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Der Hafen von Madras war noch nicht einmal ein richtiger Hafen.

Nur ein endloser Sandstrand vor den entfernten Lichtern der Stadt. Das hatten sie schon gesehen, als sie am Abend den Anker auswarfen, eine gute Meile vor der Küste. Was an Säcken und Kisten und Fässern mit einem Schiff gebracht wurde oder an Bord musste, wurde mit Booten durch das flache, aber unruhige Wasser gerudert, wie sie beobachten konnten.

Es war noch früh am Tag, als sie die Beiboote der Maiden of the Seas abfierten, und trotzdem brannte die Sonne schon gnadenlos vom Himmel. Salzig schmeckender Dunst legte sich klebrig auf die Haut, und der warme Wind, der vom Meer her blies, ließ mehr Schweiß ausbrechen, als er trocknete.

Das Hemd und die aufgekrempelte Hose hafteten feucht an Katya, während sie in einem der Boote auf Madras zuschaukelte. Elegante Bauten mit Säulen und Rundbögen, die grell das Licht zurückwarfen, und unzählige würfelförmige Häuschen in Pastelltönen, Kuppeln und schlanke Türme unter himmelhohen Palmen.

Der Strand wimmelte bereits von Händlern, die ihre Fracht entgegennahmen, bevor die Lastenträger, magere braune Männer, lose Gewänder übergeworfen oder nur mit einem Lendentuch bekleidet, sie schulterten und durch den Sand zur Stadt schleppten.

Katyas Herz schlug ihr bis zum Hals. Vor Glück, dass sie tatsächlich in Indien war, und vor Aufregung. Die Blicke, die Christian ihr von der anderen Seite des Bootes her zuwarf, und das Lächeln, das immer wieder auf seinem Gesicht lag, halb nervös, halb aufmunternd, verriet, dass es ihm ähnlich ging.

Es war Christians Idee gewesen, ein paar Dutzend Pfund ihres Eises fein zu zerstoßen und in einem Fass an Land zu bringen. Sobald sie aus dem Boot geklettert waren und das Fass über den Sand gerollt hatten, schöpften Katya und Christian mit beiden Händen Schnee und verteilten ihn über den Strand, kneteten Bälle daraus und warfen sie in die Höhe, während sie nur ein einziges Wort wieder und wieder gegen die Brandung anbrüllten.

Eis.

Auch diejenigen in Madras, die nicht wussten, was Eis war, wurden von diesem Schauspiel angelockt. Neugierige ließen sich von Katya und Christian mit dem kalten Pulver die Hand füllen und leckten daran, lachten hell über die Kälte auf ihrer Haut oder griffen sich einen Schneeball aus dem Sand.

Als Christian die ersten Münzen entgegengestreckt wurden, stieg er auf eine Kiste und begann, die Eisblöcke im zweiten Beiboot zu versteigern.

Zwei Rupien. Fünf Rupien. Zehn. Fünfzehn.

Katya verstand nicht alles, was er in die rasant wachsende Menge rief, aber den Leuten gefiel es. Lustig schien es zu sein, in Wellen brandete beifälliges Gelächter auf. Auch Grischa und einige der Matrosen, die den Andrang zu bändigen versuchten, grinsten breit, genau wie Thilo, der Christian die Münzen abnahm und in einem Sack sammelte. Christian war pure Energie, leuchtend wie die Sonne selbst. Berstend vor einer unbändigen Lebensfreude, die auf Katya übersprang und sie beinahe schwindelig machte.

Ein Gaukler, ein Spaßmacher, mit seiner übertriebenen Mimik, seinen dramatischen Gesten – und Christian schien selbst den größten Spaß daran zu haben; immer wieder fing Katya einen belustigten Blick von ihm auf, ein Augenzwinkern.

Und dann verstand sie. Nicht nur für die Firma oder für seinen eigenen Gewinn machte er sich hier am Strand zum liebenswerten Narren.

Er tat es vor allem für sie.

Still wurde es für einen Augenblick um Katya, als sie begriff. Ihr Blick traf sich mit dem Christians, und ein kleines Lächeln entfaltete sich zwischen ihnen.

Eines, das im Trubel am Strand einen Raum nur für sie beide schuf, ein paar Wimpernschläge lang.

