15



Das Licht des Sommers war gereift wie die Früchte in den Gärten und auf den Feldern. Satt und schwer troff es von den Bergen und färbte das Wasser umso blauer. Die Tage wurden merklich kürzer, morgens und abends lag schon der mulchige Hauch von Herbst in der Luft.

Das Wischtuch in der Hand, hielt Katya inne und beobachtete das Schiff, das durch den Sund zog. Die Segel an den Kanten eingerissen, hatte es eine offensichtlich lange und raue Fahrt hinter sich. Das halbe Dutzend Beiboote wiesen es als Walfänger aus, der zweite schon an diesem Morgen.

Katya beeilte sich, die letzten Scheiben der Sprossenfenster blank zu polieren, den Eimer zu leeren und die Wischtücher ausgewrungen zum Trocknen aufzuhängen.

»Die Fenster sind alle geputzt, Fru Guðmundsdóttir«, rief sie auf der Schwelle zur Küche, gefolgt von einer unausgesprochenen Frage.

Silja Guðmundsdóttir holte einen dampfenden Laib Brot aus dem Ofen und klopfte mit dem Fingerknöchel daran; ihre Mundwinkel hoben sich zufrieden, als es hohl klang.

»Ist gut, Katya. Sei spätestens um halb zwölf wieder hier, ich brauche dich für das Mittagessen.«

Eilig band Katya sich die Schürze ab und hängte sie an den Haken.

»Danke, Fru Guðmundsdóttir.«

Durch das geöffnete Fenster sah Silja ihr nach, wie sie zum Wasser hinunterlief, ihren blauen Rock mit den Händen gerafft, die beiden Zöpfe, zu denen sie ihr Haar geflochten hatte, über den Rücken von Bluse und Miederweste tanzend. Rank und schlank wie eine Birke war sie jetzt, auf halbem Weg zwischen dreizehn und vierzehn Jahren.

Ein Backfisch, dachte Silja.

Dieses Frühjahr hatte Katya zum ersten Mal geblutet. Eine rostige Schmiere, wegen der sie hilfesuchend zu Silja gekommen war und die sich über den Sommer zu einem Sturzfluss ausgewachsen hatte, jeden Monat aufs Neue. Verstörend gewalttätig für einen so schmalen Mädchenleib, unter hackenden Krämpfen, die Katya kalkig weiß und halb krank hinnahm.

Eine Phase heftigen Blutens, hoffte Silja, die sich mit der Zeit bestimmt normalisieren würde. Und trotzdem kam ihr jedes Mal in den Sinn, dass man über die Frauen Islands sagte, sie seien nach außen hin kühl und schroff, aber in ihrem Inneren brodelte ein Vulkan.

Ein zärtliches Lächeln um den Mund, eine stolze Wehmut in den Augen, widmete sie sich dem nächsten Laib Brot.

Atemlos langte Katya im Hafen an und verlor keine Zeit. Wahllos pickte sie sich einen der Seeleute heraus, die emsig Leinen vertäuten, Kisten und Säcke und Fässer wuchteten und unter Gebrüll Flaschenzüge austarierten.

Im März hatte Johann Silberberg wieder auf das Festland übergesetzt, um weiter die Gletscher Norwegens zu erkunden, mit dem Versprechen, ihr zu schreiben, wann immer es ihm möglich war. Außer dem Deutsch, in dem sie sich schon ganz gut verständlich machen konnte, hatte er ihr auch den Mut hinterlassen, ihre misstrauische Zurückhaltung zu überwinden, wenn ihr etwas wichtig war.

»Wo kommt ihr her?«

Der Matrose, nicht viel älter als sie selbst, auf dessen Nase sich verbrannte Haut abpellte, sah sie verdutzt an; eine verlegene Röte kroch seinen Hals hinauf.

»Baffin Bay?«, erwiderte er unsicher.

»Sieh an«, erschallte es über Katyas Kopf. »Die Eisjungfer ist wieder da!«

An der Reling blitzte ein starkes Grinsen, umgeben von einem feuerroten Bart; unter der genauso lodernden Mähne funkelten die Augen amüsiert.

Katya erkannte ihn wieder; er hatte ihr im Frühling von der Baffin Bay erzählt, vor der westlichen Küste Grönlands, und vom Nordwasser. Eine Polynya, eine offene Wasserfläche mitten im Eis, das ganze Jahr über ein reicher Fanggrund für Walrosse, Robben, Narwale und Belugas. Aber gefährlich zu erreichen durch das Meereis, das sich an ihren Rändern bildete und den Schiffen entgegentrieb.

»Wie war es auf eurer Fahrt?«, rief Katya ihm entgegen, die Augen zum Schutz gegen die Sonne mit der Hand beschattet. »Was habt ihr an Eis gesehen? An Schnee?«

Sofort drängten sich andere Seeleute an die Reling und starrten zu Katya herunter, ähnlich belustigt und unverhohlen neugierig. Ihre Stimmung war gelöst, ausgelassen nach erfolgreicher Jagd und fast trunken, wieder heil nach Hause gekommen zu sein.

