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Katyas Gesicht glühte in der Hitze des Herdfeuers. Einen vom Brotlaib abgerissenen Kanten in der Hand, wartete ihr Vater im Schein des Talglichts darauf, dass sie die dampfende Schale vor ihn hinstellte. Ohne seiner Tochter auch nur einen Blick zu gönnen, begann er, den Eintopf in sich hineinzuschlingen. Katya beeilte sich, wieder auf den Holzklotz hinaufzusteigen, den sie noch brauchte, um an den Kupfertopf heranzureichen, und für Jakov zu schöpfen.
Sie konnte sich an keine Zeit erinnern, in der sie nicht einen Rührlöffel in der Hand gehalten, Rüben geschnitten, Erbsen aus den Hülsen gelöst, Mehl gemahlen oder Teig geknetet hatte. Mit Tante Wera, Tante Ludmila, die das kleine Mädchen mit strenger Hand anleiteten, kaum dass es richtig laufen konnte, und dann schnell an ihren eigenen Herd zurückkehrten.
Es war ein großes Unglück, wenn eine Familie die Mutter verlor, bevor eine Tochter oder eine Schwiegertochter an ihrer Stelle kochen und nähen und waschen konnte, und keiner ließ Katya je vergessen, dass sie die Schuld daran trug.
Die Finger um den Holzlöffel gekrampft, hielt Grischa den Kopf gesenkt; erst wenn er nach den älteren Brüdern an der Reihe gewesen war, würde auch Katya sich zum Essen setzen dürfen.
Ein paarmal hatte er es gewagt, zum Messer zu greifen und Zwiebeln zu schälen, für Katya eine Schale zu füllen, bevor er für sich selbst schöpfte, und der Zorn des Vaters war fürchterlich gewesen. Genauso gut hätte Grischa versuchen können, den Grundherrn mit der Mistgabel zu verjagen und dessen Land in Besitz zu nehmen.
Es gab keine größere Sünde, als an der gottgewollten Ordnung der Dinge zu rütteln.
Die Schale für Jakov in den Händen, kehrte Katya vom Herd zurück. Igors Fuß schnellte unter dem Tisch hervor und traf sie hart am Knöchel.
Jakov röhrte auf, als der Eintopf über seine Jacke schwappte, und stürzte sich auf Katya. Grischa fuhr dazwischen; wie wütende Bären rangen die beiden Brüder miteinander, während Igor und Boris sich vor Lachen bogen.
»Schluss jetzt!«
Die Faust des Vaters krachte auf den Tisch. Igor und Boris verstummten jäh und zogen die Köpfe ein; diese Faust hatten sie alle schon zu spüren bekommen.
»Setz dich hin«, herrschte der Vater Jakov an.
Sein Zeigefinger, knotig und schwarz gerändert, stach erst in Katyas Richtung, dann in Grischas.
»Du. Mach sauber. Auch die Jacke. Eher gibt es für dich nichts zu essen. Und du kühl dich draußen ab.«
Einen bösen Ausdruck auf dem verwitterten Gesicht, erstickte er Grischas Widerworte im Keim.
»Raus!«
Wie Nadelstiche trafen Schneeflocken auf Grischas erhitztes Gesicht; er brannte vor Zorn. Ein hoch aufschießender, maßloser Zorn, der danach schrie, alles kurz und klein zu schlagen.
Wütend kickte er weiße Fontänen auf, knetete harte Geschosse aus Schnee und spie Flüche hinterher, bis seine Hände und Füße taub waren vor Kälte.
Zuflucht fand er in der Wärme des Stalls. Aus glänzenden Augen musterten ihn die Ziegen, während die Schafe sich geduckt aneinanderdrängten. Unter dem stumpfsinnigen Blick des Ochsen wickelte Grischa seine Jacke fester um sich und verkroch sich im hintersten Winkel.
Wie die Tiere, ging es ihm durch den Kopf. Der Vater und die Brüder sind wie Tiere. Schlimmer noch, Tiere wissen es schließlich nicht besser.
Immer öfter brodelte dieser Zorn in ihm auf, für den seine Brust zu eng schien. Als würde er irgendwann seine Rippen sprengen, wenn er ihm nicht beim Holzhacken und Mistschaufeln freien Lauf ließ. Und mit diesem Zorn kroch die Furcht heran, genauso zu werden wie der Vater, die Brüder, Grischas breitere Schultern, die kräftigeren Knochen und Muskeln wie die Vorboten eines unausweichlichen Schicksals. All die sonderbaren Anwandlungen dieses neuen Körpers, heftig und roh, für die er sich ebenso schämte, wie er sie genoss.
Er bemerkte Katya erst, als sie schon vor ihm stand, eine gefüllte Schale und einen Kanten Brot in den Händen; sie war geübt darin, sich unsichtbar zu machen, lautlos zu sein.
»Ich habe keinen Hunger.«
»Du hast immer Hunger.«
Unnachgiebig hielt sie ihm die Schale hin. Einen Mundwinkel zu einem halben und kaum sichtbaren Lächeln angehoben, nahm er sie schließlich mit einem Nicken an.
