19
Das Bett neben dem Tisch war abgezogen, das Fenster mit Blick auf die Berge und den Sund geputzt, der Boden frisch gewischt und der Schrank leer. Ein letztes Mal ließ Katya den Blick durch die Kammer schweifen; nach ihr würde vielleicht ein anderes Mädchen einziehen.
Silja Guðmundsdóttirs Schritte holten sie aus ihren Gedanken.
»Hast du alles?«
Katya nickte. Alles, was sie besaß, hatte in der Reisetasche aus besticktem Segeltuch Platz gefunden, und doch verließ sie Tromsø ungleich reicher, als sie hier angekommen war, fünfeinhalb Jahre war das jetzt her.
»Grischa«, begann sie, kam jedoch nicht weiter; wie konnte sie im Namen ihres Bruders sprechen, wenn ihr selbst die Worte für einen Abschied fehlten.
Silja Guðmundsdóttir schüttelte den Kopf.
Es war besser so, dass sie einander nicht wiedergesehen hatten. Nachdem Grischa sie noch einmal lange geküsst hatte, an jenem Spätsommermorgen, bevor er sich aus dem Bett schälte und zu seiner nächsten Fahrt aufbrach.
Von der er nicht zurückkehren würde, wie Silja nun wusste; jetzt hatte er Hamburg zu seinem Ankerplatz gemacht.
Dass es kein Lebewohl gab, ersparte ihr die Peinlichkeit, womöglich doch noch sentimental zu werden. Sich an ihn zu klammern und ihm einen Liebesschwur abzuringen, den er nicht ehrlich meinte. Ihn an eine Kette aus Schuldgefühl und falscher Dankbarkeit zu legen.
Grischa hatte ihr mehr gegeben, als er jemals wissen würde.
Sie zürnte ihm nur, dass er nach Katya geschickt hatte wie nach einem vergessenen Koffer oder einem Sack Kartoffeln, anstatt sie abzuholen.
Zum Glück hatte Ingmar Einarsson sein Wort gegeben, auf das Mädchen aufzupassen, als hätte er eine seiner eigenen Töchter an Bord, während er Klippfisch nach Hamburg fuhr, um von dort eine Ladung Tuch und Zucker und Getreide mitzubringen. Einem weniger erfahrenen Kapitän hätte sie Katya auch nicht anvertraut. Zum Ende des langen Winters hin lag der Schnee auf den Bergen noch hoch, waren die Wasser rau.
»Ich schreibe Ihnen, sobald ich in Hamburg angekommen bin, Fru Guðmundsdóttir.«
Trotz ihrer vor Reisefieber glänzenden Augen rang auch Katya innerlich mit widerstreitenden Gefühlen.
Manchmal vergaß Silja, dass es nicht ihr Leib gewesen war, der dieses Mädchen hervorgebracht hatte. In diesem Augenblick wollte sie auch nicht daran erinnert werden, obwohl es den Abschied leichter gemacht hätte.
Bevor es nachher, im Trubel an der Mole, keine Gelegenheit mehr dazu geben würde, nahm sie Katyas Gesicht zwischen beide Hände.
Wie in einer Glaskugel hoffte sie, herauslesen zu können, dass Katyas neues Leben in Hamburg ein glückliches sein würde. Ihre Schönheit sollte ihr immer Segen sein, nie ein Fluch, und ihr starker Wille, ihr wacher Kopf mochten sie davor bewahren, jemals wieder Mangel und Not zu erleben.
»Du wirst hier immer ein Zuhause haben, mein Kind.«
Behutsam küsste sie Katya auf die Stirn. Als könnte sie damit ein Glück bringendes Zeichen hinterlassen, das Katya vor allem Übel und Leid beschützte.
Die Männer auf der Thor begegneten Katya mit freundlicher Distanz, Ingmar Einarsson selbst auf eine Art, die Katya instinktiv als väterlich erkannte; zumindest stellte sie sich so einen guten Vater vor.
Nach ihren Erfahrungen im Hafen von Sankt Petersburg und auf der Fahrt durch das Nordmeer damals brachte sie dieses Verhalten ins Grübeln; sie fragte sich, ob sie nur dann Höflichkeit und Respekt erwarten konnte, wenn sie unter dem Schutz eines Mannes stand, der das Sagen hatte.
