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In goldenen Rauten funkelte die Sonne auf dem Wasser der Binnenalster, von einer leichten Brise gekräuselt.

Mit beiden Händen hielt Henny sich am Rand des schaukelnden Ruderboots fest und sah zum Jungfernstieg hinüber. Im Schatten der Bäume rollten gemächlich offene Landauer und Gigs vorüber, die Hüte und Sonnenschirme der Damen darin wie zarte Sommerblumen. Reiter führten im Schritttempo ihre edlen Rösser aus, dazwischen promenierten Familien mit ihren Kindern und verliebte Paare. Und natürlich die feinen Bürger, die hier auf ihrem Sonntagsspaziergang ebenso zwanglos wie redlich der Gesellschaft ihre heiratswilligen Töchter präsentierten.

Heinrich Pohl hielt davon nichts. Der reinste Viehmarkt, pflegte er hinter seiner Zeitung zu brummen, bunte Bänder an den Hörnern der Preiskuh inklusive, was jedes Mal ein entrüstetes Zischen seiner Frau heraufbeschwor.

Henny reckte ihre Stupsnase höher. Jetzt hatte sie das auch nicht mehr nötig, jetzt ging sie mit Christian Petersen aus, den dritten Sonntag in Folge.

Verstohlen schielte sie unter ihrem Strohhut zu ihm hinüber. Helle Glanzlichter durchzogen seine Haare, seine Augen leuchteten im sonnengetönten Gesicht umso blauer. Er hatte das Sommerjackett ausgezogen, die Ärmel aufgekrempelt; Henny bewunderte das Spiel der Sehnen und Muskeln seiner sommerbraunen Arme bei jedem Ruderschlag.

Sie konnte es noch immer nicht recht fassen, dass sie sich tatsächlich getraut hatte, ohne ihre Mutter einkaufen zu gehen. Dass Christian, Christian Petersen, sie über Erbsen und Salz hinweg zu einem Kaffee und einem Stück Kuchen eingeladen hatte. In den Schweizer Pavillon, weil sie den Alsterpavillon überlaufen fand und es dort immer Herren gab, die sich, vom Personal und den meisten Gästen geduldet, nachmittags schon eine Zigarre anzündeten, obwohl eigentlich erst ab dem späten Abend erlaubt.

Während Mathilde Pohl ihre Tochter bei Kathi oder bei Betty wähnte, war sie mit Christian die neue Allee am Sandtorkai entlangspaziert und unter den Linden an der Binnenalster, an der Windmühle vorbei. Über die neue Lombardsbrücke waren sie gegangen, die noch nach frischem Holz roch, und hatten miteinander über den alten Kinderreim zu den fünf Kirchtürmen der Stadt gelacht, die man von dort aus allesamt im Blick hatte.

Anfangs war sie noch tausend Tode gestorben bei der Vorstellung, Bekannten ihrer Eltern über den Weg zu laufen. Mittlerweile hielt sie den Kopf umso höher, schließlich konnte sie kaum etwas Verbotenes tun, in aller Öffentlichkeit. Und Christian Petersen sah nicht nur gut aus, er hatte auch Manieren und eine glänzende Zukunft vor sich.

Gebannt hing sie an seinen schönen Lippen, wenn er von dem Geschäft erzählte, das er mit seinem Bruder und ihrem russischen Freund plante. Nach Norwegen und England würde es ihn führen, vielleicht sogar noch weiter durch Europa oder sogar darüber hinaus. Ein gewagtes Geschäft, mit dem er alles riskierte, aber Henny hatte keinen Zweifel, dass Christian es schaffen würde.

In ein paar Jahren wäre er reich, lebte in einem Haus im Grünen, mit Dienstboten und bestimmt auch einem Piano. Alle feinen Leute hatten ein Piano zu Hause, gepflegte Lebensart in jeder Vorhangfaser, jedem Polsterflor.

Henny wünschte sich so sehr, einen Platz in dieser Zukunft zu haben, dass ihr die Brust eng wurde.

Christian fing ihren Blick auf und lächelte; errötend schlug Henny die Augen nieder und sah auf das Wasser hinaus.

Ein Tag ganz in Blau und Weiß, ging es Christian durch den Kopf. Wasser und Himmel, Schäfchenwolken, Schwäne und Segelboote. Die Fassaden der Hotels und Gasthäuser, von Alsterhalle und Buchhandlung und Badeanstalt. Hennys Sommerkleid, Hennys Augen, alles luftig und leicht und unbeschwert.