Während er den Eintopf schlürfte und mit den Zähnen große Brocken aus dem Brot riss, ging Katya zu den Ziegen, die sich ihr entgegendrängten, um gestreichelt zu werden und mit ihren weichen Mäulern an Katyas Jackenärmeln zu knabbern. Katya konnte gut mit Tieren; wann immer sie über den Hof lief, hingen die Hühner und Gänse an ihren Fersen, strichen die Katzen ihr maunzend um die Beine.
Wie ein Wunder war sie ihm damals vorgekommen, ein winziges Menschlein in den Händen des Großvaters, unbändig und fast wütend am Leben zerrend.
In einer Mischung aus Abscheu und Neugierde hatte er zugesehen, wie der Großvater geduldig eine Ziege dazu brachte stillzuhalten, damit das Neugeborene in seinem Arm an den Zitzen saugen konnte. Wie es am Euter der Ziege und unter der Hege des Großvaters wuchs und gedieh, das zeigte Grischa etwas von der Unbezwingbarkeit des Lebens. Dass es so etwas wie Güte und Herzenswärme gab.
Es hatte Grischa nicht gekümmert, dass die Brüder über ihn lachten. Seine kleine Schwester herumzutragen, wenn sie weinte, sie auf den Knien in den Schlaf zu schaukeln war wie ein Trost, dass ihrer aller Mutter nur noch lang genug gelebt hatte, um ihr letztes Kind Katya zu nennen, bevor sie sie begraben mussten.
Schmal wie ein Kiefernschössling, sorgte Katya gut für sie alle. Auch wenn ihr manchmal etwas anbrannte oder das Brot innen klitschig geriet, hatten sie immer genug eingelegtes Kraut und gesalzene Gurken in den Fässern, immer eine Mahlzeit auf dem Tisch. Und trotzdem sprangen der Vater und seine Brüder mit ihr um wie mit einem nichtsnutzigen Balg.
Grischas Zorn glühte nach, schmeckte gallig.
»Du darfst dir nicht alles gefallen lassen.«
Katya schien ganz darin versunken, die Ziegen zwischen den Hörnern zu kraulen. Grischa kannte seine Schwester fast von ihrem ersten Atemzug an, und trotzdem wusste er oft nicht, was in ihrem Kopf vor sich ging.
»Als ich für Jakov noch mal geschöpft habe«, sagte sie dann leise wie nebenbei, »habe ich in seine Schale gespuckt. In die von Boris und Igor auch.«
Grischa verschluckte sich vor Lachen, und auch Katya gab ein Glucksen von sich.
»Es nützt nur nichts«, fuhr sie fort und ließ sich mit einem tiefen Ausatmen, halb ein Seufzen, neben ihm im Stroh nieder. »Sie werden weiter das Sagen haben. Immer stärker sein. Weil sie die Älteren sind.«
Immer würde Grischa gehorchen müssen. Dem Vater. Den Brüdern. Und wenn nicht ihnen, dann dem Grundherrn. An dieses Stück Land gekettet, ohne dass er es je sein eigenes nennen könnte. Nicht einmal Schreiner werden konnte er oder Schneider oder Schmied, weil der Grundherr es nicht erlaubte. Dessen Wohlstand beruhte darauf, dass sie alle seinen Boden bestellten.
Nie würde Grischa ein anderes Leben kennenlernen als das seiner Vorväter. Wie der Ochse, der nichts anderes kannte, als den Pflug zu ziehen, in einem Zustand ewigen Halbdämmers.
Katya musterte ihren Bruder. Die vorspringende Nase, die übergroßen Ohren und die schwere Kinnlinie waren schon fast die eines Erwachsenen, während der kräftige Schneidezahn, der sich über den anderen geschoben hatte, ihm noch immer etwas von einem Lausejungen gab. Wie aus Kind, Bursche, Mann zusammengestückelt; brüchige Nahtstellen, die ihn manchmal mürrisch und reizbar machten.
Wenn sein Blick ins Leere glitt, so wie jetzt, schien er den Ruf des Windes zu hören. Wütend, dass sein Körper, robust und erdverhaftet, diesem Ruf nicht folgen konnte.
Es tat Katya weh, ihn so zu sehen, obwohl sie es nicht verstand. Wenn man keine Wahl hatte, änderte es auch nichts aufzubegehren.
Katya wusste, dass sie immer die Magd des Vaters und ihrer Brüder sein würde, später einmal die ihres Mannes, ihrer Söhne. Für ein Mädchen gab es kein anderes Leben als zwischen Gemüsegärtchen und Hühnerstall, Waschzuber und Herd.
Es gab nur bessere und schlechtere Tage. Kleine Dinge, die über Mühsal und Härte hinwegtrösteten.
