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Die Havfruen hatte die Bäreninsel, einen von den Elementen abgenagten Fels, der im Nebel ankerte, hinter sich gelassen, und auch Spitzbergen. Eine Küste wie ein scharfzahniges Maul, das sich aus dem Wasser öffnete und den Reisenden zur Umkehr zu mahnen schien.

»Wal voraus!«

Der Ruf aus dem Krähennest, auf den sie seit Tagen gewartet hatten. Lautstark und fieberhaft verfielen alle an Bord in Betriebsamkeit; ein scheinbar wildes Chaos, in dem jedoch jedes Kommando, jeder Handgriff einem eingespielten Ablauf folgte.

Wie auf einen geheimen Zuruf setzte dann Stille ein, gespenstisch fast, sobald Gunnar und Trond, Ove und Olaf vom Schiff wegpullten, Wolf neben Håkon an den Bugriemen. Wie ein schnittiger Holzpfeil flog das Fangboot über die Wellen auf den Wal zu.

Die ersten Wale, die Grischa gesehen hatte, hatten ihm den Atem verschlagen. Kolosse allesamt, selbst die kleineren Arten wie der Buckelwal und der weiß gezeichnete Finnwal mit schlankem Rumpf. Wenn sie schnaubend aus den Fluten auftauchten, von einer majestätischen Erhabenheit, die das Fangboot zu einer Nussschale schrumpfen ließ, die Männer darin zu Zwergen.

Der lange Seiwal, dunkelgrau und weiß, mit seiner spitzen Schnauze und der Sichelfinne. Gewaltige Blauwale und die Pottwale mit ihren massigen Schädeln. Der Grönlandwal und der Nordkaper, tiefschwarz und weißnarbig von Seepocken und Krebsen, begehrt wegen seiner dicken Speckschicht. Der Narwal, das Einhorn der Meere.

Dieses Jahr hatte Grischa nur Augen für Wolf.

Biegsam wie eine Feder und genauso stramm stand Wolf aufrecht im schaukelnden Boot. Erschreckend klein vor der nass glänzenden Wand des Walleibs und doch im Vorteil des Jägers, der sich an seine ahnungslose Beute herangepirscht hat. Geradezu schwerelos hielt er sich in der Balance und wartete auf den richtigen Augenblick.

Im Sonnenlicht blitzte es auf, als Wolf den schweren Eisenzacken von sich schleuderte. Blut sprudelte aus der Wunde hervor. Von Gunnar, Håkon, Ove und Trond am Seil im Zaum gehalten, bäumte der Wal sich auf, während Wolf zu der Lanze griff, die Olaf ihm hinhielt.

Das Geflecht von Blutgefäßen, Luftspeichern und Nervensträngen, das dem Wal ein Leben in der Tiefe kalter Ozeane ermöglichte, war auch sein Verhängnis. Ein gezielter Stich mit der Lanze genügte, und der Meeresriese sank leblos auf die Seite. Während er ausblutete, färbte sich das aufgewühlte Wasser rot.

Das Maul achtern, wurde die massige Beute am Schiff vertäut. Für Grischa war es das erste Mal, dass er auf einen Wal stieg. Olaf und Håkon hatten ihm über den Winter alles beschrieben und erklärt, und Kapitän Halvorson war einverstanden gewesen, dass Grischa sich daran versuchte. Trotz der Stacheleisen unter seinen Stiefeln war es eine Herausforderung, sich im Seegang auf dem abschüssigen Leib, der schlüpfrigen Haut zu halten und dabei noch mit dem Flensmesser zu hantieren, ohne sich selbst in den Arm oder das Bein zu hacken.

Grischa war gewarnt worden, dass diese Arbeit nichts für zimperliche Gemüter sei, für schwache Mägen. Dieses Schneiden durch zähe Haut, durch den fettigen und faserigen Walspeck. Der überwältigende Geruch nach Blut und Meeresgetier, nach Tang und Salz und darunter eine gärige Fischigkeit, die die Lunge füllte, in jede Pore kroch.

Niemand jedoch hatte Grischa auf das Hochgefühl vorbereitet, das er dabei empfand. Von einer schrecklichen Schönheit war diese Jagd. Von einer Grausamkeit, die ihn mit tiefem Respekt für die Schöpfung erfüllte.

