18



Geradlinig und unverstellt, das war Grischas erster Eindruck von den beiden.

Ein Eindruck, der sich noch verstärkte, als er ihnen in der Kammer hinter dem Laden von den Inuit auf Grönland erzählte, vom Walfang und norwegischen Inseln und Fjorden und von den Pelztierjägern im endlosen Winter auf Spitzbergen.

Der Laden wurde offensichtlich gut geführt, war aber keine Goldgrube. Nicht verwunderlich in dieser Stadt, die so viele ärmliche Ecken hatte.

Dummköpfe schienen sie beide nicht zu sein. Christian war eindeutig offener, während Thilo zurückhaltend blieb, fast misstrauisch; Grischa fühlte sich deutlich von ihm unter die Lupe genommen. Trotzdem glomm es auch in seinen Augen neugierig auf, und hinter der soliden, fast biederen Fassade der Brüder spürte Grischa den gleichen Hunger nach mehr vom Leben, der auch ihn umtrieb.

Und so lenkte er geschickt das Gespräch zurück auf das Eis für wärmere Breitengrade.

Hinter den Geschäftsbüchern verschanzt, beobachtete Thilo, wie Christian, der lässig auf der Tischkante saß, jedes Wort von Grischa aufsaugte. Wie mühelos er mit dem Russen Freundschaft zu schließen schien, nur über einem Kaffee hier im winzigen Hinterzimmer, versetzte Thilo einen Stich.

Und wie sein Bruder, immer schon leichtherzig und optimistisch, derart schnell auf diese verrückte Idee mit dem Eis ansprang, beunruhigte ihn.

»Das ist der größte Schwachsinn, den ich je gehört habe«, polterte Thilo schließlich mitten in einen Satz Christians hinein.

Grischa, der an der Wand lehnte, schmunzelte hinter seiner Tasse.

»Du glaubst nicht, wie oft ich das selbst schon gesagt habe. Und viel öfter noch gedacht. Aber je länger es mir durch den Kopf geht, umso klarer sehe ich es vor mir.«

»Wo willst du das Eis dafür hernehmen?«, wollte Thilo wissen.

»Aus Norwegen«, antwortete Grischa zwischen zwei Schlucken. »Jede Menge Seen, die im Winter zufrieren. Gletscher, aus denen man sogar im Sommer Eis schlagen könnte. Der Transportweg in den Süden wäre auch kürzer und weniger gefährlich als von Grönland oder Spitzbergen aus. Dort sind die Wasserwege die längste Zeit des Jahres vereist und können auch im Sommer böse Überraschungen bereithalten.«

Thilo blieb skeptisch. »Aber das Eis gehört doch sicher irgendwem?«

»Wem gehört das Wasser eurer Elbe und eurer Alster? Das Wasser dort draußen im Meer?«

Thilo lehnte sich zurück.

»Das Wasser der Alster gehört auf jeden Fall der Stadt Hamburg«, argumentierte er mit einer gewissen Zufriedenheit.

Grischa ließ sich nicht beirren.

»Was glaubst du, was irgendjemand in einer gottverlassenen Gegend in Norwegen für das Eis aus seinem See bezahlt haben will?«

Einige Herzschläge lang musterten sie einander aus zusammengekniffenen Augen, dann senkte Thilo den Blick. Während er auf der Unterlippe kaute, notierte er mit Bleistift Zahlen auf ein Stück Papier und strich alles wieder durch.

Es klang so einfach. Eis, von der Natur praktisch geschenkt, als Handelsgut. Die Transportkosten wären sicher nicht höher als bei anderen leicht verderblichen Waren auch, und selbst wenn man das Eis billig verkaufte, ergäbe sich rein rechnerisch eine Gewinnspanne, nach der sämtliche Händler sich die Finger lecken würden.

Genau das machte ihn misstrauisch. Es war zu einfach, um ein wirklich gutes Geschäft zu sein. Zu verlockend, als dass nicht ein Haken daran wäre.

»Wer soll dir das abkaufen? Wir haben jeden Winter genug Eis. Hier gibt es an jeder Ecke ein Eishaus.«

Grischa nickte.