Katya liebte den Frühling, in dem draußen alles spross, und die rauchige Luft der Herbstwälder. Wenn es im Sommer nie ganz dunkel wurde und sie barfuß herumlaufen und sich im See Staub und Ruß des Tages abwaschen konnte.
Am meisten jedoch liebte sie die Klarheit und Ruhe des Winters. Für Katya war der Winter kein unbarmherziger Feind, der sie mit Kälte und Schnee als Geisel nahm. Ein starrköpfiger Freund war er, von einer wundersamen Schönheit, die ihr das Herz leichter machte.
Wie die Eiszapfen, glänzend und scharf wie Messerklingen, die in der Hand schmolzen.
»Erzähl mir von Urgroßvater.«
Seit jener Nacht auf dem zugefrorenen See hatten sie nicht mehr darüber gesprochen.
Grischa sah seine Schwester an. Katyas Haar war noch dunkler als seines, glänzend wie das Gefieder eines Raben, aber als einziges der Kinder hatte sie blaue Augen.
Nicht von einem sanften Blau wie die Augen der Mutter. Daran erinnerte Grischa sich noch, und dass das Haar der Mutter goldfarben gewesen war. Keine Seltenheit hier, an den Ufern des großen Sees, wo seit Urzeiten Schweden, Finnen und Russen ihr Blut und ihre Sprachen mit den ersten Siedlern mischten, in Kriegsjahren und Friedenszeiten.
Katyas Augen waren blau wie der frostige Himmel, manchmal schillerten sie grün wie die Lichter des Nordens, die schlechtes Wetter brachten. Unkindlich ernste Augen waren es in diesem zarten, blassen Gesicht; auch ihr Mund zeigte selten ein Lächeln, kaum ein Lachen.
Aus einem anderen Stoff als er und die anderen Brüder schien sie gemacht. Wie Snegurotschka, das Schneemädchen; Großvater hatte viele solcher Geschichten gekannt.
Auch von seinem eigenen Vater hatte er oft erzählt. Jakov, ihr Urgroßvater, der sich nicht wie die anderen Jungen die langen Winter damit vertrieb, am Feuer Holzfiguren zu schnitzen. Nach draußen trieb es ihn, wo er aus Eisklumpen Gnome und Elfen herausschälte, einen Bären, eine Ziege oder eine Krähe.
Jakov hat nicht nur geschickte Hände, hieß es damals, er kann auch im Eis lesen. Ob es spröde und brüchig ist, hart wie Stein oder geschmeidig wie Butter. Unnütze Tändelei, sagten manche, vom Teufel eingeflüstert, argwöhnten andere. So oder so sprach sich Jakovs Gabe im ganzen Landstrich herum und mit der Zeit auch weit darüber hinaus.
Im strengsten Winter seit Menschengedenken, so kalt, dass mancherorts die Vögel vom Himmel fielen, traf der Bote aus Sankt Petersburg ein. Einem Befehl vom Hof musste sogar der Grundherr gehorchen, und er ließ Jakov ziehen.
Kein Kind mehr, aber auch noch kein Mann, kam Jakov in die große Stadt und sah dort zum ersten Mal das Meer. Er sah es, wie es seit einer Generation niemand gesehen hatte und noch viel länger danach niemand mehr sehen würde. Zu Eis erstarrt, so weit das Auge reichte.
Auch die Wasser der Newa waren gefroren, und emsig wie die Ameisen errichteten Arbeiter darauf einen Palast, ganz aus Eis. Ein Glanzpunkt der Feierlichkeiten nach dem Sieg über das Türkenreich, hörte Jakov. Andere erzählten ihm, dass die Zarin mit ihrem Hang zu grausamen Scherzen einen aufsässigen Höfling eine Nacht darin einsperren wollte oder einen Eispalast errichten ließ, weil sie es eben befehlen konnte.
Ein Gebäude wie aus Licht und Wind geschaffen, das dem Winter seinen Willen aufzwang.
Inmitten der anderen Handwerker, die Tische und Stühle und ein Prunkbett aus Eis schufen, schnitzte Jakov aus dem klaren und frostigen Stoff Katzen und Hunde und Vögel, Körbe voller Blumen und Früchte, Bäume mit verwunschenen Ästen und zarten Blättern.
Jakov sah den Eispalast der Zarin nie festlich erleuchtet, nie den Feuerzauber über den Delfinen und Elefanten aus Eis. Kaum hatte er den letzten Schnitt gemacht, den letzten Eisstaub fortgepustet, schickte man ihn nach Hause. Mit einer Handvoll Kopeken als Lohn und mit den Erinnerungen an dieses Abenteuer, von dem er bis zu seinem Lebensende immer wieder aufs Neue erzählen musste.
Grischa gab die Geschichte von Jakov, dem Eisschnitzer, so genau wieder, wie er sie aus den Erzählungen seines Großvaters im Gedächtnis behalten hatte.
Und während Katya mit offenen Augen von funkelnden Kristallen und einem Meer aus Eis träumte, träumte Grischa davon, die Arme auszubreiten wie Flügel und einfach davonzufliegen.