Ihr Kämmerchen weit unten im Bauch des Schiffs war eng und dunkel und stank nach Fisch, aber sie hatte es ganz für sich. Zu spät dämmerte ihr, dass Ingmar Einarsson es ihr vielleicht nicht aus reiner Gefälligkeit überlassen, sondern dass Fru Guðmundsdóttir dafür bezahlt hatte.
Tromsø lag da schon weit hinter ihnen.
Das war der Moment, in dem Katya begriff, dass sie tatsächlich dabei war, sich mit Grischa in Hamburg ein eigenes Leben aufzubauen.
Jetzt konnte sie diesem schmerzhaften Ziehen einen Namen geben. In der dänischen Sprache, die ihre geworden war. Hjemve . Jetzt konnte sie dieses Gefühl verorten. Sie vermisste Tromsø jetzt schon, die Meeresbrise zwischen den bunten Holzhäusern. Die sumpfigen Wiesen oben am Hang und den leicht bitteren, säuerlichen Geschmack von Multbeeren. Jetzt schon sehnte sie sich zurück in ihre Kammer oben unter dem Dach, in die Küche, in der Silja Guðmundsdóttir Brot buk und in einem Eintopf rührte.
Nach Silja Guðmundsdóttir selbst, die ihr eine Ahnung davon vermittelt hatte, wie es sein musste, eine Mutter zu haben.
Die Küste Norwegens jeden Tag vorbeiziehen zu sehen machte es nur schwerer. Ein Land von wilder und schroffer Schönheit. Seit Ewigkeiten daran gewöhnt, vom Wind und den Gezeiten zurechtgehämmert und abgeschliffen zu werden und ihnen trotzdem standzuhalten.
Fjorde entfalteten sich vor Katya und schlossen sich wieder, von denen jeder zwischen seinen Steilwänden den Anschein erweckte, ein Geheimnis zu wahren, unter seinen spiegelnden und schillernden Wassern.
Und fortwährend schienen die schneebedeckten Gipfel nach ihr zu rufen, die aufbrechenden Eisflächen. Dieser gezackte Saum der weißen und kalten Weiten dahinter, durch die Johann Silberberg in diesen Monaten wanderte, zwischen Gletschern und gefrorenen Seen.
»Bald«, flüsterte Katya.
Die Kappe aus weißem Polarfuchs hatte sie tief ins Gesicht gezogen, und die mal weiß, mal silbrig schimmernde Jacke aus Seehundfell, die Grischa ihr letztes Mal aus Grönland mitgebracht hatte, schützte sie vor dem beißenden Wind.
»Bald komme ich zu euch.«
Grischa hatte es versprochen, in einem seiner Briefe, in seiner Handschrift, die ungelenk blieb, immer ungeduldig wirkte.
Unterschätze nicht die Macht der Umwege, Katya, hatte Johann Silberberg ihr geschrieben. Nicht immer ist der gerade, der kürzeste Weg der beste. Es sind die Umwege, die einen auf das Ziel vorbereiten. Und dorthin bringen sie einen genauso gut.
Katya konnte nur hoffen, dass dem auch wirklich so war.
Fast ein halbes Jahr hatte sie ihren Bruder nicht mehr gesehen. Es war der Gedanke an ihn, der nach und nach ihr Heimweh zu verzehren begann. Die Neugierde auf seine neu gewonnenen Freunde und auf Hamburg, das ihre künftige Heimat sein würde.
Jeden Tag, den sie auf See war, ein bisschen mehr.
Bis von ihrer traurig eingefärbten Sehnsucht nach dem, was sie in Norwegen zurückgelassen hatte, nicht mehr übrig war als ein Rest harschiger Schnee in der Frühlingssonne.
Eine rastlos schäumende Nordsee und ein kräftiger Wind brachten die Thor in acht Tagen nach Hamburg; einen Tag früher als erwartet setzte Katya den Fuß wieder auf festen Boden.
Der weitläufige und geschäftige Hafen beeindruckte sie, so viel größer als die kleine Mole in Tromsø, sogar größer, als sie den Hafen von Sankt Petersburg in Erinnerung hatte.
Trotz des kräftigen Windes, der an Katyas Röcken zerrte und den Pelz ihrer Kappe zerzauste, war es wärmer als in Tromsø. Obwohl noch Schnee lag, schien der Frühling schon seine Fühler auszustrecken.
