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Um den Tisch, an dem Grischa saß, summte und brummte es wie in einem Bienenstock. Über den feinen Klängen von Silberlöffeln und Porzellan kräuselte sich Zigarrenrauch zur Decke hinauf, hin und wieder rollte polterndes Gelächter heran.

Das Kaffeehaus an der Großen Reichenstraße war wie immer gut besucht, ausschließlich von männlichen Gästen. In die beiden Pavillons am Jungfernstieg führte man die Damen aus, rein für das Amüsement und um in der Gesellschaft gesehen zu werden.

Hierher kam, wer Geschäfte machte oder welche machen wollte. Die Börse lag gleich um die Ecke, das Rathaus, die Schiffergesellschaft und das Eimbeck’sche Haus mit Handelsgericht, Zollkontoren und der Sparkasse.

Hier schlug das Handelsherz von Hamburg.

Grischa warf einen prüfenden Blick auf seine Halbschuhe, in denen er sich spiegeln konnte, und zupfte ein Fädchen von der Hose seines neuen Anzugs, der teurer aussah, als er tatsächlich gewesen war. Heute Morgen beim Rasieren noch ein frischgebackener Kapitän, gerade von der See zurückgekehrt, war jetzt jeder Zoll von ihm ein erfolgreicher Geschäftsmann, der wesentlich reifer wirkte als dreiundzwanzig Jahre.

Mit einem Nicken bedankte er sich beim Kellner, der ihm den Kaffee brachte, und schlug die Times auf. Der Grund, weshalb er so oft hierherkam; für den Preis von ein oder zwei Tassen Kaffee konnte er sich durch eine reiche Auswahl an Tageszeitungen lesen und dabei die Ohren offen halten.

Grischa war noch immer ein langsamer Leser. Besonders auf Englisch, das er sich im Kopf vorsagen musste, um es zu verstehen. Sein erster Blick galt stets dem Wetterbericht, und dieser ließ ihn jetzt in sich hineinlächeln.

Das warme Frühlingswetter, das er auf seiner jüngsten Fahrt nach England erlebt hatte, hielt weiterhin an; zusammen mit einem milden Winter schienen die Zeichen günstig zu stehen, dieses Jahr endlich das große Geschäft zu machen, das sie dringend benötigten. Dutzende weitere Adressen von Händlern und Haushalten in London, die vielleicht Interesse an ihrem Eis hätten, hatte er in seinem Seesack mitgebracht. Christian würde die nächsten Tage viel mit Werbebriefen zu tun haben.

Über dem ersten Schluck Kaffee traf sich sein Blick mit einem Paar anderer Augen, glänzend wie Oliven hinter den Brillengläsern. Ein junger Mann, der allein in einer Ecke saß, vielleicht so alt wie Grischa, sicher nicht viel älter.

Immer wieder kreuzten sich ihre Blicke über den Raum hinweg, musterten eingehend, wie abschätzend. In den Augen des anderen Mannes funkelte es; wie stolz er den Kopf hielt, einen herausfordernden Ausdruck auf dem gemeißelten Gesicht, ging etwas Rebellisches von ihm aus.

Mit seinem dunklen Haar, der gebräunten Haut war er eindeutig kein ursprünglicher Nordländer. Ein Russe womöglich, wie Grischa, oder ein Ungar. Aus Italien oder Spanien, vielleicht jüdisch.

In keiner deutschen Stadt lebten mehr Juden als in Hamburg, wie es hieß. Sephardim aus Portugal und deutsche Juden, deren Kreise sich nie überschnitten und die ihre jeweils eigenen Synagogen hatten, beide in der Nähe des großen und des kleinen Michel.