Wie ein Lauffeuer musste es durch die Stadt gegangen sein, dass es am Strand Eis zu ersteigern gab. Für jeden, der mit einem Stück der kalten Fracht davonrannte, kamen zwei oder drei weitere herbeigelaufen; darunter wohl auch Bedienstete, die im Auftrag ihrer Herrschaft das kostbare Kalt erwerben sollten, mit Schubsern und Ellbogenstößen, lauten Rufen und um fast jeden Preis.

Auf der Maiden of the Seas wurde das dritte Beiboot zu Wasser gelassen, um schneller das Eis aus dem Laderaum an den Strand zu bringen, wo es zwei der Matrosen in handlichere Blöcke zerteilten, die ihnen förmlich unter dem Sägeblatt weggerissen wurden, kaum dass das Geld den Besitzer gewechselt hatte.

Katya schloss die Augen und hielt das Gesicht in die sengende Sonne. Umspült von den aufgeregten Stimmen und der Brandung, überließ sie sich dem überwältigenden Gefühl, dass endlich, endlich das Glück auf ihrer Seite war.

Dies war ihr Tag, ihrer allein. Ihr Eis war es, das Eis von Voroninvatnet.

Fast glaubte sie, es singen zu hören.

Der Rausch hielt jedoch nicht lange an.

Gespenstisch still war es unter der Laterne in der Kajüte. Jetzt, da das gleichmäßige Stampfen und Saugen der Pumpen verstummt war, das sie fast drei Monate lang Tag und Nacht begleitet hatte. Sobald das Klimpern der Münzen verklungen war, die Thilo und Christian gezählt hatten.

So still war es, dass ab und zu das schmatzende Geräusch der Wischlappen zu hören war, mit dem zwei der Matrosen die letzte Feuchtigkeit im Laderaum beseitigten.

Eine Stille, die etwas Erdrückendes bekam, je länger Thilo sich mit seinem Bleistift über das Papier beugte und immer wieder einen Blick auf die Umrechnungstabelle neben sich warf.

Innerhalb eines Tages hatten sie ihr ganzes Eis verkauft, sogar eine Handvoll Briefchen zurück mit an Bord gebracht, in denen Sahibs und ihre Mems darum baten, möglichst bald wieder eine Lieferung Eis zu erhalten.

Doch ob es sich wirklich gelohnt hatte, würden sie erst dann wissen, wenn sie ausgerechnet hatten, wie viel die Rupien in Hamburger Währung wert waren.

Katya, genauso sonnenverbrannt und durchgeschwitzt und erschöpft wie die drei Männer, presste die Hand auf ihre Brust, um ihr wild hämmerndes Herz zu beruhigen.

Wie ein aberwitziger Traum kam es ihr vor, dieser Tag am Strand. Zu märchenhaft, um wirklich wahr gewesen zu sein, und die Furcht kroch in ihr herauf, dass sich ihre Hoffnungen einmal mehr in Luft auflösen würden.

Zu schnell schien alles gegangen zu sein, zu mühelos, auch wenn sie sich vor Augen hielt, wie weit der Weg hierher gewesen war und wie steinig.

Bitte, bat sie stumm irgendeine höhere Macht, die ihr Gehör schenken mochte. Bitte lass es nicht umsonst gewesen sein.

Unwillkürlich hielt sie die Luft an, als Thilo endlich den Kopf hob.

»Rechnest du das bitte alles einmal nach?«, bat er tonlos und mit steinerner Miene seinen Bruder und schob ihm das beschriebene Blatt zu.

Einen bangen Ausdruck auf dem gebräunten und sonnengeröteten Gesicht, nickte Christian und vertiefte sich, den Bleistift in der Hand, in die Zahlen.

Die Zeit schien stillzustehen.

Schließlich schob Christian das Blatt zurück. »Ich bekomme dasselbe heraus.«

Stumm starrte Thilo auf seine Zahlen, nicht einmal mehr zu blinzeln schien er.

»Also«, begann er mit einem heiseren Räuspern, »ich habe jetzt alles, was wir in Rupien heute eingenommen haben, in Hamburgische Mark Banco umgerechnet. Die von Herrn Pohl ausgelegte Charter können wir ebenso begleichen, wie ihm die geliehenen zweitausend Mark zurückbezahlen.«

Der Anflug eines Lächelns glitt über sein Gesicht.

»Auch das Darlehen der Bank können wir restlos ablösen.«

Erleichtert stieß Christian den Atem aus. Fast schon grob packte Grischa seine Schwester und drückte sie an seine Brust, ihr erleichtertes Auflachen ein halbes Schluchzen.