Katya hatte noch nie solch schmutzigen Schnee gesehen. Sie bückte sich nach einer Handvoll und rieb mit dem Daumen darüber. Schwerer, nasser Schnee war es; wie ein Schwamm hatte er sich mit grauem Dunst vollgesogen, mit schwarzem Staub. Ein trauriger Schnee, wie von Mühsal und schleppenden Schritten beschwert.
Katya hob den Kopf. Über dem Häusermeer vor ihr stiegen unzählige Rauchfähnchen in den schiefergrauen Märzhimmel auf; es waren die Menschen der Stadt, die mit ihren Öfen und Herdfeuern den Schnee trostlos färbten.
Katyas Eile, ihr neues Zuhause kennenzulernen, war vergessen; sie hielt Ausschau nach Eis, das sich noch an den Winter klammern mochte. Hamburger Eis.
In einem Winkel des Kais, vor den Strahlen der Sonne versteckt, wurde Katya fündig. Sie kniete sich hin und reckte sich weit vor, um den übriggebliebenen Eisklumpen zu erreichen, der an der Kaimauer klebte wie eine Muschelschale an einer Klippe. Die neugierigen bis belustigten Blicke der Hafenarbeiter und Seeleute, ihre neckenden Zurufe prallten an ihr ab; sie war ganz auf das Eis konzentriert, das sich fügsam ablösen ließ, als hätte es nur auf Katya gewartet.
Milchig weißes Eis war es, so luftig, dass es unter Katyas Berührung knisterte und prickelte und in ihrer Hand sofort wieder zu dem fließendes Wasser wurde, das sein Ursprung war.
Katya lachte auf. Ein solch lebendiges Eis erschien ihr wie ein gutes Omen.
Eine sehr große Stadt war Hamburg, in der man sich leicht verlaufen konnte. Abgelenkt von den hohen Häusern und Straßen voller Menschen, musste Katya sich mehrmals neu orientieren, in einer Hand ihre Reisetasche, in der anderen Grischas Brief mit einer Skizze und Wegbeschreibung.
Auf der anderen Seite der Holzbrücke blieb sie stehen und legte den Kopf in den Nacken. Noch nie hatte sie eine solche massive Häuserfront gesehen, so viele Fensterreihen, irgendwo dahinter würde sie jetzt wohnen.
Vergeblich suchte sie nach Gärten oder wenigstens einer kleinen Grasfläche. Sie hatte gehofft, ein paar Hennen halten zu können, wie früher in Russland, und sie fragte sich, wo sie künftig die Wäsche aufhängen sollte. Vielleicht gab es ja hinter diesen Häusern ein Gärtchen oder eine Wiese.
Entschlossen packte sie ihre Tasche fester und ging weiter, bis zu dem Haus mit der Aufschrift Gemischtwaren Petersen.
Über ihrem Kopf bimmelte es, als sie die Tür öffnete und behutsam wieder zumachte, und unwillkürlich schloss sie die Augen. Es roch so gut, ein herrliches Durcheinander von süß, würzig, scharf, sauer, krautig.
»Moin, gnädiges Fräulein. Kann ich helfen?«
Mehr fiel Christian oben auf der Leiter nicht mehr ein, als sich das Mädchen umdrehte und zu ihm heraufsah.
Ein Geschöpf wie aus einem Märchen, das Gesicht unter der Pelzkappe wie feinstes Bone China und von genauso elegant geschwungenen Linien, die Zöpfe schwarz und glänzend wie Rabenfedern. Ihre Augen tiefe Seen, in denen man sich verlieren konnte.
Als ob sie sich nur kurz ihre Menschengestalt übergestreift hätte, bevor sie sich erneut verwandeln würde. In einen Fuchs, einen Schwan, sobald Christian blinzelte oder auch nur wieder Luft holte.
Christian hatte Trine, Liese, Frieda und Trude geküsst, Jule, Grete, Berta und Marga. Levke Reinders und sogar Clara, die ältere der Schwestern Bekedorp. Mädchen, mit denen er schon als Junge auf dem Kai und hinten auf den Treppen gespielt hatte oder die er beinahe sein halbes Leben kannte.