Grischa hegte große Sympathien gerade für die jungen Juden, die sich nicht länger damit abfinden wollten, Bürger zweiter Klasse zu sein. Die Sündenböcke des kleinen Mannes, zu dem der Aufschwung der Stadt noch nicht übergeschwappt war. Der unter den steigenden Preisen für Getreide und Fleisch litt und dem freien Handel ebenso misstrauisch gegenüberstand wie der neuen Freiheit in Handwerk und Gewerbe, die auf einen Wettbewerb untereinander setzte.

Auch Grischas Anzug stammte aus einer jüdischen Schneiderei, woanders hätte er sich diese Qualität niemals leisten können.

Grischa hatte erst später durch das Gerede im Hafen davon erfahren, er war in jenem Sommer vor drei Jahren auf See gewesen. Gäste der Kaffeehäuser am Jungfernstieg hatten sich über die jungen Juden beschwert, die dort französische Zeitungen lasen – voll mit Berichten über die Julirevolution in Paris, ausgerechnet! – und sich vor der erlaubten Uhrzeit Zigarren anzündeten. Ein Wort ergab das andere und mündete in ein Handgemenge zwischen den jungen jüdischen Männern und einer aufgebrachten Menschenmenge. Ausschreitungen, die sich weiter aufschaukelten und auf den Hamburger Berg übergriffen, verschärft von schlagkräftigen Matrosen und Polizeidienern, bis es Verletzte und sogar Tote gab und am Ende das Militär eingreifen musste.

Unruhen, die die Stadtväter heruntergespielt hatten, um dem Ruf Hamburgs als weltoffen und frei – und vor allem dem Handel – nicht zu schaden.

Sich gegen herrschende Ungerechtigkeit aufzulehnen, indem man dieselben Rechte für sich einforderte, wie sie anderen Menschen ganz selbstverständlich gewährt wurden, erinnerte Grischa an den ungebärdigen, zornigen Burschen, der er einst in Russland gewesen war.

Schließlich deutete sich ein Lächeln auf dem Gesicht seines Gegenübers an, das Grischa genauso dezent erwiderte.

Immer häufiger verhakten sich ihre Blicke ineinander, gewannen an Tiefe. An Feuer.

Es verblüffte ihn jedes Mal wieder, wie Männer, die Männer liebten, einen sechsten Sinn füreinander zu haben schienen, unabhängig von Herkunft oder Alter; so wie sein Gespür für den Wind und den Regen, dachte Grischa.

Besonders hier in Hamburg war es leicht, einander halbwegs offen zu begegnen, in dieser Hinsicht machte die Freie und Hansestadt Hamburg ihrem Namen alle Ehre. Auf englischem Boden musste Grischa weitaus vorsichtiger sein, dort stand der Tod auf eine solche Liebe.

Der andere junge Mann legte ein paar Mark auf den Tisch und trank demonstrativ seine Tasse leer. Die Art, wie er aufstand, sich dabei in seiner zähen Drahtigkeit zur Schau stellte und mit einem langen Blick in Grischas Richtung zu seinem Hut griff, war eine unmissverständliche Aufforderung.

Grischa zögerte.

Seit seiner ersten Nacht mit Thilo war er mit keinem anderen Mann zusammen gewesen. Nur mit Frauen.

Was seine Untreue nicht besser machte, das wusste er wohl. Er konnte selbst nur vermuten, was daran Trotz war und verwundeter Stolz, weil Thilo ihn zu lieben vorgab, aber bedingungslose Hingabe einforderte. Grischa war noch nicht so weit, er brauchte das Neue, Fremde, Unbekannte wie die Luft zum Atmen. Den Rausch der Eroberung, wenigstens von Zeit zu Zeit.

Wie ein Fels und der Wind waren sie, das ging ihm manchmal durch den Kopf. Keiner konnte dem anderen ausweichen, keiner von beiden blieb dabei unberührt, und doch konnten sie nicht auf Dauer zusammenkommen.

Dass Thilo Grischa nicht so lieben konnte, wie er war, Grischa seinerseits Thilo nicht die Art von Liebe geben konnte, die dieser verdiente, erfüllte Grischa mit einer hilflosen und manchmal zornigen Traurigkeit.

