafür erübrigen könnte; nun würde es wohl nicht mehr dazu kommen.

Liebevoll strich Katya über den Tisch neben sich, den Grischa aus einem besonders schönen dunklen Holz für sie geschreinert hatte.

Zuhause, dachte sie.

Hinter ihrer Nasenwurzel prickelte es, und sie zwang die Tränen zurück. Sie würde noch genug Zeit haben zu weinen, wenn es erst einmal vorbei war.

»Die letzte Chance?«, ließ sich Johann Silberberg vernehmen.

Katya nickte, ohne ihn anzusehen. »Der letzte Versuch.«

Sie trank einen Schluck Kaffee und richtete den Blick wieder ins Feuer.

Sie hatten sich nicht unterkriegen lassen. Das Fiasko in London, als sie ihr Eis verschenken und über Bord werfen mussten, um mit einer Ladung Tuch wenigstens ein wenig Geld zu verdienen, hatte sie sogar enger zusammengeschweißt.

Dazugelernt hatten sie, waren klüger nach Hamburg zurückgekehrt und auch weiterhin fest entschlossen. Unermüdlich, schonungslos und manchmal hitzig hatten sie am heimischen Tisch die Fehler diskutiert, die sie vielleicht gemacht hatten, neue Möglichkeiten skizziert und wieder verworfen, eine neue Strategie entwickelt.

Für das Eis, das sie im folgenden Winter aus dem See holten, hatte Grischa von seinen Fahrten nach England Adressen mitgebracht, und im Frühjahr verschickte Christian Werbebriefe an Fischhändler und Metzger, Molkereien und Konditoreien, Clubs und Restaurants, schließlich an ein paar wohlhabende Privatmänner. Tatsächlich trafen Vorbestellungen für eine Lieferung im Sommer ein, und dieses Mal konnten sie auch vom Kai aus einige Zentner verkaufen.

Trotzdem blieb immer noch zu viel Eis übrig, als dass sich die Fahrt wirklich gelohnt hätte, genauso wie im Jahr darauf, einem Regensommer.

Das vergangene Jahr war dann ein gutes gewesen, der Sommer in England heiß und trocken; bis auf den letzten Block hatten sie ihr Eis in London an den Mann gebracht. Doch nachdem sie in den Jahren zuvor über den Winter mehr Eis geschnitten hatten, als sie später verkaufen konnten, hatten sie dieses Mal weniger davon aus Norwegen mitgebracht. Die rege Nachfrage hatte sie überrascht; fast noch einmal so viel hätten sie loswerden können.

Dass sie zum ersten Mal Gewinn gemacht hatten, wenn auch lediglich einen schmalen, tröstete nur wenig darüber hinweg, dass es so viel mehr hätte sein können.

»Die Raten für das Darlehen und die Zinsen fressen uns auf«, sagte Katya leise.

Während Arno Petersen und Christian mit Henny den Gemischtwarenladen am Laufen hielten, kümmerte sich Thilo nicht nur um dessen Bücher und die des Eishandels, sondern auch für ein paar Mark um die Bilanzen einiger Handwerker in der Nachbarschaft. Grischa heuerte an, wo immer er konnte; Erster Offizier war er jetzt, für dieses Jahr hatte er sich das Kapitänspatent zum Ziel gesetzt.

Katya nähte weiterhin für Bergmann und half im Wirtshaus an der Kibbeltwiete aus. Sie hasste die Arbeit dort, zwischen angetrunkenen Männern, denen sie stets aufs Neue zu verstehen geben musste, dass sie nur mit den Augen gucken durften, nicht mit den Fingern, wie man es bei kleinen Kindern tat. Doch sie brauchte das Geld und achtete darauf, dass entweder Grischa oder Thilo sie spätabends dort abholten, gut sichtbar auch noch für den letzten Gast, der zu tief ins Glas geschaut hatte.

Während der Handel in Hamburg aufblühte und überall neue Geschäfte und Kontore aus dem Boden schossen, hielten sie sich gerade so über Wasser.