Eine Vertrautheit, die etwas aufregend Neues bekam, als bei einer nach der anderen fast über Nacht weibliche Formen hervorbrachen. Und in einem der dunklen Gänge des Hinterhauses hatte Thea Hansen ihn nicht nur in den Ausschnitt fassen lassen, sondern auch unter ihre Röcke und ihm, ihre Hand in seiner Hose, einige überwältigende Augenblicke beschert.
Das hier war etwas anderes. Etwas Frisches, Klares, Reines brachte dieses Mädchen mit, das Christians Magen flattern und ihn in den Knien weich werden ließ. Herrlich und beängstigend zugleich.
Christian Petersen, sonst so gewandt darin, zu locken, zu schmeicheln, zu werben und zu verführen, brachte kein Wort mehr heraus.
Auch Katyas wohlüberlegte deutsche Sätze, mit denen sie sich hatte vorstellen wollen, hatten sich in Luft aufgelöst.
Das Gesicht des jungen Mannes auf der Leiter war kein zahmes. Mit seinen scharfen Kanten und Winkeln erinnerte es sie an die Küste Norwegens, und die schmalen blauen Augen darin glänzten wie das Wasser eines Fjords. Vielleicht hatte Johann Silberberg dieses Blau gemeint, wenn er von den Tiefen eines Gletschers im Sonnenlicht erzählte.
Umso wärmer wirkte das Lächeln, das auf diesem harten Gesicht aufzuckte, sich dann langsam darauf ausbreitete und es weicher machte, fast zärtlich. Katya witterte etwas, dem sie nicht gewachsen schien, dem sie besser aus dem Weg gehen sollte.
Es gelang ihr nicht. Dieses Lächeln hatte sie bereits umgarnt und eingefangen, sodass sie nicht anders konnte, als es zu erwidern, mit einem Herzen, das leicht und frei schlug.
An seinem Schreibtisch über Zahlenkolonnen gebeugt, horchte Thilo auf. Seit dem Klingeln der Glocke und Christians Begrüßung war es still im Laden. Eine merkwürdige Stille, die ihm unter die Haut kroch, und er ging nachsehen.
Stumm starrte sein Bruder von der Leiter herunter ein Mädchen in fremdländischer Kleidung an; eine Unhöflichkeit, die Christian eigentlich nicht ähnlich sah.
»Guten Tag?«, rief Thilo fragend in den Laden hinein.
Als das Mädchen den Kopf wandte, stutzte Thilo.
Etwas an ihrer Brauenpartie und der Zeichnung ihres Mundes erkannte er sofort. Eine zartere Version von Grischas Zügen, die Thilo eingehend studierte, wenn sie beim Abendbrot in der Wohnung der Petersens zusammensaßen. Wenn Grischa danach manchmal noch auf ein Glas blieb und mit seinen Erzählungen von Russland und der Seefahrt Arno Petersen für ein paar Stunden auf andere Gedanken brachte.
Seine Miene erhellte sich.
»Bist du Katya? Grischas Schwester?«
Grischa hatte erzählt, dass seine Schwester ein bisschen Deutsch sprach und es noch besser verstand; davon, dass sie so schön war, hatte er nichts gesagt.
Sie nickte.
»Ich bin Thilo. Thilo Petersen.«
Makellos wie Schnee und kantig wie Eis war er; wie Thilo Petersen hatte Katya sich die Helden der nordischen Sagen vorgestellt, die Drachen erschlugen und ihr Schwert für Ehre und Gerechtigkeit erhoben.
»Grischa ist leider nicht hier. Er ist vor zwei Tagen mit einem Frachter ausgelaufen, der Weizen und Wolle nach England bringt. Also bin ich derjenige, der dich in Hamburg willkommen heißt. Dobro poschalowat .«
Hörbar ungeübt stolperte seine Zunge über die russischen Laute. Dass er sich jedoch die Mühe gemacht hatte, sie zu lernen, freute Katya; ein kleiner Trost, weil Grischa schon wieder auf See war. Thilos Händedruck war aufrichtig und fest, versprach Beständigkeit und Sicherheit. Mit ihm unter einem Dach wusste Katya sich gut aufgehoben.
»Mein Bruder Christian.«
Katyas Blick wanderte wieder zu dem scharfgesichtigen jungen Mann auf der Leiter hinüber.
Das Lächeln, das dieses Mal zwischen ihnen aufschien, hatte etwas Verschwörerisches. Als hätten sie zuvor ein Geheimnis entdeckt, das nur ihnen beiden gehörte.