Grischa hatte die Hand schon in seiner Hosentasche, um ebenfalls zu bezahlen, als ein Auflachen irgendwo hinter ihm aufsprudelte.

»… doch, wirklich. Den Eiskönig von Boston nennen sie ihn.«

Grischa erstarrte. Angestrengt lauschte er im Stimmengewirr des Kaffeehauses nach Gesprächsfetzen.

Frederic Tudor.

Eis.

Kalkutta.

Der glutäugige junge Mann war vergessen. Grischa warf die Zeitung auf den nächsten Stuhl, knallte das Geld auf den Tisch und schnappte sich seinen Hut.

Dann rannte er in den Apriltag hinaus. In Richtung der Zollenbrücke, zur Commerzbibliothek, um dort so viel Material über Indien zu lesen, wie er finden konnte, und danach in den Hafen, um in den Kontoren und unter den Seeleuten herumzufragen.

Wieder ganz der stürmische russische Junge, der seine große Chance witterte.

Während Katya und Thilo sich in der Küche der Petersens an das Abendessen machten, warfen sie sich immer wieder verstohlene Blicke zu.

Am Küchentisch thronte Jette auf dem guten Knie von Arno Petersen und erzählte ihrem Großvater mit glockenhellem Stimmchen, was sie gerade mit Buntstiften malte. Eine Sonne und die Schiffe und der Kirchturm und natürlich Möwen, ganz viele davon, die bis aufs Meer hinausflogen.

Die Wohnungstür klappte zu, und Henny wirbelte erhitzt herein.

»Abend, Vadder.«

Sie drückte einen schnellen Kuss auf Arno Petersens Wange, bevor sie mit girrenden Lauten und feuchten Küssen ihre Tochter herzte.

»Was hab ich dich heute vermisst, mein Schatz. Ganz, ganz arg vermisst hat die Mama dich!«

Jette quietschte vergnügt.

»Danke, dass ihr auf sie aufgepasst habt.« Henny blies sich eine lose Locke aus der Stirn. »War sie denn auch brav?«

Zärtlich strich Arno Petersen über das goldene Haar seiner Enkelin.

»Gibt kein lieberes Mädchen weit und breit.«

»War viel los?«, erkundigte sich Thilo und ließ die Gemüsestückchen vom Schneidbrett in den Topf vor Katya gleiten, in dem schon die Zwiebeln brieten.

»Höllisch!« Strahlend richtete sich Henny auf.

Je mehr im Laden zu tun war, umso munterer schien sie, eine Forelle im Wasser. Nicht nur im Hinblick auf einen satten Umsatz in der Kasse; zwischen Regalen und Toonbank mit anzupacken und der Schnack mit den Kunden, das schien sie von trüben Gedanken abzulenken.

Von ihrem Versagen, weitere Kinder in die Welt zu setzen.

»Das riecht aber gut.« Sie schnupperte in die Luft. »Ist lieb, dass ihr beide kocht.«

»Keine Ursache«, entgegnete Katya freundlich und bekam auch eines von Hennys Küsschen ab.

»Ich geh mich nur schnell frisch machen«, rief Henny, schon wieder an der Tür. »Christian kommt auch gleich hoch.«

Arno Petersen schaukelte seine Enkelin auf dem Knie.

»Deckst du mit mir zusammen den Tisch, Mäuschen?«

Mit einem freudigen Ja hüpfte Jette herunter und zog ihren Großvater hinter sich her in die gute Stube.

Sobald sie allein in der Küche waren, schlang Thilo die Arme um Katyas Taille, und ihr Lächeln vertiefte sich.

»Ich kann es kaum abwarten, bis wir verheiratet sind«, murmelte er in ihren Scheitel.

Thilo drückte sie fester an sich, und Katya lachte auf, so deutlich fühlte sie seine Ungeduld in ihrem Rücken.