Und die Zeit saß ihnen im Nacken.

»Im Herbst läuft die Frist für unser Darlehen ab«, fügte sie leise hinzu. »Fünftausend Mark haben wir bereits zurückgezahlt. Wenn wir die restlichen siebentausend bis dahin nicht zusammenbekommen, verlieren wir alles.«

»Das tut mir leid«, hörte sie Johann Silberberg murmeln. »Ich wünschte, ich könnte helfen. Aber an so viel Geld komme auch ich nicht heran.«

Traurig lächelnd schüttelte Katya den Kopf.

Alles, was sie hatten falsch machen können, hatten sie falsch gemacht, so schien es. Wie Kinder kamen sie sich vor, die ihr fantasievolles Spiel für die Wirklichkeit hielten und nun von den Erwachsenen die Flügel zurechtgestutzt bekamen.

Der Wind heulte kräftiger um die Blockhütte, wütend, dass dieses lächerlich kleine Häuschen ihn daran hinderte, frei über die Ebene hinwegzufegen.

Unwillkürlich zog Katya das Schultertuch enger um ihr Hemd zusammen. Hier in Norwegen trug sie immer Männersachen, die Haare zu einem langen Zopf geflochten.

Der Schneesturm hatte die Arbeit am Eis unterbrochen, kaum dass sie recht begonnen hatte. Laut Grischa würde er noch einige Tage anhalten, solange würden sie untätig herumsitzen. Sie konnten nur hoffen, dass er kein Tauwetter mitbrachte und das Eis im See schmolz.

Einmal mehr hatte sich alles gegen sie verschworen.

»Ich habe Thilo und Christian noch gar nicht gesehen«, sagte Johann Silberberg zwischen zwei Schlucken seines Kaffees.

Katya schüttelte den Kopf. »Sie sind nicht mitgekommen.«

Nach jener ersten Londonfahrt, die so niederschmetternd endete, im August, hatte Henny ihr erstes Kind zur Welt gebracht. Die kleine Jette, von Anfang an Arno Petersens Augenstern. Einen versonnenen Ausdruck auf dem Gesicht, brachte er Stunden damit zu, seine Enkelin in der Wiege zu schaukeln, damit Henny ein wenig kostbaren Schlaf nachholen konnte.

Eines dieser Babys, die Erwachsene auf den ersten Blick in Verzückung versetzten, weil sie so niedlich und herrlich speckfaltig waren und alle anstrahlten; jetzt, mit dreieinhalb Jahren, war Jette, blond gelockt und wonnig, ganz Hennys Ebenbild.

Seitdem wollte kein Kind mehr kommen. Jedes, das in Henny Wurzeln schlug, verlor sie wieder, noch ehe sich ihr Bauch unter den Röcken wölbte. Sie konnten nur vermuten, dass es etwas mit Jettes Geburt zu tun hatte, die schwer gewesen war.

Henny ließ es sich nicht anmerken, aber Katya sah die Traurigkeit, die sich hin und wieder in ihre Augen schlich, sie dumpf und fahl machte. Wie Hennys Blick manchmal umherschweifte, als suchte sie die geisterhaften Schemen ihrer Kinder, die sich nie ganz ausgeformt, nie das Licht der Welt erblickt hatten.

Als ob Hennys Schoß sauer geworden wäre mit dem ersten Kind; eine Säuerlichkeit, die sich in ihren Mundwinkeln festsetzte, in ihre Worte einzog.

Fäden hatten sich gelöst zwischen Christian und Henny, das war spürbar. Wie bei einem Bettlaken, das zu oft ausgekocht und durch die Mangel gedreht worden war. Mit jedem Kind, das nur eine Ahnung blieb, ein wenig mehr.

Diesen Herbst dann war das Licht in Hennys Augen zurückgekehrt, das Lachen auf ihr Gesicht, als sich ihr Bauch zu runden begann. Doch auch diese Hoffnung wurde ihr genommen, kurz vor Weihnachten, und Christian hatte entschieden, dass Henny ihn jetzt mehr brauchte als das Eis, mit ihrer aller Segen.

