30
Die Arbeit am Eis war eine Schinderei.
Schweißtreibend und mühselig war es, die hart gefrorene obere Schicht des Sees Bahn für Bahn abzuschälen und in Blöcken von den Rentieren ans Ufer ziehen zu lassen. Scheußlich durch den Widerspruch zwischen der beißenden Kälte, die dicke Kleidung verlangte, und dem nass auf der Haut klebenden Unterzeug.
Hier draußen im Lager schliefen sie in ihren Kleidern, in Zelten unter freiem Himmel. Speckig und schweißverklebt waren sie und schufteten auf dem See, bis ihre Muskeln nachgaben, die Hände trotz der Lederhandschuhe blasig waren und die Knochen bleiern vor Müdigkeit.
Bis zu fünfhundert Pfund konnte ein einzelnes Rentier schleppen. Trotzdem mussten immer mehrere Männer dabei sein, um in abschüssigem Gelände die schwere Last mit ihrer Muskelkraft auszubremsen, bevor die Eisblöcke auf dem festen Schnee schneller wurden als ihr Zugtier und dieses zermalmten.
Die eigentliche Plackerei begann an der Flussmündung. Im Lager der Hirten, wo Männer die Blöcke in die Boote umluden und über den Eidfjordvatnet ruderten. Auf der anderen Seite zogen weitere Rentiere das Eis zur Küste, und aus den Beibooten hievten dann die an Bord gebliebenen Seeleute die glatte und kalte Fracht in den Laderaum der Albatros.
Eine langwierige Prozedur, bei der ihnen ständig die Zeit im Nacken saß. Immer in der Furcht vor einem plötzlichen Wetterumschwung, der ein Ende der Kälte bedeutet hätte. Dem nächsten Lederriemen, der sich an der Kante des Eises durchgescheuert hatte und geflickt oder ersetzt werden musste, oder einem gebrochenen Ruder. Einem Mann, der ausfiel, weil er sich mit einem der scharfen Werkzeuge in Bein oder Arm geschnitten hatte.
Alles, was nur möglich war, holten sie aus den sieben Stunden Tageslicht heraus.
Immer wieder warf Christian einen Blick auf Katya, die in einigen Schritt Entfernung das Eis schnitt. Seine Muskeln hörten nicht mehr auf zu brennen, ausgeleiert fühlten sie sich an. Sein ganzer Körper schien abgenutzt und wund, noch nie hatte er so hart gearbeitet wie in diesen Wochen.
Aber Katya war am Ende ihrer Kräfte angekommen, nachdem weitaus mehr als die Hälfte des Sees abgeerntet war. Kalkig unter dem in der Kälte geröteten und spitz gewordenen Gesicht, gerieten ihre Bewegungen zunehmend unsicher. Einen verbissenen Zug um den Mund, trieb sie sich weiter erbarmungslos an, ihre Augen von einem verblichenen Jadegrün, das er noch nie an ihr gesehen hatte.
Er ging zu ihr.
»Willst du nicht eine Pause machen?«
Ihr Mund verhärtete sich, und sie schüttelte den Kopf.
»Wenigstens eine Stunde?«
Christian hatte entdeckt, was sie selbst seit Tagen vor sich zu verbergen suchte. Ihr Körper war nicht stark genug, um auf Dauer mit den Männern mithalten zu können, nicht bei dieser Knochenarbeit. Ihr unbedingter Wille, sich gegen diese Schwäche aufzulehnen, schlug in Wut um.
»Damit ich für euch Männer Kaffee koche, wie es sich gehört?«
Sosehr er sich an ihrer Widerborstigkeit rieb, umso mehr berührte ihn ihre Verwundbarkeit.
»Musst du so stur sein?«
»Ja, muss ich«, keuchte sie zwischen zwei Zügen mit der Säge. »Solange Männer wie du mir sagen wollen, was ich zu tun und zu lassen habe.«
»Kannst du nicht verstehen, dass ich mich um dich sorge?«
In ihren Augen blitzte es grün auf. »Nein, das kann ich nicht. Wie auch.«
Es war in diesem Moment auf dem klaren Eis, unter dem gläsernen Himmel, dass Christian sah, was er angerichtet hatte. Bei Katya. Bei Henny. Bei sich selbst. Und dass er niemals mehr etwas davon wiedergutmachen konnte.