Im Herbst wollten sie heiraten, nur eine kleine Feier.

Der Buchhalter und die Näherin, sagte Thilo mit schmunzelnder Ironie, wenn sie darüber sprachen, bei einem Spaziergang am Wasser oder abends im Wohnzimmer oben, eng umschlugen auf dem Sofa.

Vielleicht sind wir dann aber auch schon reich, entgegnete Katya jedes Mal, voller Zuversicht auf den bevorstehenden Sommer und ihre geplante Fahrt nach London.

Nur gesagt hatten sie es noch keinem.

Katya drehte sich um, und sie küssten sich, zärtlich und ein bisschen fahrig, weil schon im nächsten Moment jemand sie dabei überraschen konnte.

Außer Atem hielten sie inne, und Katya fuhr durch sein seidiges weißblondes Haar.

»Du weißt, dass du jederzeit in mein Zimmer kommen kannst«, flüsterte sie. »Nachts.«

»Ja«, kam es lahm von Thilo.

Sosehr er Katya begehrte und nachts mit offenen Augen von ihr träumte, so große Scheu empfand er bei dem Gedanken, diesen Schritt tatsächlich zu wagen.

»Ich möchte trotzdem erst warten, bis wir verheiratet sind«, raunte er gegen ihre Schläfe.

»Dann sollten wir es ihnen endlich sagen.« Katyas Hände streichelten über seine Hemdbrust. »Heute Abend, wenn wir alle an einem Tisch sitzen.«

»Das machen wir«, versprach Thilo mit einem weiteren Kuss.

Obwohl ihm bei dem Gedanken, sowohl Christian als auch Grischa dabei ins Gesicht sehen zu müssen, flau in der Magengrube wurde.

Sie warteten nicht mit dem Essen, bis Grischa kam. Er verspätete sich oft, wenn er in der Stadt oder im Hafen zu tun hatte, und konnte sich darauf verlassen, dass immer ein Teller mit Essen für ihn aufgewärmt werden würde.

Christian berichtete von den guten Umsätzen der letzten Tage, Henny steuerte den neuesten Klatsch aus der Nachbarschaft bei, und Arno Petersen versuchte, Jette dazu zu überreden, die Erbsen zu essen, anstatt sie am Tellerrand aufzureihen wie eine Perlenschnur. Währenddessen tauschten Thilo und Katya immer wieder ein Lächeln, verflochten unter dem Tisch ihre Finger miteinander.

Thilo war gerade aufgestanden, um die leeren Teller abzuräumen, als es an der Wohnungstür klopfte. Seinen Hut und eine zusammengerollte Karte in den Händen, marschierte Grischa, verschwitzt und staubig, mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht an ihm vorbei in die Stube.

»Wir bringen unser Eis nach Indien!«

Einige Herzschläge lang herrschte eine starre Stille, in der keiner einen Finger rührte oder auch nur mit der Wimper zuckte.

Dann löste sich der Bann mit einem Schlag, und alle redeten durcheinander, warfen sich gegenseitig Fragen und Antworten zu, überschrien sich mit Einwänden und Argumenten.

Nur langsam verflog die erste Aufregung, und das Stimmengeflecht lockerte sich zu einer lebhaften, aber rationalen Diskussion.

»Ich bringe die Kleine ins Bett«, sagte Arno Petersen mitten hinein und stemmte sich schmunzelnd in die Höhe. »Kümmert ihr euch nur in Ruhe um euer Geschäft.«

Bereits herzhaft gähnend und sich mit der kleinen Faust die Augen reibend, gab Jette reihum Gutenachtküsschen, bevor sie ihre Hand in die ihres Großvaters schob.

Thilo und Katya hatten rasch die Teller zur Seite gestellt, der Abwasch konnte warten; jetzt war nichts wichtiger, als dass sich alle zusammen um den Tisch drängten, bei einer Kanne von Hennys extrastarkem Kaffee.

