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Es gab kein elenderes Dasein als das auf einem Walfänger, hieß es unter Seeleuten.
Genüsslich schmückten sie ihre Schauergeschichten von madenverseuchtem Zwieback und schleimig grünem Trinkwasser aus, in denen die Gespenster von Skorbut, Ruhr und Cholera umgingen. Von Flutwellen und Stürmen erzählten sie, die Schiffe verschlangen.
Nach Blitzschlägen waren schon Walfänger als lodernde Fackeln durch die Wellen getrieben oder waren an Eisbergen zerschellt. Männer hatten sich bei einem Sturz aus der Takelage das Genick gebrochen, andere hatte die Fluke eines um sich schlagenden Wals zermalmt, und jeder wusste von mindestens einem Schiff, das im Nordmeer verschollen war, weil es nicht mehr genug Männer an Bord gehabt hatte, um es in den nächsten Hafen zu steuern.
Und das alles für einen Hungerlohn.
Grischa hatte sich von all diesen Geschichten nicht abschrecken lassen.
Es stimmte, auf der Havfruen war es eng und dunkel und klamm. Das Seewasser, so hoch oben im Norden auch während des Sommers eisig, war bis in den letzten Winkel zu spüren, und um die Gefahr eines Brandes in Schach zu halten, entzündete man ein Feuer in der Kombüse nur dann, wenn es unbedingt nötig war, kaum einmal, um sich zwischendurch trocknen zu können und daran zu wärmen.
Grischa machte es nicht viel aus. Er war jung und stark und schnell abgehärtet. Auch gegen den Gestank von ungewaschenen Männerleibern und fauligem Bilgewasser, nach Pisse und Kot, der umso stärker die Luft verpestete, je näher die Reise ihrem Ende zuging. Nicht selten noch verschärft durch den Geruch von Tran, den sie auf der Rückfahrt an Bord hatten.
Scheißwetter unter Deck, knurrten die Männer dann mit ihrem ganz eigenen ruppigen Humor, die erste Silbe überdeutlich betont.
Wenn es allzu schlimm wurde, dachte Grischa an das Geld, das ihm diese Fahrt einbringen würde. Kapitän Magne Halvorson zahlte nicht nur eine monatliche Heuer, sondern auch einen Anteil vom Erlös, und war die Fahrt besonders einträglich, winkte sogar ein Bonus.
Halvorson konnte es sich leisten; er wusste, in Tromsø würde ihm die Fracht aus den Händen gerissen, für fast jeden Preis, den er verlangte.
Das aus dem Blubber, der Fettschicht des Wals, ausgekochte Öl brannte in den Lampen der Häuser, diente als Schmiermittel und zum Heizen. Ein Grundstoff für Seifen, Lacke und Farben, war er außerdem eine wichtige Zutat, um Stoffe und Seile zu verarbeiten, besser, als jedes Öl aus Palmen, Raps oder Leinsamen es je könnte.
Die Mode der feinen Damen verlangte plötzlich wieder nach Fischbein aus den Barten des Wals, und zum ersten Mal ließen sich auch die vornehmen Herren ihre Mäntel und Gehröcke damit versteifen und in Form bringen. Fest, aber biegsam, steckte Fischbein in Schirmen, Ladestöcken, Angelruten, Peitschen und Wagenfedern. In feine Streifen geschnitten, wurden Siebe und Netze und Bürsten daraus, und klein geschrotet füllte es die Polster von Möbeln.
Innerhalb nur weniger Jahre war der Wal zum begehrten Rohstoff geworden. Aus einer althergebrachten Tradition der Nordländer, von der sich mehr schlecht als recht leben ließ, ein brummendes und weltumspannendes Geschäft.
Hasenherzig durfte man allerdings nicht sein, wenn man in diesem Teil der Welt auf Waljagd ging.
Die Meere des Nordens waren berüchtigt für ihre Launen, ihren plötzlich aufpeitschenden Zorn. Die Grenzen von Packeis und Festeis verliefen jedes Jahr anders, Eisschollen und Treibeis zwangen auf einen neuen Kurs, und jederzeit konnte ein Eisberg kreuzen. Selbst wenn sich das Wasser gnädig zeigte, tauchte der Bug vielleicht unvermittelt in eine Nebelwand, die jegliche Sicht nahm, vereiste eine plötzliche Kaltfront Takelage und Ruder und machte das Schiff manövrierunfähig. Und sollte sich eine Eisschicht auf das Deck legen, verschob sich der Schwerpunkt so massiv, dass der Segler zu kentern drohte.
Doch nur ein Narr kennt keine Furcht, pflegte Kapitän Halvorson zu sagen. Denn nur die Furcht lehrt einen den Respekt vor Himmel und Meer und lässt einen ein wachsames Auge haben.