Thilo war ebenfalls in Hamburg geblieben. Die Jahresabschlüsse, hatte er gemurmelt. Katya glaubte, dass es vielmehr an Grischa lag. Obwohl beide ihre Stimmen dämpften, wenn sie Katya in der Wohnung wussten, konnte sie sie oft streiten hören. Sie spürte die Anspannung zwischen den beiden, wenn sie alle zusammen beim Essen saßen. Ein verbissenes Tauziehen, in dem keiner von beiden nachzugeben oder gar loszulassen bereit schien.

Sogar Katya und Grischa waren in letzter Zeit häufiger aneinandergeraten, über Nichtigkeiten wie die Größe der Eisblöcke, die sie aus dem See schnitten, und Katyas Arbeit im Wirtshaus.

Auch das Gewebe zwischen ihnen vieren begann an den Säumen zu ächzen, die ersten losen Fäden aufzuweisen.

Ihrer aller Nerven lagen blank. Zermürbt waren sie, nach mehr als vier Jahren harter Arbeit, vom Warten und Planen und Bangen und Hoffen. Von der Enttäuschung, die am Ende als Einziges übrig blieb, und der erdrückenden Last ihrer Schulden.

Vielleicht waren Christian und Thilo auch deshalb zu Hause geblieben, weil sie realistischer waren und einzusehen begannen, dass das Geschäft mit dem Eis sinnlos war. Im Gegensatz zu Katya und Grischa, die weiter an ihrem Traum festhielten.

Wenigstens dieses eine Jahr noch.

»Wie würde es danach für dich weitergehen?«, fragte Johann Silberberg behutsam.

Katya zuckte mit den Schultern.

»Ich habe meine Arbeit als Näherin. Zusammen mit Grischas Heuer können wir uns bestimmt irgendwo in der Stadt eine kleine Wohnung leisten. Oder ich gehe nach Tromsø zurück, zu Fru Guðmundsdóttir.«

Mehr als nur ein dünner Strohhalm, der ihr immer bleiben würde.

»Aber das ist nicht das, was du willst.«

Katya schüttelte langsam den Kopf.


»Obwohl ich mir immer sage«, fuhr sie nach einer Weile fort, »dass all das so viel besser ist als das, was mich als Bauernmädchen in Russland erwartet hätte.«

Es war die Wahrheit, und trotzdem hörte sie selbst, wie dünn und aufgeschürft ihre Stimme klang.

Wie Hennys Wunsch nach einem weiteren Kind ein ums andere Mal in einer blutigen Pfütze endete, rann Katya der Traum von einem Handel mit Eis durch die Finger.

Jeder Fehler, aus dem sie lernten, es beim nächsten Mal besser zu machen, jeder neue Einfall erwies sich als genauso nutzlos wie die Kräuter und Pülverchen, zu denen Henny griff, die Leibesübungen oder Bettruhe.

Kühn geträumt hatte sie, Katya. Großes hatte sie erreichen wollen und war gescheitert. Ein elendes Gefühl, mit gerade einmal zwanzig Jahren.

Etwas davon musste auch Johann herausgehört haben.

»Aber?«

»Dieses Land. Voroninvatnet. Beides wird immer da sein, das weiß ich.«

In diesem Winter, der vielleicht ihr letzter hier war, spürte sie besonders deutlich, wie sehr sie hier Wurzeln geschlagen hatte. In dieser weiten weißen Leere, in der Klarheit und Ruhe zu Hause waren. Wo Polarfüchse umherstreiften und die Schneeeulen balzten; Geschöpfe, selbst wie aus Eis und Schnee geschaffen.

Katya blickte sich in der Hütte um.

»Ich weiß nur nicht, wie ich es aushalten soll, dass ich womöglich nie wieder hierherkommen kann, weil ich nicht mehr die Mittel dazu habe.«

»Ich bin sicher, auch dafür wird sich ein Weg finden.«

Johanns Hand legte sich auf ihre.