Ein Schock, der ihm den Atem lähmte und den Magen umdrehte. Mit schweren Beinen und weichen Knien schlich er davon, hilflos, ziellos.
Katyas Erleichterung, dass Christian sie in Ruhe ließ, hielt nicht lange an. Da war etwas in seinen Augen gewesen, das sie nicht mehr losließ, so musste ein Blick in die Tiefe einer Gletscherspalte sein.
Schwer atmend hielt sie inne und richtete sich auf, sah sich nach ihm um.
Ihr Herzschlag setzte aus, als sie ihn auf der anderen Seite des Sees entdeckte. Dort, wo die Natur in ihrer unerschöpflichen Fülle aus dem winterkalten Wasser eine neue Schicht Kristall hatte wachsen lassen. Noch dünn und fragil; deshalb hatten sie den Schnee am Ufer auch mit roten Stofffetzen markiert.
Dort, wo das Wasser tief war, aber wie tief, das wussten sie nicht.
Katya schrie seinen Namen und flog und schlitterte über das Eis. Durch den Schnee rannte sie, der es ihr schwermachte vorwärtszukommen, und rief in einem fort nach Christian.
Nach den anderen Männern, nach irgendeiner Macht, die die Zeit anhalten ließ und die Schwerkraft aufhob.
Erst als einer seiner Stiefel unter ihm wegrutschte, bemerkte Christian, wo er sich befand, und rieb sich über die nassen Augen. Taub und blind war er vor sich hin getrottet, vielleicht war es die Kälte gewesen, die ihm Tränen in die Augen getrieben hatte, vielleicht hatte er auch geweint.
Unter dem Eis konnte er den See sanft wogen sehen; ein Gefühl von Schwindel, obwohl er fest auf den Füßen stand. Noch.
Er blickte über die Schulter. Das Ufer lag ein gutes Stück hinter ihm, aber nicht zu weit, wie er hoffte. Er versuchte, sich leicht zu machen, und glitt einen Schritt zurück, dann noch einen; das Eis federte unter ihm. Mit einem Geräusch wie eine Eierschale, die man zerschlug.
Christian fiel in eisig nassen und zugleich brennenden Höllenschmerz, in Atemnot und das herzrasende Wissen um das Ende.
Mehr Flüche auf ihren Lippen als Gebete, ließ Katya sich bäuchlings auf das Eis sinken, wie man es ihr schon als kleines Kind eingebläut hatte, und robbte auf die Stelle dunklen Wassers zu, die Christian verschlungen hatte. Sie tauchte den Arm hinein, und die Kälte schnitt mit Messern in ihre Haut, riss ihre Adern auf. Doch sie konnte nichts von Christian tasten, nirgendwo einen Schatten unter dem Eis erkennen.
Schreiend hieb sie mit der Faust, mit den Ellbogen auf das Eis ein, das klirrend splitterte, um ihm mehr Raum zum Auftauchen zu verschaffen. Brüllte den See an, ihr Christian zurückzugeben, und brach beinahe in Tränen aus, als eine steif gefrorene Hand sie am Arm packte.
Er zog zu fest, vielleicht war er auch zu schwer, seine Kleidung vollgesogen mit Wasser. Das Eis unter ihrer Brust gab nach, und Katya sackte nach vorn. In eisige Nässe, die ihr die Luft aus der Lunge presste und das Herz einem Kollaps entgegenpeitschte.
In eine blaue Dunkelheit, die sie unerbittlich hinabriss in einen Kampf gegen das Wasser, gegen Christians Gewicht, gegen ihr eigenes.
Sie versuchte, sich zu erinnern, was das Richtige war, ihn mit sich nach oben zu ziehen oder ihn loszulassen. Sie musste sich entscheiden; es gelang ihr nicht, ihr Verstand begann bereits einzufrieren.
Das Schlimmste war die Erkenntnis, dass ihr Element ihr heute zum Feind geworden war und vielleicht zu ihrem Grab.
Etwas krallte sich in ihren Rücken, zerrte an ihr, und sie ließ los, sie hatte keine andere Wahl. Die groben Männerhände taten ihr weh, als sie ihr die nassen Kleider vom Leib rissen, die auf der Haut festgefroren schienen, während sie Wasser hochwürgte und aushustete und die eisige Luft ihre Kehle und die Lunge verätzte.