Über den aufgewärmten Resten, die er in sich hineinschlang, erzählte Grischa von Frederic Tudor, der in diesem Jahr sein Eis zum ersten Mal ins indische Kalkutta zu verschiffen plante, damit die englischen Kolonialherren in der Tropenhitze ihre Drinks und deren Ladys ihre Limonaden kühlen konnten.

»Und du willst versuchen, Tudor dort Konkurrenz zu machen?« Thilos Stimme troff vor Ironie. »Dazu müssten wir ihn unterbieten, und das können wir uns nicht leisten.«

»Nicht unterbieten«, widersprach Grischa ungeduldig. »Wir schnappen ihm das Geschäft vor der Nase weg. Wir müssen nur schneller sein. Tudors Schiff wird im Mai in See stechen, muss aber erst noch den Atlantik überqueren. Wenn wir unsere Fahrt rechtzeitig auf die Beine stellen, haben wir in jedem Fall wenigstens zwei Wochen Vorsprung.«

In Christians Augen blitzte es auf. »Denkst du an ein Wettrennen?«

Der Funke sprang auf Grischas Augen über. »Wir fordern Frederic Tudor heraus.«

Auf Christians Gesicht zeichnete sich ein Grinsen ab.

»Das müssen wir ankündigen. Am besten in den Zeitungen vor Ort.«

Er riss Bleistift und Papier an sich, die vor Thilo lagen, und hielt mit konzentrierter Miene erste Stichworte fest.

Thilo musterte die Karte, die Grischa in der Mitte des Tischs ausgebreitet hatte, an den Rändern von Salz- und Pfefferstreuer und der Keksdose beschwert, aus der sich Henny großzügig bediente.

»Von was für einem Zeitrahmen reden wir hier überhaupt? Wie lange würden wir nach Kalkutta unterwegs sein?«

»Je nach Wind und Wetterlage etwa dreieinhalb Monate.«

Eine schockierte Stille machte sich breit.

Thilo reagierte als Erster, polternd und fast drohend.

»Und dann auch wieder dreieinhalb Monate für den Weg nach Hause? Grischa, du spinnst. Wir können hier nicht alles für mehr als ein halbes Jahr stehen- und liegenlassen. Schon gar nicht den Laden.«

»Ich bin doch auch noch da«, wandte Henny mit vollem Mund ein, fast gekränkt.

Thilo war noch nicht fertig.

»Und was ist mit den Bestellungen aus London? Willst du die stornieren? Wenn wir das jetzt machen und mit unserem Eis in Indien Schiffbruch erleiden, kriegen wir nie wieder einen Fuß auf den Boden. Dann sind wir ein für alle Mal erledigt.«

Darüber hatte sich auch Grischa bereits Gedanken gemacht.

»Wir fahren dieses Jahr mit zwei Schiffen. Auf zwei verschiedenen Routen. Entweder teilen wir uns auf …«

Die enttäuschten bis empörten Blicke der anderen unterbrachen ihn, und einer seiner Mundwinkel zuckte.

»Umso besser. Die Albatros segelt wie geplant im Juli nach London. Albers hat uns bis jetzt jedes Jahr begleitet, der kann die Fracht auch ein Mal ohne uns ausliefern und uns den Erlös zurückbringen. Und wir stechen alle noch vor dem Sommer zusammen in Richtung Kalkutta in See.«

»Wo nimmst du ein zweites Schiff her?«, fragte Thilo beharrlich.

»Ich spreche gern noch mal mit meinem Vater«, schlug Henny vor.

Jettes Geburt hatte endgültig Frieden zwischen den Pohls und den Petersens gebracht; Christian und Henny waren regelmäßig mit ihrer Tochter sonntags am Brook zum Mittagessen mit anschließendem Spaziergang und Kaffee.

Thilo schüttelte den Kopf. »Wir haben kein Geld für ein zweites Schiff.«

Grischa beugte sich vor, die Brauen zusammengezogen und die Augen von dunklem Ernst.