Und die ganze Zeit über, während er sich schwitzend durch Fleisch und Gallert schnitt und wühlte, spürte er Wolf neben sich, streiften sich immer wieder ihre Blicke.

Grischa hatte sich nie lebendiger gefühlt.

Grischa lehnte an einer der Aufbauten an Deck. In diesem irisierend blauvioletten Zwielicht des nordischen Sommers, das nicht hell war und auch nicht dunkel.

Bald würden sie gar keine Nächte mehr erleben, rund um die Uhr nach Walen Ausschau halten.

Jeder dieser Wale würde so enden wie dieser erste heute, zerteilt und der Blubber geflenst, in den Öfen ausgekocht und der daraus gewonnene Tran in Fässern unter Deck verstaut. Von den Bartenplatten hatten sie den weißen markartigen Belag abgekratzt, sie dann mit Sand makellos sauber geschrubbt und der Größe nach gebündelt, während die Überreste des Wals im Wasser zurückgeblieben waren, ein Festmahl für Seevögel und faule Räuber der See.

Grischas Muskeln brannten. Er sollte sich ausruhen, wie die anderen Männer es taten, die nächsten Tage würden seine ganze Kraft erfordern. Aber noch kreiste sein Blut zu unruhig durch seine Adern. Erdrückend waren ihm die Räume unter Deck vorgekommen; überlebensgroß fühlte er sich, trotz der Müdigkeit in seinen Knochen.

Vielleicht lag es am Meer, das in ungebärdigen Wellen aufschäumte und sich immer wieder über das Deck warf, obwohl kein Sturm in der Luft lag und noch nicht einmal Regen.

Grischas Gespür gehorchte nur dem Wind und den Wolken. Was das Meer in Bewegung hielt, sich an Strömungen und Strudeln in seinen Tiefen abspielte, blieb für ihn ein Geheimnis, das ihn immer wieder aufs Neue anlockte.

»Das erste Mal vergisst man nicht so leicht.«

Wolfs heisere Stimme drang zu ihm, und Grischa sah auf.

»Woher weißt du, dass ich das zum ersten Mal gemacht habe? Habe ich mich ungeschickt angestellt?«

Wolf blickte zu Grischa.

»Du hast diesen Rausch in den Augen. Keine Sorge, der lässt nach. Beim zweiten, beim dritten. Spätestens, wenn du sie nicht mehr zählen kannst.«

Am hellen Tag wechselten Wolfs Augen fortwährend ihre Farbe, von hellem Braun über moosiges Grün bis zu warmem Grau und wieder zurück; jetzt waren sie undurchdringlich dunkel.

»Pass besser auf, wen du in diesem berauschten Zustand ansiehst«, fügte Wolf nach einer Pause hinzu. »Nicht dass jemand deine Blicke noch falsch versteht.«

Tief in Grischas Becken zuckte es, strahlte bis in sein Kreuzbein aus; seine Hose schien plötzlich zu eng.

»Daran gibt es nichts falsch zu verstehen«, erwiderte er eine Spur kühner, als er sich fühlte.

Wolf nahm die Herausforderung an, seine Handflächen rau von Schwielen auf Grischas Gesicht, sein Mund warm und fest.

Seine Jungfräulichkeit hatte Grischa im vergangenen Jahr verloren, unter der Mitternachtssonne Grönlands. An Sikkerneq, eine Inuk mit schelmischen Augen, rundlich und kompakt, aber unter Grischa wendig wie eine Robbe im Wasser. Eine Erfahrung voll glückseliger Überraschungen, die jedoch so schnell vorbei gewesen war wie ein Sommer in der Arktis, und sonst kannte er nur die Handwerkeleien mit Jonas, zielgerichtet und zweckmäßig.

Dies war sein erster Kuss.

Unter der gefütterten Jacke und seinem Hemd war Wolf von eiserner Drahtigkeit; Grischa musste tiefer graben, um an zartere Stellen zu gelangen, an die empfindsame Härte dort. Viel zu knapp wurde ihm seine eigene Haut unter Wolfs Händen, seiner Zunge, der Drang, daraus hervorzubrechen, beinahe peinvoll.

