27



Arno Petersen betrachtete schweigend die Papiere, die Thilo auf dem Tisch in der guten Stube vor ihm ausgebreitet hatte. Seit geraumer Zeit bereits; Tee und Kuchen, die Henny ihnen hingestellt hatte, hatten sie beide unangetastet gelassen.

Das Geschäft nahm langsam Formen an. Auf dem Speicher lagerte der Grundstock ihrer Ausrüstung, Eissägen und Queräxte und Zangen, von Grischa zum Spottpreis aus einer Konkursmasse ersteigert. Gerade verhandelten sie um einen Lagerraum bei den Mühren, direkt hinter der Brooksbrücke. Der Torf, um ihn damit auszukleiden, würde aus dem ostfriesischen Wiesmoor kommen, Thilo hatte sogar einen Mengenrabatt ausgehandelt.

Einen genauen Zeitplan für ihre erste Fahrt hatten sie erstellt und Thilo dazu eine Kalkulation. So gründlich, wie es ihm mit den Unbekannten, die noch immer in der Gleichung standen, möglich gewesen war.

Schließlich hatte es sich nicht länger hinausschieben lassen, es war schon September, spätestens im Januar mussten sie in Norwegen sein, und Thilo war mit den Unterlagen zur Bank gegangen. Unterstützt von Christian, der die Geldgeber dort mit seiner Begeisterung für den Eishandel anstecken sollte.

Denn sie brauchten Geld. Viel Geld.

Der wirtschaftliche Aufschwung, der gerade im Hafen zu spüren war, stimmte auch die Herren auf der Bank mit ihren steifen Kragen, den scharfen Augen und dem noch schärferen Verstand optimistisch. Thilos Zahlen und Christians Leidenschaft, untermauert von seiner neuen Ausstrahlung als solider Ehemann, hatten schließlich überzeugt.

Zwölftausend Mark Banco konnten sie bekommen, rückzahlbar innerhalb von fünf Jahren.

Mit dem Haus als Sicherheit.

»Das ist eine Menge Geld«, sagte Arno Petersen schließlich zögerlich. »Obwohl das Haus sicher mehr wert ist. Immer noch.«

So viel Geld, wie ein Haus voller Mietwohnungen am feinen Wandrahm im Jahr einbrachte. Was ein ungelernter Hafenarbeiter in fast dreiunddreißig Jahren seines Arbeitslebens verdiente, ohne einen Sonntag, einen Feiertag dazwischen und ohne ein einziges Mal krank zu sein.

Thilo wurde jedes Mal übel, wenn er an diese gewaltige Summe dachte.

»Wir müssen das nicht machen …«, begann Thilo hastig.

Befreiend fand er die Vorstellung, dieses wahnwitzige Geschäft doch noch abzublasen. Sich einfach mit dem zu begnügen, was der Laden abwarf, und darauf zu hoffen, dass auch für sie die Zeiten wieder besser wurden.

»Christian zieht mit am Strang?«, unterbrach ihn sein Vater.

Thilo nickte. »Und Grischa und Katya.«

Arno Petersen warf ihm einen kurzen Blick zu.

»Katya versteht etwas von Eis«, erklärte Thilo. »Sie hat Beziehungen nach Norwegen, kennt dort einen Eisforscher namens Johann Silberberg, und sie spricht die Sprache. Und Grischa ist nicht nur ein guter Seemann. Wann immer er gerade in England zu tun hat, erkundet er den Markt dort und versucht, Kontakte zu knüpfen.«

Arno Petersen besah sich eines der Schriftstücke genauer.

»Ich habe noch etwas Geld auf der Seite«, sagte er nach einer Weile. »Ist nicht viel, aber …«

Thilos Mundwinkel hoben sich, das Angebot seines Vaters rührte ihn.

»Danke, Vadder. Aber ich bin froh zu wissen, dass du noch einen Notgroschen hast. Für den Fall, dass …«

Thilo sprach nicht weiter; der Blick, der zwischen seinem Vater und ihm gewechselt wurde, genügte.

Trotzdem machte er sich rasch eine Notiz, eventuell Beteiligungen in Betracht zu ziehen, sollte ihnen unterwegs das Geld ausgehen.

