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Im Gemischtwarenladen auf dem Kehrwieder brannten noch alle Lampen, obwohl es schon fast neun Uhr war. Wolken zogen tief über die Stadt hinweg und schleppten die Dämmerung in den Dezembermorgen hinein; es sah nach Schnee aus.

Seit sechs Uhr in der Früh hatten die beiden Brüder Petersen auf die Karren aus anderen Teilen der Stadt und vom Land gewartet. Jetzt lagen neue Käselaibe bereit und frische Butter, stapelten sich die Kisten mit Gemüse, und die Schütten mit Graupen, Bohnen, Erbsen und Mehl, Zucker und Salz und Backobst waren wieder voll, der Pfeffer frisch gemahlen.

Christian, mit einundzwanzig Jahren der Jüngere, stand auf der Leiter und ließ sich von Thilo die nachgefüllten Bonbongläser reichen, um sie oben ins Regal zu stellen.

Die Türglocke ging, und in einem Schwall kalter Luft, die nach Winter und Kaminrauch roch, taperte ein verhutzeltes Weiblein in Witwenschwarz herein, halb auf ihren Stock gestützt, halb auf den Arm eines jungen Mädchens.

Thilo murmelte einen kaum hörbaren Gruß. Einmal mehr fragte er sich, warum es ausgerechnet die alten Leute waren, die es nicht abwarten konnten, bis sie morgens ihr Geschäft öffneten, dabei hatten diese von allen doch am meisten Zeit.

»Moin, Frau Westede!«, rief Christian munter von der Leiter herab.

Er mochte den Umgang mit Kunden, es fiel ihm leicht, mit Komplimenten und guten Argumenten ein Pfund Mehl mehr zu verkaufen, eine Speckseite zusätzlich.

Besonders bei hübschen Mädchen.

»Moin, Levke.«

Levke Reinders, rehäugig und apfelbäckig, schloss die Tür hinter sich und ihrer Urgroßmutter und lächelte unter der breiten Krempe ihres Huts zu Christian hinauf.

»Moin, Christian.«

»Na, ihr Lütten«, krächzte die alte Frau den Brüdern entgegen, was sogar Thilo ein Schmunzeln entlockte.

Für die Wittfrau Westede würden sie immer die blonden Bengel bleiben, die auf dem Kai vor dem Laden herumgetollt und ihr manchmal die Einkäufe nach Hause getragen hatten. Obwohl der schlanke Christian sie mittlerweile um mehrere Köpfe überragte und Thilo zu einem solchen Hünen herangewachsen war wie der Vater der jungen Männer in seinen besten Jahren.

Damals, unter Napoleon, hatte die Witwe Westede angeblich die französischen Soldaten verjagt, die sie an jenem bitterkalten Weihnachtstag aus ihrem Haus holen wollten, um sie wie Tausende andere Hamburger aus der belagerten Stadt zu vertreiben. Mit einem glühenden Schürhaken hätte sie ihre vier Wände verteidigt, mit dem Säbel ihres verstorbenen Mannes oder indem sie den Nachttopf über ihren Köpfen ausgoss – darin waren die Erzählungen uneins.

Die alte Frau lachte nur mit ihrem zahnlosen Greisenmund, wenn die Rede darauf kam, und drohte scherzhaft mit dem verkrüppelten Zeigefinger; dass sie sich, damals schon betagt, derart wehrhaft gezeigt hatte, daran zweifelte jedoch niemand im ganzen Grasbrook.

Im Stockwerk über dem Laden polterte es, gefolgt von dumpfem Schaben. Christians dunkelblaue Augen trafen sich mit den grauen Thilos.

»Ich geh schon«, sagte Thilo leise.

Im Gegensatz zu seinem Bruder hatte er ohnehin keinen Sinn für den Klönschnack, der zum Abwiegen von Grieß und Salz dazugehörte.

Zwei Stufen auf einmal nehmend, erklomm er die Stiege hinter den Ladenräumen und ging den Geräuschen nach, die aus dem Zimmer seines Vaters kamen.