»Moment, ich war noch nicht fertig.«

Erschrocken richteten sie ihre Blicke auf Thilo, in der Erwartung einer schlechten Nachricht, eines Abers.

»Am Ende bleiben dann noch knapp fünftausend Mark übrig.«

Um seinen Mund zuckte es verräterisch.

»Für jeden von uns.«

Einen Herzschlag lang herrschte ungläubige Stille.

Dann brachen sie in Jubel aus, fassten sich gegenseitig bei den Schultern und umarmten einander ungestüm, brüllten triumphierend, riefen sich Glückwünsche zu und überschrien sich damit, dass sie ja auch noch den Erlös aus der Londonfahrt erwarteten.

Frederic Tudor mochte der Eiskönig von Boston sein.

Aber sie waren ab heute die Eisbarone von Hamburg.

Prustend hob Thilo den Kopf von der Waschschüssel und spritzte sich dann Wasser über den bloßen Oberkörper, rieb kräftig über seine Haut. Er hatte sich noch nie so schmutzig gefühlt wie hier in Indien, obwohl er gerade einmal zwei Tage hier verbracht hatte.

Er blickte aus dem Fenster, nur eine simple Aussparung im Mauerwerk des Bungalows. Hinaus auf das Meer, wo in den letzten Strahlen der Sonne irgendwo zwischen anderen Seglern die Maiden of the Seas an ihrem Anker schaukelte.

Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Spät war es geworden, gestern in der Kajüte, nachdem Grischa Rum geholt hatte, von dem sie reihum tranken, zu aufgekratzt, zu sorglos, um nach Gläsern zu suchen. Sich selbst gefeiert hatten sie und das Eis von Voroninvatnet gepriesen und Pläne geschmiedet.

Im Nachhinein wusste keiner mehr zu sagen, wer von ihnen auf die Idee gekommen war, den leeren Laderaum der Maiden of the Seas gewinnbringend wieder zu füllen.

Bei Tagesanbruch waren sie zum Strand übergesetzt und durch die Basare der Stadt geschlendert. Inmitten all der fremdländischen Gesichter, der rollenden und schnalzenden Akzente in gebrochenem Englisch, dem Lärm und eigentümlicher Gerüche hatten sie ihr gerade verdientes Geld mit vollen Händen wieder ausgegeben.

Aus allen Reichtümern Indiens hatten sie geschöpft. Baumwollstoffe wie Chintz, Kaliko, Musselin und Seide, ballenweise, deren Farben und Muster Katyas Augen leuchten ließen. Feinstes Leder, Häute von Schlangen und Krokodilen und kostbare Tierfelle, auch von Leopard und Tiger. Die farbenprächtigen Federn von Papageien und Pfauen, sogar einige Bündel schneeweißer Pfauenfedern; keiner von ihnen hatte gewusst, dass es so etwas auf dieser Welt gab. Gewürze hatten sie eingekauft und vor allem Kaffee, zentnerweise.

Für einen Bruchteil dessen, was es in Hamburg später einbringen würde, und sicher billiger, als es in den üblicherweise von Handelsschiffen angelaufenen Häfen von Bombay und Kalkutta gekostet hätte.

Mit dem Verkauf des Eises konnten sie ihre Schulden bezahlen und waren selbst zu Geld gekommen. Aber das, was jetzt schon auf ihrem Schiff lagerte, was morgen noch geliefert würde, würde sie reich machen.

Thilos Grinsen wurde breiter und erlosch dann, als es hinter ihm plätscherte und feucht schnaubte. Verstohlen sah er zu Grischa, der sich an einer zweiten Schüssel wusch.

Während sie der Mannschaft Landgang gewährt hatten, hatten sie sich in einem Gasthaus eingemietet. Kaum mehr als eine Hütte mit einer Handvoll Räume, etwas Besseres gab es in Madras nicht, aber immerhin würden sie die Nacht, die ihnen noch blieb, an Land verbringen. Christian hatte sich bereits gewaschen und umgezogen und war zu Katya hinübergegangen, in deren Zimmer sie gemeinsam zu Abend essen würden.

Langsam trocknete sich Thilo ab, während er Grischas nackten Rücken musterte.

Jetzt, da sie es geschafft hatten, war es an der Zeit, auch alle anderen Karten auf den Tisch zu legen.