Zwei Jahre hatten sie einander nicht gesehen, den vergangenen Winter hatte er in Alaska verbracht. Sie freute sich, dass er in diesem Jahr hier war; sofern es ihn nicht irgendwann nach Hamburg verschlug, würde sie auch ihn nicht so bald wiedersehen.

Sechsundvierzig Jahre alt war er jetzt, mit ein paar Linien mehr in seinem wettergegerbten Gesicht, etwas grauer an den Schläfen. Abgesehen von ihrem Bruder, kannte sie keinen Mann so lange wie Johann Silberberg, so gut.

Mit einem Räuspern zog er seine Hand zurück.

»Dann werde ich mich mal durch den Sturm zu meinem Nachtlager kämpfen.«

Katya hatte oft an ihn gedacht. An seine Freundlichkeit und Güte und wie sein Verstand ihr eine neue Sicht auf das Eis eröffnet hatte. Wie wohl sie sich in seiner Nähe fühlte, aufgehoben und geschätzt.

»Du kannst auch bleiben.«

Sie hatte viel darüber nachgedacht, den Sommer über, und ihre Worte sorgfältig gewählt.

Dennoch wurden ihre Wangen heiß, als seine Augen über ihr Gesicht wanderten.

Mehr als die Hälfte ihres Lebens war sie jetzt schon aus Russland fort. Seitdem schien sie ständig gewartet zu haben. Darauf, dass Grischa nach Hause kam oder es Winter wurde. Genug Geld gespart zu haben und den Handel anzugehen. Nach Norwegen zu fahren, ins Eis, und darauf, es im Sommer zu verkaufen.

Immer hatte sie darauf gewartet, dass endlich etwas geschah.

Jetzt, mit zwanzig Jahren, war sie des Wartens müde. Auf etwas, das womöglich niemals kam.

Leben, das war doch jetzt.

»Du hast mir etwas versprochen«, fügte sie hinzu. »Vor vier Jahren. Als der See sang.«

Er schmunzelte. »Wie könnte ich das vergessen haben.«

»Ich bin jetzt erwachsen, Johann. Ich bin eine Frau.«

Seine braunen Augen glänzten verschmitzt.

»Das ist mir nicht verborgen geblieben. Und wie ich es geahnt hatte, eine gefährliche noch dazu.«

Katya beugte sich vor. Als er ihr nicht auswich, sie nicht abwehrte, legte sie die Lippen auf seinen Mund; dann erst durchzuckte sie der Gedanke, dass sie nichts über das Küssen wusste.

Johann wusste davon umso mehr. Vorsichtig war sein Kuss, sanft und warm; nach Kaffee schmeckte er und wie Pfeffer und Salz.

Katya mochte es gern, wie er sie küsste; sie legte die Arme um seinen Nacken, um sich mehr davon zu holen.

»Bist du sicher, dass du das willst?«, murmelte er gegen ihre Haut. »Mit mir? Nicht mit einem jüngeren Mann, der noch in Form ist?«

»Mit dir«, flüsterte Katya an seiner Wange. »Weil du ein guter Mann bist. Weil ich dich kenne und dir vertraue.«

Behutsam löste er sich aus ihrer Umarmung und sah sie ernst an.

»Du könntest ein Kind bekommen.«

Katya hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.

Ein Kind war die kleinste ihrer Sorgen, womöglich wäre es sogar etwas Gutes. Das dachte sie manchmal, wenn sie Henny zusah, wie sie Jette mit Apfelschnitzen fütterte. Wenn Christian bei Tisch seine kleine Tochter auf den Knien hielt wie ein rohes Ei oder wenn sie selbst, Thilo und Grischa mit dem kleinen Mädchen spielten.

Katya stand auf und nahm Johann bei der Hand.

Sie ließen sich Zeit, auf der kleinen Bettstatt, mit langen Küssen, und Katya griff nur ein, als Johanns verstümmelte Finger sich zu sehr mit den Knöpfen ihrer beider Hemden abmühten.