Arno Petersen ließ sich viel Zeit, während er nachdachte und mit gespreizten Händen die Papiere akkurat ausrichtete.

Nervös rieb Thilo sich die Knie.

»Ich weiß, Vadder, es ist eine komplett verrückte Idee.«

Sein Vater schüttelte den Kopf.

»Nein, Thilo, das ist sogar eine sehr gute Idee.«

Thilo stutzte für einen Augenblick, dann erhellte sich seine Miene. »Findest du?«

Arno Petersen nickte.

»So gut, dass ich mich frage, warum nicht schon längst einer darauf gekommen ist.«

Sein Blick wanderte in Richtung des Fensters.

»Stell dir das doch einmal vor«, murmelte er nach einer kleinen Pause. »Man könnte nicht nur Eis verkaufen, damit die Leute in warmen Ländern ihr Essen und Trinken kühlen. Man könnte genauso gut das Schiff nur halb mit Eis beladen und den Rest mit Gemüse füllen, um es über weite Strecken zu transportieren. Obst. Butter. Vielleicht sogar Fisch und Fleisch. Um die halbe Welt könntest du das kalt verschiffen, und es käme ganz frisch dort an. Oder umgekehrt, Südfrüchte und allerlei exotische Lebensmittel von dort hierher.«

Mit leuchtenden Augen sann er diesem Gedanken eine Weile nach.

Dann wandte er sich wieder den Papieren zu, stützte sich auf einem Ellbogen auf und streckte die Hand nach Thilos Feder aus.

Thilo sah ihm zu, wie er unterschrieb. In seine Erleichterung, die fast an Euphorie grenzte, sickerte das elende Gefühl, dass sie gerade dabei waren, ihrer aller Lebensgrundlage aufs Spiel zu setzen.

Arno Petersen schnaubte belustigt vor sich hin.

»Meine Söhne. Planen einen Handel mit Eis.«

Er blickte auf, und Thilo glaubte fast, so etwas wie Stolz in seinen Augen zu erkennen.

»Ihr bekommt das hin. Da habe ich gar keine Zweifel.«

Nach der letzten Unterschrift legte Arno Petersen die Feder zur Seite und sammelte umständlich die ausgebreiteten Papiere zusammen.

»Wenn wir schon über die Zukunft sprechen«, begann er betont langsam. »Jetzt, da Christian sich verheiratet hat …«

In sein Zögern hinein drangen Topfgeklapper und fröhliches Trällern; Henny fing mit den Vorbereitungen für das Abendessen an.

Natürlich war sie jetzt die Frau im Haus, die Küche ihr Reich, das sie bis in den letzten Winkel ausfüllte. Thilo konnte nur raten, wie es für Katya sein musste, dass Henny sie von ihrem Platz verdrängt hatte, in jeder Hinsicht.

Er vermisste die Abende, an denen sie alle zusammen hier am Tisch gegessen hatten, anstatt wieder getrennt oben und unten. Fast schämte er sich dafür, dass ihm das glückliche Los zugefallen war, weiter bei Katya zu essen, die ein bisschen fremdländisch und würziger kochte, mit viel Zwiebeln; Pfeffer hatte sie erst in Norwegen kennengelernt und verwendete ihn reichlich. Überhaupt war es oben ruhiger als hier mit Henny, die in einem fort schnackte und vor sich hin sang, wenn sie nicht mit Christian turtelte. Eine Art von Frieden, die Thilo sehr genoss.

Wäre da nicht Grischa gewesen.

Arno Petersen legte eine Hand auf den Stapel Dokumente.

»Ich habe euch das unterschrieben, weil ich davon überzeugt bin, dass ihr Erfolg habt. Ohne irgendwelche Bedingungen. Nur …«

Es schien ihm schwerzufallen, die richtigen Worte zu finden.

»Nichts gegen Henny. Ist eine feine Deern, kümmert sich gut um alles und hat unseren Christian von ganzem Herzen lieb. Aber Katya …«

Versonnen lächelte er vor sich hin, einen beinahe schelmischen Glanz in den Augen.