Leise sprach er Grischas Namen aus, und Grischa antwortete mit einem halb fragenden, halb geistesabwesenden Brummen.

»Ich wollte dich um deinen Segen bitten.«

Grischa warf ihm über die Schulter einen erstaunten Blick zu.

»Wofür könntest du meinen Segen brauchen?«

»Ich habe Katya gefragt, ob sie meine Frau werden will. Sie hat ja gesagt.«

Langsam richtete sich Grischa auf und wischte sich über das nasse Gesicht.

Vielleicht hätte er es ahnen können, so vertraut, wie Thilo und seine Schwester auf dem Schiff miteinander umgegangen waren. Wie nahe sie immer beieinandergesessen hatten, abends in der Messe, Thilos Arm hinter ihrem Rücken aufgestützt. Ihre Blicke, ihr einstimmiges Lachen.

Und trotzdem verlor er für einen Augenblick den Lehmboden unter seinen Füßen.

»Ist das deine Rache an mir?«

Thilo schüttelte verständnislos den Kopf.

»Ich brauche keine Rache. Ich will Katya heiraten, weil ich mir ein Leben mit ihr wünsche.«

Grischa wandte den Kopf ab und schwieg.

Thilo war der beste Mann, den er sich für Katya vorstellen könnte. Niemand wusste das besser als er, und trotzdem brachte er es nicht über sich, ihnen Glück zu wünschen.

Wie das Wegsacken der Decksplanken unter ihm, wenn das Schiff in ein Wellental fiel, so fühlte es sich an, mit jedem Herzschlag aufs Neue.

Tränen schossen ihm in die Augen. Seit er ein kleiner Junge gewesen war, hatte er sich nicht mehr so schwach gefühlt. So hilflos.

»Es sei denn, du wüsstest einen Grund, der dagegenspricht«, sagte Thilo.

Grischa lachte auf, scharf und höhnisch.

»Das ist Erpressung.«

»Ich will einfach nur Klarheit, Grischa.«

Thilo wusste selbst nicht, ob er Genugtuung empfand oder Erleichterung, als Grischa sich mit nass glänzenden Augen ihm zuwandte.

Lange standen sie so da und sahen sich an. Abwartend, unschlüssig, traurig.

Hoffnungsvoll.

Seit er ein Junge in Russland gewesen war, war Grischas ganzes Sein darauf ausgerichtet, aus der Unfreiheit auszubrechen und sich ein eigenes Leben aufzubauen. Jede Chance zu ergreifen, die sich ihm bot, und sich niemals mehr unterzuordnen, noch nicht einmal zu binden.

Jetzt jedoch, am Tag seines Triumphs, fragte er sich, ob er dafür nicht etwas viel Kostbareres verlor und mit vollen Händen, aber leerem Herzen zurückbleiben würde.

Einmal noch, dachte Grischa, nur einen einzigen Kuss, zum Abschied. Ihn nur einmal noch fühlen.

Jetzt war es Thilo, der feuchte Augen bekam, als Grischa ihn küsste. Mit einer Wärme, einer Sehnsucht, die ihn überwältigte. Er hatte nicht gewusst, wie sehr er Grischa vermisst hatte, seinen Mund, seine Hände, alles an ihm.

Wie sehr auch Grischa ihn vermisst haben musste.

Wie Ertrinkende klammerten sie sich aneinander, auf dem einfachen Nachtlager, badeten in der Nähe des anderen und versanken ineinander. Langsam und endlos und jeden Augenblick auskostend.

Eng umschlungen lagen sie im Dunkel und beobachteten den Lauf der Sterne vor dem Fenster, während sich ihr Herzschlag langsam beruhigte, das Nachglühen ihrer Körper sich mit der schwülen Tropennacht mischte.

Das Meer war zu hören, nahe und fern zugleich. Mit dem Geruch von Salz und Tang atmete Thilo den Duft von Grischas Haar, seiner Haut.

Er wusste, wo er hingehörte.

»Bleib bei mir, Grischa«, murmelte Thilo in Grischas warmen Nacken. In den Flaum dort, der sich schweißfeucht kräuselte.

Einige Herzschläge lang bewegte sich Grischa nicht.

Mit einem tiefen Atemzug drehte er sich schließlich um und legte die Hände um Thilos Gesicht.

Im Silberlicht der Sterne konnte Thilo die Antwort in seinen Augen lesen.

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