Unter seinen Kleidern war alles an ihm kernig und stramm, mit seinem vorstehenden Bauch von einer Gemütlichkeit, die Katya anziehend fand. Auf diese Weise hatte sie noch nie einen Männerkörper betrachtet, nie berührt, Forscherdrang und Begehren eins. Seine Haut war wie weiches Leder, vernarbt von Eis und Fels, mit einem Dickicht dunklen Haares; wie gewässertes Holz und frisch gebackenes Brot roch er.

Irgendwann nahm er atemlos ihr Gesicht zwischen seine Hände und sah ihr fest in die Augen.

»Denk nicht, dass du immer nur von mir gelernt hast, Katya. Ich habe genauso viel von dir gelernt und tue es noch.«

Katya nickte, das empfand sie auch so, darin waren sie einander ebenbürtig.

Ein paarmal zuckte sie vor ihm zurück. Gestreift von der Erinnerung an Igor, der ihr schmerzhaft die Arme verdrehte, weil Jakov und Boris mit brutaler Neugierde hatten wissen wollen, was für ein Ding sich unter den Röcken ihrer kleinen Schwester verbarg und was ihre groben Burschenhände damit anstellen konnten. An Antons schwitzige Finger, in der Kombüse auf dem Nordmeer, und wie er sich an ihrem Rücken rieb.

Spuren, die Johann geduldig wegstreichelte. Bis ihr Körper lernte, dass von seinen Händen nichts zu befürchten war. Schwielig von den Seilen, mit denen er in den Bergen kletterte, und an den Knöcheln rissig von der Kälte, waren es behutsame Hände. Unter ihrer Wärme geriet alles an Katya ins Fließen; selbst die kleinen Hügel ihrer Brust schienen sich unter seiner Zunge prall zu füllen.

»So muss sich das Eis fühlen«, murmelte sie, »wenn es in der Hand schmilzt.«

Johann lachte zärtlich, und dieses Lachen sprang auf Katya über, weil sein bärtiger Mund sie dabei auf der Rabenfeder zwischen ihren Beinen kitzelte.

Sein Gesicht tauchte über ihrem auf.

»Im sibirischen Permafrost«, raunte er, »ist der Atem der Erde eingeschlossen. Hält man ein brennendes Holz dagegen, schlagen Flammen aus dem Eis. Manchmal entzündet sich daraus sogar ein Feuerball.«

Die Brauen zusammengezogen, versuchte Katya, sich das vorzustellen.

Als Johann sich langsam seinen Weg in sie bahnte, begann sie es zu ahnen. Dann verstand sie es jäh, mit jeder Faser, und schnappte überrascht nach Luft.

Falls einer der Männer einen Verdacht hegte, wo Johann Silberberg seine Nächte verbrachte, ließ er es sich nicht anmerken, genauso wenig wie Grischa.

Hier hatte Katya jedes Recht, so zu leben, wie es ihr gefiel. In diesen sturmumtosten und schneeverwehten Nächten, in denen es nur sie beide zu geben schien.

Katya konnte nicht genug davon bekommen, was Johann aus seinem Kompendium rezitierte, für sie von einer eigenen erotischen Poesie.

Ritni . Der verkrustete Schnee auf Bäumen und Felsen. Cuoŋo . Eine überfrorene Schneedrift, die so stark war, dass sie das Gewicht von Mensch und Tier trug. Skavvi . Das Eis, das sich abends bildete, nachdem die Sonne des Tages den Schnee angetaut hatte. Ciegar . Ein Schneefeld, von Rentieren zertreten und umgegraben. Guoldu . Eine Schneewolke, die beim leisesten Windhauch vom hart gefrorenen Boden aufstob. Jiekŋadoadjin . Die Zeit, in der das Eis aufbrach.

Johann Silberberg streichelte nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Seele.

In dieser vom Feuerschein dämmrig erleuchteten Höhle aus Holz und Pelz, die sie mit zärtlicher Nähe füllten. Mit Lust und Lachen und langen Gesprächen, die Katyas Gedanken anregten und sie mit einer wohligen Müdigkeit in den Gliedern zurückließen.