»Die ist etwas Besonderes. So eine findest du nicht an jeder Ecke, Junge. Nicht in Hamburg und auch sonst nicht. Noch ein bisschen jung, aber in zwei oder drei Jahren …«

Thilo hob die Brauen.

Arno Petersen stemmte sich mit Hilfe seines Stocks in die Höhe und legte die Hand auf die Schulter seines Sohnes.

»Versprich mir nur, dass du mal darüber nachdenken willst, ja?«

Das Kissen im Rücken, hatte Thilo sich im Lampenschein auf seinem Bett ausgestreckt, noch in Hemd und Hose, aber schon barfuß.

Das Gespräch mit seinem Vater ging ihm nicht aus dem Sinn, seit Tagen nicht. Doch alles, woran er dabei denken konnte, war Grischa.

Dieses Lächeln, als sie im Wirtshaus die Hochzeit von Henny und Christian gefeiert hatten und Thilo den Brautstrauß fing. Ein wissendes Lächeln, so kam es Thilo im Nachhinein vor; als ob Grischa etwas über Thilo ahnte, was ihm selbst verborgen geblieben war.

Thilos Gesicht wurde heiß, wenn er an dieses Lächeln dachte, sein Herzschlag ungleichmäßig und stolpernd.

Eines der Bücher in der Hand, die mit nach oben umgezogen waren, beobachtete er verstohlen, wie Grischa sich Stiefel und Socken von den Füßen pellte, das Hemd über seinen Kopf zog, dann im Zimmer umherging. Die Schatten, die er dabei an die Wände warf, schienen immer noch ein Teil von ihm selbst zu sein. Eine dunkle Energie, die zu mächtig war, als dass sie in seinem Körper Platz gefunden hätte.

Thilo sah ihm gern zu. Dem Spiel seiner Muskeln und dem des Lichts auf seiner Haut. Seinen kraftvollen und geschmeidigen Bewegungen. Er wusste selbst nicht, was davon Neid war und was Begehren, ein Buch in seinem Schoß immer gleichermaßen ein Vorwand wie ein Schutzschild, der verbarg, was er dabei empfand.

Thilo fragte sich, wie Grischa ein solcher Mann hatte werden können, im Einklang mit sich, der Welt, dem Leben, und warum ihm dies nie gelungen war.

»Trägst du es Christian eigentlich nicht nach?«, fragte er ihn. »Wegen Katya?«

Grischas ausladende Schultern hoben und senkten sich, während er seine abgelegten Kleidungsstücke einsammelte und in den Korb für die Wäsche warf.

»Natürlich nehme ich es ihm übel, dass er ihr wehgetan hat. Dafür hätte ich ihm am liebsten den Hals umgedreht und dazu noch ein paar Rippen gebrochen.«

Er trat an die Wasserschüssel unter dem Spiegel und spülte sich den Nacken ab, wusch sich unter den Achseln. Rinnsale liefen über seine Schulterblätter, das Rückgrat hinab.

»Nur hätte das nichts geändert. Ich hatte mir schon gedacht, dass er nicht auf sie warten würde. Katya ist zu gut für ihn, und das weiß er auch. Mit Henny ist er besser dran.«

Feucht klebte das Haar auf seiner Brust, prustend rieb er sich mit der nassen Hand über das Gesicht.

»Trotzdem behandelst du ihn wie einen Freund«, bohrte Thilo nach.

Wasser tropfte aus seinem getrimmten Bart, als Grischa sich aufrichtete und Thilo über die Schulter erstaunt einen Blick zuwarf.

»Er ist auch mein Freund. Und mein Geschäftspartner. Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun.«

Thilo nickte, nur halb überzeugt, und versenkte den Blick wieder in sein Buch.

Grischa stützte sich auf den Waschtisch und musterte Thilos Spiegelbild.

Im Lauf der Jahre hatte er eine sichere Menschenkenntnis erworben, das blieb nicht aus in der Enge eines Schiffs. Bei Thilo kam er damit nicht weit.

Zurückhaltend zuerst, schroff und manchmal barsch, hatte Thilo sich als zuverlässiger Freund erwiesen, für Grischa und vor allem für Katya. Ein gutes Herz schien er zu haben und eine treue Seele zu sein, ein kluger Kopf sowieso.