»Ihr schon. Genau wie alle anderen in den nördlichen Breiten. Aber nicht die Gegenden weiter unten. Viel weiter unten im Süden. Je näher du dem Äquator kommst, umso wärmer wird es. Und je wärmer das Klima, umso mehr können die Leute dort das Eis brauchen, schon allein, um ihre Lebensmittel länger haltbar zu machen. Hamburg wäre nur als Umschlagplatz gedacht.«

Thilo brütete vor sich hin.

Ja, es klang ganz einfach. Würde Eis nicht so schnell schmelzen wie der Zapfen vorhin in Christians Hand.

»Wie verhinderst du, dass dir nicht alles unter dem Hintern wegfließt, während du noch unterwegs bist?«

»Das muss ich noch herausfinden«, erwiderte Grischa aufrichtig.

Thilo konnte nicht einschätzen, ob Grischa ein gerissener Schwindler war, schlicht dumm oder am Ende womöglich eine durch und durch ehrliche Haut.

»Hast du denn ein Schiff?«

»Noch nicht.«

»Weißt du überhaupt, was ein Schiff kostet? Eines, dessen Frachtraum so groß ist, dass sich deine Fahrt lohnt?«

Grischa gefiel, wie Thilos Verstand arbeitete, pfeilgerade und akkurat. Wie gründlich er diese Idee nach Löchern und Fallstricken abklopfte und dabei Eckpunkte absteckte, aus denen ein echter Plan entstand.

»Dann chartern wir eben ein Schiff«, warf Christian heiter ein. »Das machen andere Händler auch. Schiffsmakler wie Heinrich Pohl leben von solchen Charterfahrten.«

»Auch das will bezahlt werden.« Thilo blieb beharrlich. »Genauso die Besatzung. Ein Mann allein kann kein Segelschiff steuern.«

»Die Besatzung könnte eine Beteiligung am Erlös bekommen«, erklärte Grischa. »Wie auf den meisten Walfängern.«

»Und wenn du Verlust machst?« Thilo ließ nicht locker.

Grischa zuckte mit den Schultern.

»Das Risiko müssen die Männer eingehen. Genau wie auf den Walfängern auch.«

»Schau dich doch um, Thilo«, warf Christian ein. »Auf den Kais lungern jeden Tag genug Männer herum, die Arbeit suchen. Die greifen sicher dankbar zu, wenn sich eine solche Möglichkeit bietet.«

Einen Hauch nordischer Exotik hatte Grischa, der Russe, mit in den Laden gebracht, und Christian brannte vor Abenteuerlust.

Sein Bruder begann wieder, Zahlen auf Papier zu kritzeln, während er nachdachte.

»Wir haben schlicht kein Geld, um es in ein Geschäft zu investieren«, sagte er schließlich. »Schon gar nicht in ein solch abenteuerliches.«

Grischa dachte an die Schatulle, die Silja in ihrem Schreibtisch für ihn verwahrte, der Ertrag seiner Reisen in die Meere des Nordens. An Katyas Erspartes, das sie ihm versprochen hatte, sollte er das Wagnis eingehen, mit Eis zu handeln.

»Ich habe Geld. Ein paar hundert norwegische Speciedaler.«

Was ungefähr das Gleiche in der Rechenwährung der hamburgischen Mark Banco wert war, wie Thilo im Kopf überschlug. Kein unbeträchtliches Kapital und doch bei Weitem nicht genug, als dass es sein Gewissen beruhigt hätte.

»Was willst du dann von uns?«, fragte er herausfordernd.

Offen sah Grischa ihn an und deutete mit einem Nicken auf die Bücher vor Thilo.

»Ihr habt einen Laden. Ihr versteht etwas davon, wie man ein Geschäft führt. Wie man verkauft. Ich nicht. Ich kann nur zur See fahren.«

Thilo wich seinem Blick aus. Einmal mehr griff er zu seinem Bleistift, ließ ihn dann aber wieder fallen.

»Warum sollten wir dir trauen? Du kommst buchstäblich hier hereingeschneit und bietest uns ein mehr als waghalsiges Geschäft an. Wie können wir sicher sein, dass du uns nicht über den Tisch ziehen willst?«

»Wie kann ich sicher sein«, hielt Grischa dagegen, »dass ihr zum Schein nicht erst ablehnt und dann dieses Geschäft doch noch macht? Ohne mich?«

Fest sahen sie einander in die Augen, Thilo und Grischa, in einem stummen Kräftemessen, in dem keiner von beiden nachgeben oder einen Schritt vorwärts machen wollte.