Arno Petersen lag neben dem Bett. Der fast kahle Kopf hochrot und die früher kantigen Gesichtszüge aufgequollen, kämpfte er darum, sich vom Boden hochzustemmen und auf sein rechtes Bein zu kommen; das andere hatten ihm die Franzosen dreizehn Jahre zuvor weggeschossen.

»Geht schon, mein Junge«, schnaufte er abwehrend. »Geht schon.«

»O Vadder«, murmelte Thilo vor sich hin.

Geübt fasste er seinen Vater unter den Achseln. Die Arme um die Schultern seines Sohnes geschlungen, hievte Arno Petersen sich auf die Bettkante.

Einstmals ein Mann wie ein Baum, der ganze Türme vollgepackter Kisten umherwuchtete, als wögen sie nicht mehr als ein Sack Federn, war sein Körper über die Zeit erschlafft und aufgedunsen; mit jedem Jahr schien er schwerer zu wiegen, sogar für Thilo.

Thilo klaubte die Reste des Gehstocks auf, der unter dem Gewicht seines Vaters zersplittert war, und blickte sich suchend nach dem Holzbein um; an guten Tagen konnte Arno Petersen damit erstaunlich behände herumhumpeln und im Laden mit anpacken.

»Wo ist dein Klumpfuß?«

Keuchend wedelte Arno Petersen in einer unbestimmten Geste mit der Hand.

»Keine Zeit.«

Wie sehr sein Vater in Eile gewesen war, aus dem Bett zu kommen, verriet der nasse Fleck im Schritt seiner Hose. Der stechende Geruch, der sich mit dem abgestandenen Dunst von Kornbrand mischte.

Arno Petersen trank nicht oft, nur wenn die Schmerzen unerträglich wurden, dann aber Unmengen. Gestern schien ein besonders schlechter Tag gewesen zu sein, er hatte wieder in seinen Kleidern geschlafen.

Ungehalten schlug er die Hand seines Sohnes beiseite, die sich nach ihm ausstreckte.

»Lass, das kann ich schon noch selber! Bring mir nur eine Schüssel mit Wasser und eine frische Hose.«

Es blieb ihm trotzdem nichts anderes übrig, als Thilo mit anpacken zu lassen, während er sich wusch und umzog. Eine der Not gehorchende Intimität, die ihnen vertraut geworden war, aber an die sich keiner von beiden wirklich gewöhnen konnte und die den einen so reizbar machte wie den anderen.

Das leere Hosenbein hochgeschoben, kniete Thilo vor seinem Vater und rieb den knotigen Stumpf mit Salbe ein.

Das, was der damals eilig zu Hilfe geholte Metzger Wesendonk mit Knochensäge und Darmsaiten von Arno Petersens Bein übrig gelassen hatte. Heiß fühlte sich die wulstige Haut unter Thilos Händen an, wund gerieben vom Holz des Ersatzbeins. Die leiseste Berührung schien seinem Vater Qualen zu bereiten.

»Eine Schande ist das«, knurrte Arno Petersen nach einer Weile wie eine zähneknirschende Entschuldigung. »Dass du das tun musst.«

Thilo gab ein leises Schnauben von sich, das von ähnlich ruppiger Behutsamkeit war.

»Es ist doch niemand sonst da.«

Anfangs schienen sie Glück gehabt zu haben, als die Befreiungsarmee die Stadt belagerte, um die Franzosen in die Knie zu zwingen.

Der Laden und Ottilie Petersens hausfrauliche Fürsorge hatten es ihnen ermöglicht, die Vorräte für sechs Monate vorzuweisen, die die französischen Besatzer von den Bürgern verlangten. Sogar ein paar befreundete Familien konnten sie noch damit versorgen, um die drohende Zwangsräumung dieser unnützen Esser, wie es im entsprechenden Erlass hieß, zu verhindern.