Trotzdem fehlte etwas.

Als ob Thilo mit Gewalt ein Stück seines Wesenskerns abgetrennt und in sich vergraben hätte. So tief, dass er selbst nicht hingelangte. Grischa konnte nur vermuten, dass es das war, was bei ihm ab und zu als Unsicherheit durchschimmerte, unter seiner augenscheinlichen Ruhe, seiner ausgeglichenen Art.

Grischa beugte sich über die Waschschüssel und spritzte sich erneut Wasser ins Gesicht.

Jetzt, mit neunzehn Jahren, fuhr Grischa noch immer gern zur See und musterte so schnell wie möglich wieder an, kaum dass er ein paar Tage hier war, der Heuer und der Erfahrung wegen.

Er hatte jedoch allmählich genug davon, anderer Leute Schiffe zu steuern, anderer Leute Weizen nach England zu bringen, deren Eisen und Tee und Kaffee von dort nach Hamburg. Das Schlimmste waren die Kohlenfrachter; den schwarzen Staub schien er nicht mehr aus den Poren zu bekommen, so gründlich er sich auch nach seiner Heimkehr schrubbte, schlimmer als der Gestank von Waltran früher.

Wässriges Eis, das schon schmolz, wenn man es nur ansah, gab es in England für drei Pence das Pfund; er hatte sich eingehend erkundigt. Besseres und damit haltbareres Eis war entsprechend teurer, besonders in diesem Jahr. Der Winter war mild und nass gewesen, es hatte nicht lange genug gefroren. Doch auch der Sommer war verregnet, und niemand auf der Insel schien Eis groß zu vermissen.

Selbst in einem heißen Sommer müssten sie Hunderte von Pfund an Eis verkaufen, um umgerechnet ein paar Mark Umsatz zu machen; dementsprechend brauchten sie ein großes Schiff, das wiederum viele zupackende Hände benötigte.

Aber das Risiko würde sich lohnen, das spürte er mit jeder Faser. So sicher, wie er den Wind spürte, den Regen und den Schnee.

Wie er jetzt Thilos Blick auf seinem bloßen Rücken spürte. Er hob den Kopf.

Im Spiegel schlug Thilo die Augen nieder. Das Lampenlicht schien seine Wangen glühen zu lassen.

Grischa wollte endlich sein eigener Herr sein. Mehr Zeit mit Katya verbringen, bevor sie ganz erwachsen war.

Mehr von Thilo wollte er sehen.

Dieses schöne Gesicht, mal wie aus Alabaster geschnitten, dann wieder wie mit energischen Händen aus glattem Wachs modelliert. Wenn die Sonne sich an seinen Eiskristallwimpern brach. Diese Augen, die mal hart blickten wie Kiesel, dann wieder weich wie Regenwolken. Seine bedächtigen Bewegungen, als ob er dem breitschultrigen, schmalhüftigen Bau seines Körpers nicht traute, nicht der Kraft, die in seinen Muskeln steckte.

Grischa rieb sich mit einem Tuch trocken.

»Was liest du da?«

Thilo blinzelte auf die Seiten vor sich, er hatte keine Ahnung.

»Nichts Besonderes.«

Grischa zögerte.

Auf dem Wasser liebte er Männer, an Land Frauen. Mit Ausnahme von Hauke, der jedoch auf seiner wellenumtosten Insel, mit den Skeletten der Boote vor seiner Kate, eher wie ein Meereswesen schien denn wie ein Bewohner festen Landes.

Eine Einteilung, die Grischa ganz natürlich vorkam, und genauso natürlich bewegte er sich zwischen diesen beiden Welten. Den beiden Seiten seines Ichs; er konnte ja sowohl schwimmen als auch atmen.

Was auf See geschah, blieb auch auf der See, hieß es unter den Männern auf einem Schiff. Grischa war nicht sicher, ob er etwas davon hierher bringen wollte.

Oft hatte er den Impuls verspürt, Thilo im Gespräch an der Schulter zu packen. Ihn zu schubsen, wenn sie miteinander im Boot saßen. Eine neckende Rauferei mit ihm anzufangen, einfach nur, um ihn einmal unter seinen Händen zu fühlen.