Christian, der Feuer und Flamme für diese Idee war und am liebsten heute noch losgelegt hätte, boxte seinen Bruder gegen die Schulter.

»Komm schon, Thilo!«

Thilo schwieg einige Herzschläge lang und schüttelte dann den Kopf.

»Ich kann das nicht aus dem Augenblick heraus entscheiden. Das muss ich mir erst in Ruhe durch den Kopf gehen lassen.«

»Mach das«, kam es leichthin von Christian. »Ich bin auf jeden Fall dabei.«

Er beugte sich vor und streckte seine Rechte aus, und Grischa schlug ein.

Den ganzen Nachmittag verbrachten sie im Büro hinter dem Laden, kaum je vom Klingeln der Türglocke unterbrochen, die Kundschaft ankündigte, während Grischa und Christian himmelstürmende Pläne schmiedeten und Thilo sie immer wieder auf den dürren und steinigen Boden der Tatsachen zurückholte.

Es dunkelte schon, als Thilo mit einer Lampe in der Hand vor Grischa durch das Treppenhaus nach oben stieg.

Christian, mit einem Bein im Laden, weil Frau Martens nach Grieß und Salz verlangte, hatte sie hochgeschickt, nachdem Grischa sich erkundigt hatte, ob sie irgendetwas wüssten, wo er längerfristig unterkommen könnte.

Dieses eine Mal hätte Thilo es vorgezogen, sich an Christians Stelle um ihre Kundschaft zu kümmern. Ihm war unwohl mit Grischa allein; es machte ihm bewusst, wie unbeholfen er sich benahm.

»Darüber ist nur noch der Speicher«, sagte Thilo, als er die Tür aufschloss, die erst mal klemmte, dann ohrenbetäubend in den Angeln quietschte.

Unter ihren Stiefelsohlen knirschte und rieselte es, während sie die Wohnung durchschritten.

»Entschuldige den schlechten Zustand«, sagte Thilo in einer Art von verlegener Höflichkeit, die ihn mürrisch klingen ließ. »Während der Besatzungszeit waren Soldaten hier einquartiert, und danach blieb kein Mieter länger als ein paar Monate. Seitdem steht die Wohnung leer.«

Grischa schien sich nicht an den Spinnweben und Mäusekötteln zu stören. Er klopfte gegen die Balken.

»Ist solide gebaut«, befand er schließlich. »Der Rest lässt sich richten.«

»Verstehst du etwas davon?«

Grischa zuckte mit den Schultern und trat prüfend auf die knarzenden Dielen.

»Was man eben so lernt, auf einem Bauernhof in Russland und auf Segelschiffen.«

Thilo stellte die Lampe auf den Boden. Mit verschränkten Armen an die Fensterfront gelehnt, beobachtete er Grischa, wie dieser sich die Überreste an Möbeln besah.

Der Russe, der seinem Bruder einen solch hartnäckigen Floh ins Ohr gesetzt hatte. Die Laus, die sie sich gerade in den Pelz holten, von Christian auch noch ermuntert.

Grischa bewegte sich gänzlich ungezwungen durch das Zwielicht der verlassenen Räume; bis in die Zehen und Fingerspitzen schien er seinen kraftstrotzenden Körper auszufüllen. Anders als Thilo, der sich hinter seinen langgezogenen und kräftigen Knochen klein zu machen versuchte. Unter den Muskelpaketen, die er für das Kistenschleppen brauchte und um seinen Vater umherzuwuchten.

Wie ein Faun, dachte Thilo, während er Grischa verstohlen beobachtete. Von einer fast animalischen Ursprünglichkeit.

Nicht nur aufgrund seiner dunklen Farben. Etwas Wildes, Urwüchsiges ging von ihm aus; ein Wesen des Waldes und der Felder, das sich gleichwohl furchtlos ins Meer stürzte, um auf seinen Wellen zu reiten. Mädchen waren bestimmt verrückt nach ihm, und im Gegensatz zu Thilo wusste er sicher auch etwas mit ihnen anzufangen.