»Dann beschaff uns welches.«

»Und woher bitte?«, erwiderte Thilo mit höflicher Härte. »Wir können im Herbst nicht einmal unser Darlehen zurückzahlen.«

In diesem Wortwechsel zwischen Thilo und Grischa, der etwas Erbittertes hatte, ging es um mehr als um die Kosten eines zweiten Schiffs, das war für alle spürbar.

Christian sah zu Katya.

»Haben wir denn genug Eis für zwei Fahrten im selben Jahr?«

Katya dachte an den aus Blöcken aufgeschichteten Eisberg, der das Lagerhaus auf frostige Temperaturen herunterkühlte und dabei wegen seiner schieren Masse selbst erfreulich wenig Wasser ausschwitzte.

Im Kopf überschlug sie die bisher eingegangenen Bestellungen.

»Wenn wir uns darauf beschränken, in England nur das Eis auszuliefern, was dort geordert wurde, ja.«

Christian klopfte mit dem Ende des Bleistifts auf das Papier vor sich.

»Und wie viel Eis werden wir unterwegs verlieren? In dreieinhalb Monaten auf See, unter der Sonne?«

Katya dachte an das Eis, das in diesem Jahr so dicht und klar und schwer war wie dickstes Glas. Ein geduldiges Eis, in dem alle Zeit der Welt eingefroren schien.

»Vielleicht die Hälfte, vielleicht weniger.«

Sein Blick auf sie schärfte sich. »Glaubst du oder weißt du?«

Auch Katyas Augen kühlten ab. »Schätze ich.«

Christian deutete ein Nicken an; die Art, wie er dabei die Luft einsog, verriet, dass ihn diese Antwort ganz und gar nicht zufriedenstellte, und Katya funkelte ihn angriffslustig an.

»Also sind wir uns einig, mit London und Kalkutta?«, fragte Grischa in den Raum.

Katya und Christian nickten, dann blickten alle zu Thilo.

Den Kopf gesenkt, brütete er schweigend vor sich hin, bevor er schließlich die Schultern zuckte.

»Was soll’s? Wir sind ohnehin dabei, alles zu verlieren. Dann können wir auch alles riskieren.«

Henny sprang auf, um den Schnaps zu holen, mit dem sie auf diese Entscheidung anstießen. Vielleicht tranken sie sich auch schlicht Mut an; in jedem Fall blieb keine Atempause mehr für die Neuigkeit, die Katya und Thilo zu verkünden gehabt hätten.

Noch in derselben Woche wurden Thilo und Christian bei der Bank vorstellig, um einen Zahlungsaufschub zu erwirken. Thilos Zahlenspielereien, Christians begeisterte Schilderungen von Tonnen von Eis unter indischer Sonnenglut wogen allerdings nicht halb so viel wie die zähe Hartnäckigkeit, mit der sie um ein paar Monate mehr Zeit rangen.

Schließlich gaben die Herren auf der Bank nach; das Haus am Kehrwieder mit den Wohnungen und dem gut eingeführten Laden gehörte ihnen schon so gut wie sicher, da konnten sie auch noch bis zum Beginn des kommenden Jahres warten.

Henny tat das, was jede gute Ehefrau an ihrer Stelle getan hätte. Sie steckte Jette in ihr schönstes Kleidchen, band ihr große Schleifen in die Locken und stattete Heinrich Pohl in seinem Kontor einen überraschenden Besuch ab.

Und nachdem Heinrich Pohl allen Kapitänen und Händlern, die nach und nach eintraten, um ihre Papiere abgefertigt zu bekommen, mit großväterlichem Stolz seine niedliche Enkeltochter gezeigt hatte, erwischte Henny einen günstigen Moment, in dem sie ihren Vater um zweitausend Mark und ein Schiff für die Fahrt nach Indien bat.

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