Thilos glatte Kühle hatte ihn immer davon abgehalten. Jetzt jedoch konnte er nicht widerstehen, unsichtbare Fäden zogen ihn durch das Zimmer auf Thilo zu.

»Zeig her.«

Ein Knie auf der Bettkante, schnappte er sich das Buch, und Thilos Mund verzog sich spöttisch.

»Kannst du überhaupt lesen, du russischer Bauer?«

Grischa lachte auf, keineswegs beleidigt; manchmal foppten sie sich auf diese Weise, eine Erinnerung an ihr erstes Zusammentreffen.

Halbherzig griff Thilo nach dem Buch. Er war nicht geübt in solchen Machtspielen, früher hatte ihn seine Körpergröße davor bewahrt.

Das Funkeln in Grischas Augen stachelte ihn jetzt jedoch an, fast so etwas wie Rauflust jagte durch ihn hindurch. Energisch fasste er ein zweites Mal nach dem Buch, das Grischa genauso entschieden wegzog. Grischa lachte leise, als sie um das Buch rangelten, spielerisch nach dem anderen schlugen. Und auch um Thilos Mund zuckte es.

Bis Grischas Knie gegen die Härte zwischen Thilos Beinen stieß.

Thilo hielt den Atem an, rührte sich nicht mehr. Das Blut stieg ihm ins Gesicht, er konnte Grischa nicht in die Augen sehen.

Grischa hielt inne, ein freudiges Zucken tief im Bauch.

Einen Augenblick lang wusste er nicht, was er jetzt tun sollte.

Was er tun wollte.

Mit beiden Händen stützte er sich ab und drückte sein Gesicht in Thilos Halsbeuge. Nach trockenem Sommergras und sonnendurchwärmtem Stein roch er, sein Pulsschlag ein Pochen auf Grischas Haut, das schneller wurde, kräftiger.

Grischa hob den Kopf. Furchtsam blickten Thilos Augen, als hätte er sein größtes Geheimnis verraten, einen Wimpernschlag lang fast feindselig. Dann klarten sie sich auf, eine aufreißende Wolkendecke, hinter der man den blauen Himmel erahnen konnte.

Grischa spürte den Abgrund vor sich. Jene Kante, hinter der nur noch der freie Fall kam und kein Weg mehr zurückführte. Noch konnte er es sich anders überlegen. Sich einen Ruck geben und abwenden und es hierbei belassen.

Der Sog war stärker.

Behutsam legte er seinen Mund auf Thilos, und in dem Moment, in dem Thilos Lippen nachgaben und weich wurden, wusste Grischa, er war verloren.

Er hatte das zuvor nicht gekannt, jeden Moment ins Endlose auszudehnen. Dass es genug war, eng umschlungen dazuliegen und zwischen langen Küssen Blicke auszutauschen, ein vorsichtiges Lächeln.

Es war Thilo, der mehr wollte. Neugierig tastete und forschte er, wie um sich zu versichern, dass Grischa echt war, atmete, lebte. Als wollte er Grischa neu formen, indem seine Hände ihn streichelten und rieben und kneteten.

Wie ein Verdurstender küsste er Grischa, ein Durst, den Grischa teilte, während sie sich den Stoff von der Haut schälten und fest zupackten, sich gegenseitig mit zarten Berührungen reizten.

Thilo war nicht auf den Schmerz vorbereitet. Nicht auf die Lust, die wie ein Schock durch ihn hindurchjagte, ihn blind und taub machte, sicher geborgen in Grischas Arm. Dafür, genau dafür war sein fremder, eigenartiger, ungeschlachter Körper gemacht, er hatte es nur nie gewusst.

Wenn dies wirklich eine Sünde war, dann war es eine, die ihn geradewegs in den Himmel katapultierte, mitten in die Sterne hinein.

Die Scham kam danach, heiß und zittrig und fast Übelkeit erregend. Sich Grischa so gezeigt zu haben, hemmungslos und wild. Nackt und empfindsam.

Grischa hörte nicht auf, zu schmeicheln und zu locken, indem er seinen Namen flüsterte, seinen Rücken und seine Schultern küsste, seine Wange streichelte und seine Brust, wie entschuldigend. Bis Thilo seines eigenen Widerstands müde war und sich umdrehte und dann nichts anderes mehr von Bedeutung war.