Thilos Gesicht wurde heiß bei dem Gedanken, umso mehr, als Grischa zu ihm trat und durch die halb blinden Scheiben auf das Wasser des Binnenhafens hinunterblinzelte.

»Katya wird es hier gefallen.«

Thilo sah ihn fragend an.

»Meine Schwester«, erklärte Grischa. »Ich will sie so schnell wie möglich nachholen.«

Die Wärme in seiner Stimme ließ Thilo nicht unberührt. Er würde heute wohl genauso zärtlich über Rieke sprechen, hätte der Bestatter damals nicht ihren steifen kleinen Körper in einem Leichentuch aus dem Haus getragen.

»Hast du sonst noch Familie?«

Vorsichtig fragte Thilo es, fast argwöhnisch. Als müsste er fürchten, mit Grischa fiele eine ganze Horde Russen ins Haus ein; ein zweiter Kosakenwinter.

Grischa entfernte sich wieder von ihm, um den rostigen Ofen zu untersuchen, und schüttelte den Kopf.

»Unsere Mutter ist gestorben, da war Katya gerade geboren. Wir haben noch einen Vater und Brüder in Russland. Sie waren …«

Einige Herzschläge lang starrte er ins Halbdunkel, dann zuckte er die Schultern wie entschuldigend.

»Ich kann nicht sagen, dass sie schlechte Menschen waren, aber ich habe keinen davon in guter Erinnerung. Wahrscheinlich spricht es auch nicht gerade für mich, dass ich sie nicht vermisse. Aber so ist es nun einmal.«

Entschlossen klappte er die Ofentür zu und richtete sich auf.

»Was ist mit euch?«

Das aufrichtige Interesse in Grischas Blick ließ Thilo keinen Spielraum, drum herumzureden.

»Wir haben auch unsere Mutter verloren. Typhus. Zusammen mit unserer Schwester. In der Franzosenzeit. Unser Vater ist seither Invalide.«

Er war dankbar, dass Grischa auf irgendwelche Beileidsworte verzichtete. Der warme Schimmer in seinen Augen genügte jedoch. Thilo verschränkte die Arme fester vor der Brust.

»Denkst du manchmal noch an Russland?«, fuhr er eilig fort, um von sich selbst abzulenken.

Grischa verzog das Gesicht.

»So gut wie nie. Russland ist dort, wo ich zufällig zur Welt gekommen bin. Was mich in meinen ersten dreizehn Jahren geformt hat. Vermutlich wird man immer hören, dass ich von dort herkomme. Aber seit ich fort bin, habe ich meinen Blick nur nach vorn gerichtet.«

Thilos Blick glitt über seine Schulter auf Hamburg hinaus. Trotz aller Gedanken an eine Auswanderung wusste er sich hier tief verwurzelt, während Grischa sich jetzt schon zwischen den Wänden der verlassenen Wohnung so mühelos ein neues Leben einrichtete, wie man in ein Paar neuer Schuhe stieg.

Vielleicht war es das, was Grischa eine solche Reife verlieh; Thilo wusste nicht, ob er ihn dafür beneiden oder vielmehr bedauern sollte.

Grischa pochte gegen einen der Balken.

»Was wollt ihr dafür?«

Wie Thilo Christian kannte, hätte dieser Grischa die Wohnung bestimmt umsonst überlassen; so weit wollte Thilo nicht gehen.

»Fünf Mark. Die Woche.«

Mehr ein symbolischer Betrag, mit dem sicher auch sein Bruder einverstanden war.

»Feuerholz ist extra«, fügte er hastig hinzu.

Grischa lachte auf.

»Ich weiß zwar nicht genau, ob das viel oder wenig ist, aber es ist auf jeden Fall billiger, als weiter im Gasthaus zu übernachten.«

Während er in einem der Zimmer verschwand und dort Möbel verschob, wandte Thilo sich um und sah in die Dämmerung hinaus, in der die ersten Lichter aufglommen.

Mit Grischa und seiner Schwester würde ein frischer Wind in das Haus am Kehrwieder einziehen, das war jetzt schon spürbar.

Thilo war nur nicht sicher, ob diese Luftveränderung Gutes bedeuten würde.

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