Henny tat ihm ein bisschen leid, von ihrer Mutter gegängelt und so viel unscheinbarer, so viel schüchterner als die kesse Kathi Bellheim oder die feenhafte Betty Freese. Ungelenk für ein Mädchen und ein wenig plump, vor allem neben Frieda Brandt, der die Männer auf der Straße hinterherpfiffen. Paprikaschote auf zwei Beinen, riefen sie ihr nach, dabei waren ihre Küsse kalt und glitschig wie die billigen Austern aus der Nordsee.

Vielleicht lag es an diesem Sommertag, dass Henny heute richtiggehend hübsch aussah, wie sie ihm im Boot gegenübersaß, eine Süßspeise aus Eischnee und Schlagsahne und Buttercreme. Verblüffend verführerisch, auf eine ganz und gar unschuldige Weise, wenn der Wind mit den Rüschen und Volants spielte und die Kurven erahnen ließ, die sich darunter verbargen.

Quakend flogen eine Ente und ihr Erpel aus dem Ufergrün auf, zogen schnatternd zum Himmel hoch. Drollig mit ihrem Flügelschlag, der immer ein bisschen holprig schien, wie eiernd, und Christian und Henny brachen in Lachen aus.

Henny Pohl war wie das Wasser der Binnenalster, still und ruhig und heiter, ohne tückische Strömungen und gefährliche Strudel, und dafür mochte er sie.

Hennys Herz schlug bis zum Hals, als Christian die Ruder ins Boot zog und sich vorbeugte. Die Unterarme auf die Knie gestützt, streckte er ihr die Hände entgegen.

Zu gefährlich kam es Henny vor, den sicheren Rand des auf dem Wasser schaukelnden Boots loszulassen. Schließlich löste sie doch die eine Hand und legte sie in Christians Hände, dann die andere.

Eine stumme Antwort auf seine genauso stumme Frage, so kam es ihr vor.

Berauscht war sie, von Sonne und Wind und Wasser, vom Sommer. Von Christian. Von ihrem Mut und der Durchtriebenheit, mit der sie ihre Mutter angelogen hatte, drei Sonntage hintereinander.

»Willst du diese Woche zum Tee zu mir kommen?«, fragte sie atemlos. »Mittwoch? Um drei?«

Schweigend fädelten sich Katya und Thilo durch die erdrückende Enge der Hinterhöfe, die sie kurz zuvor betreten hatten, mit Runzelrüben, überreifem Käse und schlaffem Kohl schwer beladen; jetzt waren ihre Hände leer. Sogar die Kisten hatten sie sich heute abschwatzen lassen, für Brennholz oder als Ersatz für Möbel, wie Katya vermutete.

Im Halbdunkel konnte sie auf einer Treppenstufe eine junge Frau ausmachen, einen Säugling an der entblößten Brust; viel zu jung und gleichzeitig uralt sah sie aus, dunkle Schatten unter den Augen, die Wangen eingesunken und tiefe Falten im müden Gesicht. Daneben stand ein kleines Mädchen in einem löchrigen Kleid, die ursprüngliche Farbe längst unter Flecken und Schmutz verschwunden, und bohrte mit glasigem Blick in der rotzverschmierten Nase.

Irgendwo hinter den verrußten und bröckelnden Mauern hustete sich ein Mann rasselnd die Lunge aus dem Leib, und über ihren Köpfen lachte eine Frau keifend schrill, als wäre sie nicht bei Sinnen.

»Ich könnte es verstehen, wenn du nicht mehr mitkommen willst«, sagte Thilo nach einer Weile.

Erstaunt sah Katya zu ihm auf und schüttelte dann den Kopf.

»Ich halte das schon aus. Auch wenn es mich immer daran erinnert, wo ich ursprünglich herkomme.«

Hier in den Höfen auf dem Kehrwieder hatte Katya zum ersten Mal wieder Russisch gehört. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie und Grischa es nur noch miteinander sprachen, wenn es um früher ging oder einer von beiden etwas auf dem Herzen hatte; auch ihre dänische Mundart wich langsam dem Deutschen.

»War es so schlimm bei euch in Russland?«, fragte Thilo behutsam.

Katya wiegte den Kopf hin und her.