Als ein verschieden gestaltetes Spiegelbild des anderen lagen sie da, Arme und Beine ineinander verschlungen, einer gebräunt und dunkel, der andere blass und mit glatter Haut, fast unbehaart. Nahezu gleich groß, von gleichem Körperbau, gleicher Stärke verwischte das Zwielicht diese Unterschiede; keiner hätte zu sagen gewusst, wo der eine aufhörte und der andere begann.

Beide hatten sie feuchte Augen. Nicht vom überwältigenden Rausch allein, sondern von etwas, das tiefer ging.

Und während Grischas Finger durch Thilos Haar fuhren, so hell und fein und weich wie Rohseide, konnte er sich nicht sattsehen an diesem Wunder.

Ihre Sorge als Mutter war es, die Mathilde Pohls Schritte an diesem Oktobertag über den Kehrwieder lenkte, in Richtung des Gemischtwarenladens von Arno Petersen.

Nach jenem unglücklichen Sommertag, als Henny sich auf Christian Petersens Schoß geräkelt hatte wie eine Dirne, ihre Münder miteinander verklebt, war sie nicht mehr hier gewesen, das hatten Ehrgefühl und Anstand ihr verboten. Seit der Hochzeit hatte sie ihre Tochter nicht gesehen, kein Wort mit ihr gewechselt.

Nach fast drei Monaten konnten sie es endlich gut sein lassen, fand Mathilde Pohl. Nachdem auch die Nachbarn und Bekannten zu rätseln aufgehört hatten, warum Henny Pohl zwar nicht überstürzt geheiratet hatte, aber doch nach verdächtig kurzer Verlobungszeit. Außerdem war es ihr lästig, zum Einkaufen in die Altstadt hinübergehen zu müssen, und Gemüse und Käse waren dort nicht so frisch wie bei Arno Petersen.

Nur Heinrich Pohl grollte seiner Tochter immer noch, dass sie sich hinter seinem Rücken selbst einen Mann gesucht hatte.

Mathilde Pohl spähte durch das Schaufenster. Sie brauchte einige Augenblicke, um in der weiblichen Hilfe, die sich die Petersens in den Laden geholt hatten, ihre Tochter zu erkennen. Mehr konnte sie nicht ausmachen, die Dekoration aus aufgefädelten Herbstblättern versperrte ihr die Sicht, und die Scheibe spiegelte.

Die Türglocke bimmelte, und Mathilde Pohl trat hastig einen Schritt zurück.

»Moin, Frau Pohl. Lange nicht gesehen.«

»Moin, Frau Reinders. Immer viel zu tun, Sie wissen ja.«

Bevor Frau Reinders sie in ein längeres Gespräch verwickeln konnte, flüchtete Frau Pohl über die Schwelle.

Henny war nicht überrascht, ihre Mutter zu sehen; sie hatte damit gerechnet, dass die Neugierde sie früher oder später hierher treiben würde. Sie grüßte freundlich, aber kurz, um sich dann wieder Frau Martens zu widmen. Die ältere Dame zögerte noch, ob sie eher Bohnen oder Erbsen für einen Eintopf mitnehmen sollte.

Mathilde Pohl staunte, wie selbstsicher und geduldig ihr früher so schüchternes und saumseliges Mädchen mit der Kundin umging. Tatkräftig wirkte sie, wie sie erst Erbsen, dann Mehl und Zucker abwog, dabei mit glänzenden Augen und roten Wangen Nettigkeiten von sich gab und flink die Leiter hinauf- und wieder herabstieg.

Henny hatte sich herausgemacht, stellte Frau Pohl fest. Diese neue entschlossene Energie gab ihren Zügen eine Klarheit, die ihr gut stand. Proper sah sie aus in der gestärkten weißen Schürze, mit der Rüschenhaube, unter der ein ordentlicher Strang Korkenzieherlocken hervorschaute.

Diese ungeplante Ehe tat Henny unübersehbar gut, und verletzter Stolz und beglücktes Mutterherz rangen in Mathilde Pohl miteinander.