Im Wellengang des Schiffs fanden sie ihren Rhythmus, ihre Atemlaute eins mit dem Wind, während das Meer über das Deck schlug und eisige Gischt sie durchnässte.

Nach fast vier Monaten in den Fluten des Nordmeers, von Tromsø nach Grönland und wieder zurück, nach Dutzenden gejagter und geschlachteter Wale, schaukelte die Havfruen behäbig ihrem Heimathafen entgegen. Nicht mehr die Meerjungfrau, die ihr Name verhieß, sondern selbst eine trächtige Walkuh, schwer von reicher Last.

Scharfkantiger als beim Auslaufen, schienen auch die Männer halbe Meereswesen, Salz und Tran tief unter ihrer Haut. Genährt mit frischem Fisch und vom Himmel geholten Seevögeln, dem Fleisch von Robben und sogar dem der erlegten Wale. Kapitän Halvorsons Rezept gegen den gefürchteten Skorbut und das Gift verrotteten Proviants. Eine Kost, die die Männer gehorsam schluckten, während sie sich nach Kjøttboller und Svinestek sehnten, nach Fårikål, dem Lammeintopf, und vor allem nach Kartoffeln aus dem heimischen Acker. Nach einem anständigen Bad und einer gründlichen Rasur und endlich wieder trockenen Kleidern.

Eingezwängt zwischen Tranfässern hielten Grischa und Wolf einander umschlungen, halb liegend, halb aufeinanderhockend. Nachglühend und mit sich nur langsam beruhigendem Herzschlag, Schweiß und Samen auf ihrer Haut noch nicht trocken.

Ihre Gier aufeinander schien unersättlich. Kleine Fluchten aus der Knochenmühle des Walfangs, die für den Moment vergessen ließen, wie ausgelaugt und müde sie waren, der Duft der Erregung stärker als jeder Gestank.

Soghaft.

Gestohlene Stunden waren es. Hier im Laderaum oder nachts, wenn das Deck so still und verlassen dalag wie das eines Geisterschiffs, unter den in der Takelage aufgehängten Kieferknochen der Wale, die später Torpfosten, Zaunstangen oder Dachsparren abgeben würden.

»Wir werden sie jagen, bis keiner mehr übrig ist«, murmelte Wolf düster, orakelhaft.

Ein Leichenfeld aus zerstückelten Walkadavern hatten sie hinter sich gelassen, das Meer von einem hässlichen Rosa, leberfarben, so weit das Auge reichte. Die Luft stand vor Tod und Verwesung, und über allem kreisten Vogelschwärme, krakeelend wie Dämonen.

Nicht ihr Werk allein, bei Weitem nicht. In keinem der beiden Jahre zuvor hatte Grischa so viele Walfänger gesehen, die sich diesen Sommer ins Nordmeer drängten und gegenseitig die Beute abjagten. Vor allem hatte er noch nie so viele gesehen, die unter britischer Flagge segelten, ganze Geschwader davon.

Die Gier nach dem Reichtum des Walfischs war zu einem Gemetzel ausgeartet.

»Aber wir leben doch davon«, wandte Grischa ein, den Kopf an Wolfs Schulter, die Hand auf seinem wulstig vernarbten Schenkel.

Wie Wolf hatte er es auf Deutsch gesagt. Verglichen mit Dänisch eine bräsige Sprache, die Grischa nur gefiel, weil Wolf sie ihm beibrachte; sogar die englischen Flüche, die Wolf ihn lehrte, klangen in seinen Ohren feiner, fühlten sich auf der Zunge schwungvoller an.

»Fragt sich nur, wie lange noch.«

Wolfs Kinn grub sich in Grischas Haar.