»Wir litten keinen Hunger, das nicht. Aber sonst besaßen wir nicht viel. Nichts eigentlich. Es war harte Arbeit, dass wir immer genug zu essen hatten und Kleider auf dem Leib, und das hat alle um uns herum hart gemacht. Kann man das so sagen?«

»Besser hättest du es wohl kaum ausdrücken können. Ich kann mir auf jeden Fall gut vorstellen, was du meinst.«

Wie hart und erbarmungslos Armut machte, erlebte Thilo jedes Mal, wenn er mit seinen Kisten hierherkam. Sobald sich die Leute darauf stürzten, nackte Gier in den stumpfsinnigen Augen, und sich dann um die Lebensmittel zankten, mit Ellbogen und Fäusten, aus fauligen Mündern brüllend und keifend und selbst von Thilo kaum zu mäßigen.

»Als wir das Gehöft verlassen haben«, erzählte Katya, »wussten wir oft nicht, wo wir etwas zu essen herbekommen sollten, Grischa und ich. Einmal, in Sankt Petersburg, haben wir uns einiges aus dem Abfall gefischt, hinter einem Gasthaus. Schimmelndes Brot und schlechte Äpfel.«

Ihre Stimme wurde leiser.

»Das habe ich nie vergessen. Dieses Gefühl dabei. Den Geschmack im Mund.«

Für die ganz alten Menschen hatte Katya immer schon vorab ein wenig abgezweigt. Dziękuję serdecznie , bedankten sie sich mit feuchten Augen und streichelten mit knorrigen Fingern über Katyas Hand. Heel hartelijk bedankt, köszönöm , worst ok bedankt , muito obrigada .

Menschliches Treibgut, angespült von den Stürmen in ihrer Heimat.

Manche sagten, die Bevölkerung der Stadt wuchs deshalb so langsam, weil für jeden, der hierherkam, wieder einer ging, nachdem ihm Hamburg das verweigerte, was es einmal an Hoffnung versprochen hatte.

Das Schlimmste waren die Kinder, die Katya die Möhren und Äpfel und Käsestücke aus der Hand rissen und davonstoben, um in sicherer Entfernung die Zähne in ihre Beute zu schlagen. Zu wissen, dass das Funkeln in ihren Augen, das Leuchten auf ihren Gesichtern vielleicht auch bald verlöschen würde, tat ihr weh.

»Daran muss ich hier immer denken«, fuhr sie fort. »Wie das damals war. Und dass ich das kein zweites Mal erleben will. Um keinen Preis.«

Thilo nickte.

»Ich muss hier auch immer an früher denken. Wie ich in unserer Speisekammer stand und auszurechnen versuchte, wie lange unsere Vorräte noch reichen würden. Wo wir hingehen würden, wenn uns die Franzosen doch noch vertrieben. Als mein Vater unten im Treppenhaus lag, mit dem zerschossenen Bein, und mir keiner sagen konnte, ob er wieder wird. Was dann aus uns werden sollte, Mutter und Rieke und Christian so krank.«

Manchmal spürte Thilo sie noch, diese hohle Angst, die sich damals in seinen Knochen festgesetzt hatte, mit noch nicht einmal zehn Jahren; vielleicht umgab er sich deshalb so gern mit Zahlen.

Zahlen waren nicht immer freundlich, aber auf sie war Verlass. Sie logen nie; wenn die Zahlen versprachen, dass genug Geld für morgen und übermorgen und nächste Woche da war, dann war das von einer unumstößlichen Sicherheit, die Thilo beruhigend fand.

Ihre Blicke trafen sich, mündeten in ein kleines Lächeln.

Katya war das erste Mädchen, bei dem Thilo sich wohlfühlte. Weil sie das erste Mädchen war, das er näher kennengelernt hatte, sie Grischas Schwester war oder schlicht anders. Schon allein dadurch, dass sie ihm halbwegs auf Augenhöhe begegnete, höher gewachsen als die meisten Mädchen ihres Alters. Und Katya kokettierte auch nie, kicherte nicht dümmlich.

Mit ihr konnte er reden und genauso gut schweigen; schön anzusehen war sie obendrein, er war ja nicht blind.

Eine Vertrautheit hatte sich zwischen ihnen eingeschlichen, auf leisen Pfoten. Thilo musste an die Katzen vom Speicher denken, die jetzt immer schon im Treppenhaus darauf zu warten schienen, dass Katya sie, mit einem gehauchten Lachen und geflüsterten russischen Koseworten, streichelte und hinter den Ohren kraulte.

Aus dieser wachsenden Vertrautheit schöpfte er den Mut nachzuhaken.

»Aber etwas bedrückt dich doch.«

Er wich einem Mann aus, nicht viel älter als Arno Petersen, der sich an seinem Stock vorwärtsschleppte, das Kinn fast auf Kniehöhe hinuntergezwungen von dem buckligen Rücken. Dazu verdammt, seinen Blick nie wieder über die übelriechenden Rinnsale auf dem Boden erheben zu können.