Trotzdem mussten sie zusehen, wie die französischen Soldaten viel zu viele ihrer Nachbarn an jenem kalten Wintertag aus den Häusern zerrten. Aus ganz Hamburg an die dreißigtausend Männer, Frauen und Kinder, die in tödliche Kälte und Hunger gejagt wurden, an Weihnachten.

Dann kamen die Soldaten ein zweites Mal und nahmen Ottilie Petersen mit. Damit sie wie viele andere Frauen der Stadt die jungen Soldaten pflegte, die sich in den zu Hospitälern umfunktionierten Zuchthäusern und Waisenheimen und Kornspeichern die Lunge aus dem fiebrigen Leib husteten und sich in einem übelriechenden Schwall erbrachen oder ihr Gedärm entleerten.

Etwas davon musste Ottilie Petersen mitgebracht haben, als sie endlich nach Hause kam, ausgezehrt und mit toten Augen. Vielleicht hatte man in der Kommandantur vom Fieber im Haus erfahren, vielleicht gab es auch einen anderen Grund, weshalb noch einmal Soldaten vor der Tür standen und die gehorteten Lebensmittel für die französische Armee beanspruchten.

Ohne diese Vorräte jedoch drohte ihnen der Rauswurf, und Arno Petersen hatte sich den Franzosen widersetzt.

Mit seinem Bein hatte er dafür bezahlt, dass seine Familie weiter ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen hatte, aber seine Frau konnte er damit genauso wenig vor dem Typhus retten wie die kleine Rieke; bei Christian war es knapp gewesen.

Seitdem bewältigten sie alles allein, der einbeinige Arno Petersen und seine beiden Söhne.

Thilo spürte die Augen seines Vaters auf sich.

»Willst du nicht endlich heiraten, Junge? Kommen doch genug nette Deerns in den Laden.«

Seit Thilo diesen September dreiundzwanzig Jahre alt geworden war, bekam er das von seinem Vater häufiger zu hören.

»Ach, Vadder. Mich will ja keine.«

Sobald ein Mädchen zum ersten Mal in den Laden kam oder ihm auf der Straße begegnete, starrte sie mit großen Augen zu Thilo hinauf. Mehr als einen kurzen Gruß bekam er nie heraus, bevor sie auch schon wieder hastig wegsah, als hätte er sich im nächsten Moment in einen Oger verwandelt.

Und genauso verlässlich wandten sich diese Mädchen dann Christian zu, ihre Stimmen plötzlich eine Tonlage höher, zwitschernde und flatternde Singvögel. Christian mit seinem scharf geschnittenen Gesicht, dem Leichtigkeit und Lebenslust aus den Augen sprühten und der immer die richtigen Worte fand.

Letzten Endes machte es Thilo nicht so viel aus; er hätte ohnehin nicht genau gewusst, was er mit diesen Geschöpfen anfangen sollte, flirrend wie die Libellen über der Alster im Sommer.

Arno Petersen entfuhr ein Seufzen, vielleicht als Antwort auf die Worte seines Sohnes, vielleicht in einem Gefühl der Erleichterung, als Thilo das Ende des Verbands feststeckte.

»Danke, mein Junge.«

Die Schulter unter die Achsel seines Vaters geklemmt, stemmte Thilo sie beide in die Höhe. Auf drei Beinen durchquerten sie das Zimmer, und Arno Petersen ließ sich in den Sessel sinken, der vor dem Fenster stand.

»Ich bring dir gleich dein Frühstück«, sagte Thilo.

Arno Petersen nickte, den Blick nach draußen gerichtet. In die ersten Schneeflocken, die auf die Kähne im Binnenhafen niedergingen und den Turm von Sankt Katharinen umtanzten, auf der anderen Seite der hölzernen Brooksbrücke.

Sein Gesicht hatte eine aschene Färbung angenommen, erschöpft sah er aus. Thilo legte kurz die Hand auf die Schulter seines Vaters; eine Geste, so hilflos, wie er sich fühlte.

»Ruh dich aus, Vadder. Morgen wird ein besserer Tag.«

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