Auch wenn die Segel der Havfruen prall von Zuversicht schienen, während sie nach Norden steuerte, blieb unterschwellig eine Anspannung spürbar. Sogar an den gemütlichen Abenden in der Kajüte, im Schein der Laterne, während die Planken und Spanten behaglich knarzten.
Kapitän Halvorson trank einen Schluck Bier und sah Grischa über den Rand des Krugs an.
»Was meinst du, wird das Wetter halten?«
Es war Grischas dritte Fahrt unter Magne Halvorson, und schon während der ersten war dem Kapitän aufgefallen, dass der Bursche nicht nur zupackte und hinter seinem schwerfälligen russischen Akzent flink im Kopf war. Er hatte auch einen sechsten Sinn für das Wetter; ein Schiff konnte sich glücklich schätzen, so einen Mann an Bord zu haben.
Gunnar, Trond und Ove, Männer wie aus Holzblöcken grob herausgehauen, blickten gespannt von den Karten auf. Asbjørn, der Rudergänger, blinzelte durch den Rauch seiner Tabakspfeife, deren Gestank er damit rechtfertigte, dass der Qualm Ungeziefer vertriebe und Krankheitserreger vernichtete.
Er hat den Sturm und den Regen in den Knochen wie ein altes Waschweib, sagten die Männer über Grischa. Wegen des Aberglaubens aller Seeleute ein bisschen argwöhnisch, mehr aber noch anerkennend, fast respektvoll, obwohl er der Jüngste an Bord war.
Grischa horchte in sich hinein. Nicht das leiseste Prickeln kräuselte seinen Nacken, seine Hände lagen ruhig auf dem schartigen Holztisch. Er spürte nichts als die gleichmäßigen Bewegungen des Schiffs, im Einklang mit seinem eigenen Pulsschlag.
»Bis morgen auf jeden Fall. Und der Wind bleibt beständig.«
»Gut.«
Die Linien unter den blassen, wie von der Sonne ausgebleichten Augen des Kapitäns fächerten sich auf; zustimmend zog Sverre geräuschvoll eine Prise Schnupftabak die Nase hinauf.
»Wir sollten dich umtaufen«, lästerte Jonas gutmütig neben Grischa. »In Klabautermann.«
Er verpasste Grischa einen Klaps gegen den Hinterkopf, den dieser mit einem Stiefeltritt unter dem Tisch beantwortete.
Bär riefen sie ihn, anstelle seines Vornamens. Nicht nur weil er Russe war; jetzt, mit sechzehn Jahren, war er so groß, dass er den ausgewachsenen Männern auf Augenhöhe begegnete und es an Kraft mit ihnen aufnehmen konnte.
Im aufbrandenden Gelächter leerte der Kapitän seinen Krug und bedeutete dann seinen beiden Offizieren Harald und Morten, sich mit ihm zurückzuziehen und den Männern die Kajüte zu überlassen.
Halvorson steuerte sein Schiff mit strenger Hand und bestand auf einer klaren Rangordnung. Trotzdem herrschte eine freundschaftliche, fast familiäre Atmosphäre. Nicht nur, weil die Besatzung der Havfruen im Vergleich zu anderen Walfängern, denen sie auf ihrer Route begegneten, überschaubar war. Halvorson nahm nie mehr als zwanzig Männer mit, um Gewicht und vor allem Stauraum zu sparen. Und zumindest der harte Kern bestand auf jeder Fahrt aus denselben Männern, aus Tromsø oder von den umliegenden Inseln Senja, Kvaløya, Ringvassøya; nur Sverre, der Smutje, kam vom Festland. Von Haus aus Fischer, Handwerker oder jüngere Bauernsöhne, wollten sich die Männer über die Sommer etwas dazuverdienen oder sparten darauf, ein Geschäft zu eröffnen, ein Stück Land zu kaufen.
Man kannte sich, auch außerhalb der Jagdsaison. In Tromsø fuhr Grischa manchmal mit Carl zum Fischen hinaus und half ihm, seinen Fang zum Trocknen draußen auf Holzgestelle zu hängen, oder ging mit Olaf und Håkon ein Bier trinken.
Grischas Blick wanderte zu dem Mann, der in der Ecke saß und seit dem Auslaufen noch kein Wort mit jemandem gewechselt hatte. Auch während der Mahlzeiten blieb er für sich, widmete sich nur stumm seinem Essen. Der neue Harpunier, nachdem Viggo sich wegen seiner Gicht zur Ruhe gesetzt hatte.