»Ist es wegen Christian?«

Katya schwieg.

Dass Christian um Erlaubnis gebeten hatte, mit ihr auszugehen, hatte ihr Herz höherschlagen lassen. Natürlich verstand sie, dass sie dafür noch zu jung war, sie war ja erst fünfzehn, Christian seit April schon zweiundzwanzig.

Sie sahen sich trotzdem jeden Tag, spätestens zum Abendessen. Wenn Grischa gerade ein paar Tage da war, schlenderten sie sonntags zu viert durch die Stadt und erzählten sich gegenseitig, was sie sich alles kaufen wollten, wenn sie einmal reich wären – feine Anzüge und glänzende Schuhe, einen eigenen Wagen, einen weichen Teppich für den Fußboden, Katya einen schönen Hut.

Hin und wieder zwängten sie sich alle zusammen in eines der Ruderboote auf der Binnenalster, was nie ohne viel Geschaukel und Gelächter vonstattenging. Oder sie gaben ein paar Groschen auf dem Hamburger Berg aus, beim Dosenwerfen und für die Camera obscura, zwischen Schlangenbeschwörern und Bauchrednern; dort, wo sich die Kaschemmen aneinanderreihten und die Häuser der Freudenmädchen.

Katya genügte es, dabei immer wieder Christians Blicke auf sich zu spüren, ein Lächeln auszutauschen. Davon zu träumen, wie Christian sie bei der Hand hielt und wie es sein würde, wenn er sie in seine Arme zog und zärtlich küsste. Zu wissen, dass er da war, ein paar Wände, einige Stockwerke von ihr entfernt.

Manchmal jedoch, um die Zeit ihrer Monatsblutung herum, spürte sie zwischen den Krämpfen ein dumpfes Pochen, wohlig und weh zugleich. Eine warme Leere, die sich danach sehnte, gefüllt zu werden. Ein Pulsieren bis tief in ihr Becken hinein, das Katya unruhig machte und ahnen ließ, was für eine Kraft in ihrem Schoß schlummerte.

Sie konnte nur raten, wie schwer es Christian fiel, geduldig zu bleiben, der doch sicher etwas ganz Ähnliches empfand, wie auch immer das für einen Mann sein mochte. Dass er deshalb so oft ihrem Blick auswich und zurückzuckte, wenn sie einander unabsichtlich in der Küche streiften, manchmal launisch und gereizt war.

Sobald Katya sich bereit dafür fühlte, würde sie auch Grischa davon überzeugen können, erwachsen genug zu sein. Dass Christian solange auf sie wartete, daran zweifelte sie keinen Augenblick.

»Es gibt hier so wenig Grün«, sagte sie.

Ihre Augen wanderten über die wurmstichigen Balken über ihren Köpfen, die bröckelnden und rußverschmierten Mauern.

»In Russland habe ich mich um unseren Gemüsegarten gekümmert, und auch in Norwegen hatten wir Blumen und Gras vor dem Haus.«

»In den Straßen stehen doch alte Bäume«, erwiderte Thilo verwundert, der nie etwas anderes gekannt hatte als ein Leben in der Stadt. »Und was an Befestigungsanlagen damals niedergerissen wurde, ist jetzt auch grün bepflanzt.«

Katya lächelte. »Das ist nicht dasselbe. Ich vermisse es direkt vor meinem Fenster.«

Thilos Augen hellten sich auf.

Zwei Tage später, Katya schrieb gerade an Johann Silberberg, klopfte es an der Wohnungstür. Überrascht sah sie Thilo an, der mit einer Kiste voller Topfpflanzen vor ihr stand. Wie er den Kopf zwischen seine breiten Schultern zog, wirkte er unsicher.

»Darf ich hereinkommen?«

Katya folgte ihm ins Wohnzimmer, wo er die Tontöpfe, sichtbar alt mit ihren Wasserrändern und Salzkrusten, auf die Fensterbank stellte.

»Ich habe mich daran erinnert, wie meine Mutter früher Blumen und Kräuter am Fenster gezogen hat. Das sind ihre Töpfe, vom Speicher geholt und neu bepflanzt. Hat auch nur ein paar Groschen gekostet«, fügte er eilig hinzu.

Katya betrachtete den kleinen Garten, den Thilo ihr in die Wohnung gebracht hatte, schon erste rote, blaue und weiße Blüten im Grün.

Sie legte die Hand auf seinen Unterarm. »Danke, Thilo.«

Unter dem lichtblauen Strahlen ihrer Augen errötete Thilo.

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