»Früher habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht. Ich bin nicht nur für den Nervenkitzel mit hinausgefahren. Um meine Kräfte mit der Natur zu messen, mit Meer und Wal. Ich bin mit hinausgefahren, weil ich es nicht anders kannte. Mein Vater jagte Wale und vor ihm sein Vater und dessen Vater, und alle verdienten gutes Geld damit. Erst seit dem Krieg sehe ich manches anders.«

Sechzehn Jahre alt war Wolf gewesen, so alt wie Grischa jetzt, als er sich Freischärlern anschloss. Aus Abenteuerlust und Heimatliebe, um den Norden Deutschlands von den Franzosen zu befreien, zwölf Jahre war das jetzt her. Zwischen Wald und Sumpf rangen sie die fremden Soldaten nieder, die Hunderte von Gefallenen jedoch nur ein Schlag auf Napoleons gierige Finger.

Der letzte dieser Kriege, mit denen Frankreich den Kontinent überzog, wurde andernorts gewonnen, von anderen Soldaten.

Wolf erzählte nicht viel vom Krieg. Es genügte, was Grischa heraushören konnte. Die dunklen Stimmungen mitzuerleben, in die Wolf manchmal sank.

Dieses eine Mal wenigstens war Grischa dankbar, in einem derart entlegenen Landstrich zur Welt gekommen zu sein, dass Kriege dort in das Reich der Ahnen gehörten. Aus demselben Stoff gemacht wie die Geschichten, die sein Großvater von ihren Vorvätern und Urmüttern erzählte.

»Es geht nicht nur ums Geld«, fuhr Wolf nach einer Weile fort. »Um Macht. Sondern um das Töten. Den Durst nach Blut. Frauen vergießen ihr eigenes Blut, schenken Leben. Männer schlachten und lassen die Welt ausbluten.«

Einige Herzschläge lang schien Wolf diesen Gedanken nachzuhängen. Dann ging ein Ruck durch ihn, und grob stemmte er sich unter Grischa hervor.

»Wenn du schlau bist«, sagte Wolf, während er sich die Hose hochzog, sein Hemd schloss, »hältst du beizeiten die Augen nach einem anderen Broterwerb offen. Bei uns im Norden gibt es immer Arbeit für Männer, die schon auf See waren. Die Tage des Walfangs sind gezählt. Wenn uns nicht die Engländer verdrängen oder sonst wer, werden einfach die Jagdgründe erschöpft sein. Morgen oder in ein paar Jahren oder in zehn.«

Sein Blick flackerte, während er den Gürtel zuzerrte, eine plötzliche Dürre in der Stimme.

»Nichts ist für immer, weißt du.«

Worte, die eher Grischa zu gelten schienen als dem Walfang.

Als Wolf zu seiner Jacke griff und ging, machte Grischa keine Anstalten, ihm zu folgen. Das Hemd offen, die Hose noch um die Knöchel, streckte er sich aus und nahm den Raum ein, den er zuvor mit Wolf geteilt hatte.

Sie hatten nie darüber gesprochen, dass ihre gemeinsame Fahrt bald zu Ende war. Ob sie sich danach je wiedersehen würden. Genauso wenig, wie es ihm in den Sinn gekommen war, sich in Norwegen mit Jonas zu treffen oder sich über den Winter nach Sikkerneq in Grönland zu verzehren.

Als ob all diese berauschenden Gefühle, die sein Herz höherschlagen, das Blut schneller durch seine Adern kreisen ließen, ihren eigenen Ort, ihre eigene Zeit hätten, durch die Grischa sich treiben ließ.

Wie Wolf seine Heimat als Norden bezeichnet hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf, obwohl Friesland und Deutschland so viel südlicher lagen; Grischa fragte sich, wie dieser südliche Norden wohl sein mochte.

Gedankenversunken legte er eine Hand auf sein Geschlecht. Nicht, um sich zu erregen. Um den Mann zu fühlen, der er geworden war, irgendwann auf dieser Fahrt. Die empfindsamen Fasern zu spüren, die dort ihren Ursprung hatten, sich irgendwo tief unter seiner Haut entlangzogen und in seinen Bauch hinein ausstrahlten, bis in seine Brust hinauf, wo sein Herz schlug.

Wie man einen Kompass ausrichtet, um die Richtung zu bestimmen, in die man will.

Zum ersten Mal, seit er zur See fuhr, sehnte er sich danach, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Über die Hügel und Berge von Tromsø zu wandern, das Gesicht im Wind, und zu sehen, was dahinter lag.

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