Doch nichts davon bereitete ihr, nackt und ungeschützt, solche Schmerzen wie die Kälte oben auf dem Eis. Als ob alle ihre Blutgefäße zerplatzten, so fühlte es sich an.
Wie ein Schlag gegen den Kopf, der bewusstlos machte.
Aus tiefster Schwärze trieb Katya herauf und blinzelte in eine warm erleuchtete Dunkelheit hinein.
Ihr war heiß, Pelz klebte auf ihrer Haut, und doch rieselte immer wieder ein Kälteschauder durch sie hindurch. Einen Moment lang glaubte sie, sich in ein Tier des Winters verwandelt zu haben, in einen der Polarfüchse, die manchmal am Horizont vorübertänzelten, oder in ein wildes Ren.
Bis sie begriff, dass sie nackt zwischen dicken Schichten von Felldecken lag.
Alle Knochen im Leib taten ihr weh, in Ellbogen und Händen pochte es, als wäre sie gegen eine Wand gerannt. Eine Wand aus Eis.
Dann fiel es ihr wieder ein.
Tief atmete sie ein und wieder aus. Ein unbelasteter, freier Atemzug, der neben ihr ein Echo fand. Suchend blinzelte sie umher, und ihr Blick traf sich mit dem Christians. In Felle eingepackt, hatten sie sie nebeneinandergelegt, damit nicht nur das Feuer in der Mitte des Zelts die beiden wärmte, sondern auch einer den anderen.
Dunkel waren seine Augen im Zwielicht, erst ein Aufzüngeln der Flammen brachte ihren blauen Schimmer hervor. Sie hatte ihn noch nie unrasiert gesehen; wild sah er mit diesen rauen Stoppeln aus, darunter schien etwas umso Verletzlicheres hervor.
»Du hast mich dort rausgeholt«, flüsterte er.
Nur ein Wirbel finsterer Schlieren war Katya im Gedächtnis geblieben, in der frostigen Bläue des Wassers. Ein Ringen um Luft und Leben und Tod und das klägliche Gefühl, versagt zu haben.
Sie deutete ein Kopfschütteln an, sogar diese leichte Regung schmerzte.
»Ich hätte uns beide beinahe umgebracht. Oder du uns. Ich weiß es nicht mehr.«
Christian konnte es immer noch fühlen. Wie Katya ihn unnachgiebig umschlungen hatte, ihre Finger tief in ihn gekrallt. Als wollte sie ihn niemals mehr loslassen.
So waren sie aus der Tiefe aufgestiegen. Ans Licht, wo sich Grischa und Thilo, Harri, Mokci und Ailo auf dem Eis ausbreiteten wie Seesterne, um Katya und Christian aus dem Wasser zu zerren.
»Nein, Katya, du hast mich gerettet. Ich erinnere mich genau.«
»Vielleicht spielt es auch keine Rolle«, wisperte sie, zu ausgelaugt, um energisch zu widersprechen.
Das Einzige, was zählte, war, dass sie es heil aus dem eisigen Wasser herausgeschafft hatten.
Nichts anderes war mehr von Bedeutung. In diesem Zelt aus Leder, vom Widerschein des Feuers rötlich erhellt.
Wie im Inneren eines Menschenherzens, das Zucken der Flammen und ihrer Schatten sein gleichmäßig ruhiger Schlag, das Prasseln und Knistern des Feuers dessen Nachhall.
»Das war dumm von mir«, sagte er leise, wie zu sich selbst, »nicht darauf zu achten, wohin ich meine Schritte setze.«
»Sehr dumm.«
Ein kaum sichtbares Lächeln ging zwischen ihnen hin und her, bevor Christian wieder ernst wurde.
»Ich mache manchmal dumme Sachen, ohne dass ich hinterher weiß, warum.«
Katya horchte auf, sah ihn aufmerksam an; er schien den Tränen nahe zu sein.
Er klang wie jener Christian, in den sie sich vor einem Jahr verliebt hatte. Als hätte das Eiswasser seine großspurige, selbstgefällige Hülle abgebeizt.