»Johann?«, flüsterte sie an seiner Brust.

Ein zufriedenes Brummen war seine Antwort.

»Liebst du mich?«

»Sehr.« Liebevoll strichen seine Finger über ihren Arm. »Obwohl meine Gefühle für dich sicher nicht der klassischen Definition von romantischer Liebe entsprechen.«

Katya gluckste in sich hinein, und seine Hand glitt über ihr Haar.

»Und du, liebst du mich?«

»Auch sehr, Johann. Auf eine ganz ähnliche Weise.«

Sein Aufschnaufen war ein halbes Lachen.

Sie stützte das Kinn auf die Hand und sah ihn an.

»Wir könnten heiraten.«

Johann blinzelte, sein Lächeln hatte etwas Trauriges.

»Könnten wir. Wäre da nicht der unglückselige Umstand, dass ich bereits verheiratet bin.«

Katya hob die Brauen. »Das hast du nie erzählt.«

»Vermutlich, weil ich selbst nicht allzu gern daran denke.«

»Warum nicht?«

»Weil es nie schön ist, wenn man an einen solch schwerwiegenden Fehler erinnert wird, den man einmal gemacht hat.«

Johann rieb sich mit dem Fingerknöchel über die Stirn.

»Sie war fasziniert von meinen Forschungen, ich von ihrem Interesse daran. Bis sie begriff, dass Wissenschaft nicht in eleganten Salons gemacht wird. Während ich meinerseits einsehen musste, dass ihr nur daran gelegen war, an der Seite eines klugen Mannes zu glänzen.«

Er seufzte.

»Und da sitzt sie nun wohl noch immer, in einem ihrer Salons, und hofft insgeheim, dass mich bald eine Gletscherspalte verschlingt.«

Aufatmend rollte er sich auf die Seite und zog sie in seine Arme.

»Heiraten ist etwas, das du wirklich nur mit einem Mann tun solltest, den du aufrichtig liebst, Katya. Den du in- und auswendig kennst und mit dem du dein Leben teilen willst.«

Katya drückte den Mund auf seine Brustwarze, dunkel wie ein Kupferpfennig.

»Ich könnte doch auch so mit dir kommen«, murmelte sie in seinen Brustpelz. »Wohin du auch gehst, in Eis und Schnee.«

Er streichelte ihr Gesicht.

»Mach das nicht, Katya. Lauf nicht vor dem Leben davon. Nicht in solch jungen Jahren. Dafür wird später immer noch genug Zeit sein.«

Schweigend schmiegte Katya sich enger an ihn und dachte über Männer und Frauen nach. Über die seltsamen und verschlungenen Wege, in denen sie einander fanden und wieder verloren. Wie etwas zwischen zwei Menschen seinen Anfang nahm, sich über die Zeit veränderte und sich zu etwas anderem auswuchs und ob es sich am Ende immer nach und nach auflöste oder schlicht zerbrach.

Die Liebe hatte so viele Gesichter wie der Schnee, und trotzdem nannte man sie immer nur bei ein und demselben Namen. In diesem Leben, das Katya ungleich komplizierter und unberechenbarer vorkam als das Eis mit seiner Klarheit, seinen exakten kristallinen Strukturen.

Während das Feuer herunterbrannte und der Wind an der Blockhütte rüttelte, wurden ihrer beider Atemzüge langsamer und tiefer.

Katyas Lider hoben sich.

Nur ein Rest Glut glomm noch in der Finsternis. Neben ihr schnarchte Johann, ein behagliches Geräusch wie das Schnurren eines Katers, das durch ihre Haut hindurch vibrierte.

Irgendwo draußen bellte und krächzte selbstbewusst eine Schneeeule, und leise antwortete das Weibchen. Vielleicht war es auch umgekehrt, und sie lockte ihn zum Liebesspiel im Schnee.

Ansonsten war es still. Der Sturm hatte sich selbst verzehrt.

Katya lächelte. Morgen würden sie wieder ins Eis gehen.

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