Ledergesicht nannten sie ihn. Die Haut braun gegerbt, porös und von Narben übersät wie ein abgetragener Schuh, war er schwer auf ein bestimmtes Alter zu schätzen. Seine Bewegungen an Deck jedenfalls waren kraftvoll und geschmeidig, sein dunkles Haar noch ohne Grau.
Einen flüchtigen Moment lang erwiderte Ledergesicht Grischas Blick, dann starrte er weiter Löcher in die Luft, regungslos.
Jonas streckte sich unter herzhaftem Gähnen. »Ich leg mich aufs Ohr.«
Jonas hatte sich übers Jahr nicht verändert, rosig wie ein Schinken, weizenblond und die blauen Augen von entwaffnender Naivität, obwohl vier Jahre älter als Grischa.
Von Jonas waren die spielerischen Raufereien während Grischas erster Fahrt auf dem Walfänger ausgegangen. Wie junge Hunde hatten sie sich lachend gebalgt und einander in ruhigeren Momenten Träume von hübschen Mädchen zugeflüstert, mit heißen Ohren Fantasien zugeraunt.
Es schien nur konsequent herauszufinden, wie es war, wenn man von einer anderen Hand als der eigenen berührt und gerieben wurde, bis die Erregung sich entlud. Im Laderaum, einem dunklen Winkel an Deck; in waghalsiger Kühnheit nachts, während alle anderen in tiefem Schlaf lagen.
Aufregend zuerst und süchtig machend, aber letztlich nichts weiter als ein unbeschwerter Freundschaftsdienst, über den hinterher keiner von beiden weiter nachdachte.
Jonas’ Oberschenkel, der sich unter dem Tisch gegen den Grischas presste, war eine unmissverständliche Einladung, die heute ihre Wirkung verfehlte.
Nur einen Wimpernschlag lang hatte Grischa nicht hingesehen, und Ledergesicht war aus der Kajüte verschwunden.
Scharf zeichnete sich Ledergesichts Silhouette an der Reling ab, seine Haare vom Wind bewegt, die eckige Kinnlinie umso starrer, wie abweisend.
Grischa war plötzlich unsicher, was ihn überhaupt auf das nächtliche Deck gezogen hatte. Was er hier suchte.
Die Arbeit auf einem Walfänger war hart, aber niemand war härter als die Harpuniere. Wie kein anderer setzten sie ihr Leben aufs Spiel, wenn sie sich im Fangboot aufmachten, schnell und möglichst geräuschlos einem Wal nachzusetzen. Sie kamen dem Meeresriesen am nächsten, sie hatten nur diesen einen Versuch, ihn mit der Harpune zu erlegen. Und immer blickten sie der Gefahr ins Auge, mitsamt dem Boot von der Fluke des Wals zerschmettert oder unter die Wellen gepflügt zu werden.
Harpuniere mussten abgebrühte Killer sein.
»Was glotzt du so?«
Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, trat Grischa zu Ledergesicht und streckte seine Rechte aus.
»Grischa.«
Ledergesicht warf nur einen kurzen Blick auf Grischas Hand, bevor er wieder auf das Meer hinausstarrte.
»Wolf«, erwiderte er einige Herzschläge danach. »Oder wolk , wie man dort sagt, wo du herkommst.«
Grischa lachte auf.
»Ich weiß nicht viel über Wölfe. Aber ich weiß, dass jeder Wolf, der einsam durch die Gegend streift, auf der Suche nach einem neuen Rudel ist.«
Vielleicht spiegelte sich etwas von den Bewegungen der Wellen auf Wolfs Gesicht, vielleicht zeichnete sich darauf aber auch tatsächlich so etwas wie eine Regung ab.
»So kann der erste Augenschein täuschen. Du siehst auch nicht aus wie ein Bär. Eher wie ein Adlerjunges, das aus dem Nest gefallen ist.«
Verlegen rieb Grischa über seine vorspringende Nase, die anscheinend nicht aufhören wollte zu wachsen. Umso prägnanter ragte sie aus seinem Gesicht hervor, das sich in den vergangenen drei Jahren gestreckt hatte und in einer schweren Kieferlinie auslief.
Wolfs Stimme klang aufgeraut, fast heiser. Sein Dänisch hatte einen gedehnten Zungenschlag, den Grischa nicht einordnen konnte.
»Wo kommst du her?«
Wieder ließ sich der Harpunier Zeit mit seiner Antwort.
»Friesische Inseln. Sylt.«
Knapp sagte er es, wie zum Abschluss, und auch Grischa fügte nichts mehr hinzu.
Lauernd hatten sie sich umkreist und ihre Reviere abgesteckt; jetzt gab es keinen Grund mehr, weshalb sie nicht nebeneinander an der Reling stehen sollten, um gemeinsam zu schweigen.