Wie ein Junge kam er ihr vor, der verzweifelt versucht hatte, das zu sein, was er sich unter einem Mann vorstellte, und sich dabei aus den Augen verloren hatte. Als ob ihm jetzt dämmerte, dass er dabei nicht nur sich selbst Gewalt angetan hatte, sondern auch anderen.
»Es war auch nicht gerade klug von mir, dir auf das Eis zu folgen.«
Damit kam sie ihm vorsichtig ein Stück entgegen.
»Aber mutig«, erwiderte er leise, mit einem sanften Vibrieren in der Stimme.
Lange sah er sie an. In seinen Augen glomm ein Leuchten auf, das sich über sein ganzes Gesicht ausdehnte.
»Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist.«
Seine Hand legte sich an ihre Wange. Als müsste er sich trotz allem versichern, dass auch ihr Herz noch schlug, wieder warmes Blut durch ihre Adern floss.
Es schien nur natürlich, dass sein Mund folgte.
Ein Kuss, der auch für Christian wie der erste war, vorsichtig und scheu. So pur und rein, dass dieser Kuss sich selbst genug war, nicht nach mehr verlangte. In dem nicht nur ihr Atem ineinanderfloss, sondern auch etwas von ihrem Wesen.
Unverfälscht von Worten und deren Fallstricken. Von einem Schweigen, an dem nichts falsch zu verstehen war.
Wie es hätte sein sollen, vom ersten Moment an, als sie einander in die Augen gesehen hatten.
Ein Kuss, in dem Katya versank und dabei leicht und schwerelos wurde.
Es hatte keine Bedeutung, dass sie beide nackt unter den Rentierfellen lagen. Nur ein Junge und ein Mädchen waren sie, die sich in aller Unschuld begegneten, jeder Gedanke an Geschlechtlichkeit an die Ränder der Nacht verdrängt.
»Das ist doch Wahnsinn, was wir beide tun«, murmelte Christian an ihrem Mund.
Und meinte all den Zorn und die Feindseligkeit, die er heraufbeschworen hatte. In Stolz und Eitelkeit und seiner Ungeduld.
Katya verlor Christian aus den Augen. Ihr Blick fing sich an der Rauchsäule des Feuers, die durch die Öffnung zwischen den Astgabeln des Zeltes in den Himmel aufstieg.
In dieser Nacht gab es nur sie beide, in der Wärme dieses Lederherzens, mitten im norwegischen Winter. Aber es würde ein Morgen geben und ein klares, kaltes Tageslicht und eine Heimkehr nach Hamburg. Wo Henny auf ihren Christian wartete, der ihr vor Gott und den Menschen Liebe und Treue gelobt hatte.
»Ja. Wahnsinnig ist es«, erwiderte sie.
Und meinte diesen Kuss, der so viel versprach und nichts davon halten konnte.
Ohne Christian noch einmal in die Augen zu sehen, wandte sie den Kopf ab und drehte sich unter den Felldecken um.
Christian betrachtete die scharfen Schulterblätter unter ihrer weißen Haut, wie gekappte Flügel. Eine neue Kälte kroch in ihm herauf, genauso schneidend wie das Wasser des Sees.
»Du hast ein Herz aus Eis, Katya.«
Katya beobachtete die Schatten, die die Flammen über die Zeltwand warfen; unheilvoll kamen sie ihr jetzt vor, wie mahnend.
Was auch immer zwischen ihr und Christian gewesen war, glich der Eisdecke, durch die sie heute eingebrochen waren. Viel zu dünn und spröde, um auch nur einen von ihnen tragen zu können, lauerte darunter nichts als Schmerz und Unglück.
»Nein, Christian. Du bist derjenige, der einen Splitter aus Eis in seinem Auge hat. Wo auch immer die Sonne sich gerade darin bricht, dahin richtest du deinen Blick. Du willst immer das, was du nicht haben kannst.«
Hielt sie weiter an ihm fest, würde sie ertrinken, das verstand sie jetzt, in einer zähen Eisigkeit, der sie nichts entgegenzusetzen hatte.
Und in diesem Moment, als sie sich erschöpft unter den Felldecken zusammenrollte und entschied, ihn loszulassen, fiel ein Gewicht von ihren Schultern, von dem sie nicht gewusst hatte, dass sie es mit sich trug.