»Wiedersehen, Frau Martens. Und vielen Dank.«

Unter dem Läuten der Glocke wandte sich Henny lächelnd ihrer Mutter zu.

»Moin, Mutter. Schön, dich zu sehen. Wie geht es dir? Und Vater?«

Mathilde Pohl nickte und murmelte ein paar belanglose Worte, während sie sich im Laden umsah. Sie konnte es nicht beschwören, aber sie glaubte durchaus, dass hier alles etwas ansprechender hergerichtet war als früher.

»Hast du einen Wunsch, Mutter?«

»Ein Pfund Tilsiter bitte«, hörte Mathilde Pohl sich mechanisch sagen. »Vom Holsteiner.«

Geübt wickelte Henny den Käse aus dem Papier und setzte das Messer an. Als hätte sie ihr Lebtag nichts anderes getan.

»Dein Mann nicht da?«

»Ist unterwegs«, erklärte Henny und konzentrierte sich auf Käse und Waage. »Den Vertrag für ein Lagerhaus unterschreiben. Für unser neues Geschäft.«

Neugierde zwickte Mathilde Pohl, die sie gerade noch so bezähmen konnte, während Henny das Stück Käse gekonnt in Papier faltete. Wenn sie oben in der Wohnung genauso tüchtig wirtschaftete, hatten die Petersens wirklich einen guten Griff getan mit ihrem Mädchen.

»Was darf es für dich sonst noch sein?«

Mathilde Pohl hatte vergessen, was sie noch brauchte.

»Geht es dir denn gut hier?«, fragte sie ungewohnt zaghaft.

Henny musste nicht lange überlegen. Es war etwas anderes, ihrer Mutter zur Hand zu gehen, die immer an allem, was Henny tat, etwas auszusetzen gehabt hatte, oder selbstständig für ihr neues Zuhause und die beiden Männer darin zu sorgen. Und noch lieber hatte sie hier zu tun, zwischen der Toonbank und Gemüsekisten und Bonbongläsern. Als richtige erwachsene Geschäftsfrau kam sie sich im Laden vor, wie Kaufmannsladen spielen früher als kleines Mädchen, nur besser.

»Sehr, Mutter«, antwortete sie, eine glänzende Kante des Triumphs in ihrem warmen Tonfall.

Henny sah glücklich aus, das musste Mathilde Pohl anerkennen. Wie von einem inneren Leuchten erhellt, und ahnungsvoll dämpfte ihre Mutter die Stimme zu einem Flüstern.

»Ist denn schon etwas Kleines unterwegs?«

Hennys Strahlen vertiefte sich. Das war wirklich das Allerbeste daran, verheiratet zu sein. So fleißig, wie sie und Christian das Eheleben genossen, würde es sicher bald so weit sein.

»Noch nicht«, entgegnete sie heiter. »Wir arbeiten aber daran.«

Mathilde Pohl verschlug es für einen Augenblick die Sprache; so frech war Henny früher nicht gewesen. Dann überwog jedoch die Erleichterung, dass bei dieser eiligen Heirat alles mit rechten Dingen zugegangen zu sein schien.

Ja, sie konnten es wirklich gut sein lassen, das würde sie Heinrich Pohl heute Abend auch sagen.

»Wollt ihr vielleicht einmal zum Essen kommen? An einem Sonntag?«

»Gern, Mutter.«

»Da ist ja auch noch das Ersparte von Großmutter.« Mathilde Pohls Versöhnungswille nahm weiter Fahrt auf. »Kein Vermögen, aber das könnt ihr doch bestimmt trotzdem brauchen, wenn ihr gerade ein neues Geschäft aufmacht. Spätestens, sobald ein Kind kommt. Und falls ihr sonst noch etwas braucht …«

Mit routinierten Bewegungen wischte Henny die Toonbank ab; auf diesen Moment hatten sie und Christian fast drei Monate lang gewartet.

»Danke, Mutter. Das ist sehr freundlich von euch. Wir bräuchten tatsächlich noch etwas für das neue Geschäft. Wenn jetzt im Winter die meisten Schiffe vor Anker liegen, könnte Vater uns doch sicher günstig eines auftun, oder nicht?«

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