Ein Matrose, kantig und braun gebrannt und strohblond, musterte Katya von Kopf bis Fuß und pfiff durch die Zähne.

»Bei dir möcht ich gern Eisbrecher sein!«

Lachend boxte ihn der Rothaarige zur Seite.

»Warte, Eisjungfer, ich komm zu dir herunter!«

Vielleicht war er es gewesen, der sie als Erster so genannt hatte, vielleicht irgendein anderer Seemann, den sie im Frühling nach seiner Route gefragt hatte, nach Eis und nach Schnee.

Katya konnte nur raten, inwieweit diese Neckerei auch mit der Farbe ihrer Augen zu tun hatte. Oder damit, dass sie nie mit halb schamhaftem, halb verführerischem Lächeln und flatternden Wimpern an der Mole stand wie andere Mädchen, nie auf ein Kompliment oder eine Schäkerei einging. Einerlei, der Name blieb an ihr kleben, sprach sich herum und wartete bereits auf sie, sobald sie auf der Mole ankam.

Katya kümmerte es nicht, ihr Wissensdurst war stärker.

Breitbeinig platzierte sich der Rothaarige auf einer Kiste und winkte Katya zu sich heran.

»Komm mal her, Eisjungfer, ich hab da was für dich. Noch näher.«

Katya tat einen Schritt auf ihn zu, bevor sie stehen blieb, ein wachsames Funkeln in den Augen.

»Du willst doch immer so viel über das Eis wissen … Ich hab da eine Geschichte für dich. In Amerika gibt es einen Mann, der holt im Winter Eis aus den gefrorenen Seen im Norden und verschifft es dann in den heißen Süden. Nach Dixieland und in die Karibik. Und was soll ich sagen, stinkreich ist er damit geworden. Mit deinem Eis.«

Für Berichte von Schnee und Eis war sie hergekommen, stattdessen wurde ihr eine Lügengeschichte aufgetischt. Enttäuschung machte sich in Katya breit und schlug dann in Verärgerung um.

»Ich glaube dir kein Wort.«

Der Seemann setzte eine gekränkte Miene auf und legte in einer beteuernden Geste die behaarte Pranke auf seine Brust.

»Seh ich so aus, als würde ich lügen? Hat mir ein Walfänger aus Nantucket erzählt.«

Katya blieb argwöhnisch und verschränkte die Arme.

»He, Jungs!«, brüllte der Rothaarige zum Deck hinauf. »Stimmt das etwa nicht, mit diesem Spinner und seinem Eis für die Karibik?«

Zustimmende Rufe und beifälliges Gemurmel drangen zu Katya herunter.

»Siehst du?« Grinsend wandte sich der Seemann wieder Katya zu und streckte die Hand nach ihr aus. »Dafür habe ich mir doch ein Küsschen verdient, oder nicht?«

Katya starrte ihn nur an, kühl und abweisend, fast herausfordernd, ihre Augen hart wie Glas. Bis sein Blick flackerte und das Grinsen auf seinem Gesicht erlosch; sie brauchte kein Messer mehr, um zudringliche Männer auf Abstand zu halten.

Sie drehte sich um und ging. Um am nächsten Tag zurückzukehren und die Walfänger und Nordmeerfahrer, die neu angekommen waren, auszufragen und auch die am Tag darauf.

Und zwischen den Schilderungen der Seeleute von Pfannkucheneis und Frazileis und Schmiereis, das sich bei kalter Witterung durch das Nordmeer spann, und einem ganzen Feld von Eisbergen, das diesen Sommer die Walfänger in Atem gehalten hatte, bekam Katya immer wieder ein Fetzchen der gleichen Geschichte zu fassen, von den Männern selbst ungläubig und lachend erzählt wie haarsträubendes Seemannsgarn.

Von Frederic Tudor aus Boston, der davon überzeugt war, mit gefrorenem Wasser aus den Seen Neuenglands könnte er die ganze Welt erobern.

Aus den ersten Seglern, die zum Ende des Sommers im Hafen eintröpfelten, wurde ein beständiger Strom, der die Mole von Tromsø mit Schiffsleibern und Männern füllte. Eine Flut an Fässern und Häuten und Walbarten ergoss sich über den Kai, die noch an Ort und Stelle die Besitzer wechselten, und inmitten dieses Getümmels lief auch die Havfruen in ihren Heimathafen ein.

Grischa genoss die Blicke der Männer, als er mit Katya an seinem Arm über die Mole ging. Bis zu seinem Schlüsselbein reichte sie jetzt, zweifellos das hübscheste Mädchen an der ganzen langen Küste Norwegens.

Sie hatten einander nur für ein paar Tage im Frühling gesehen, so spät war er aus Spitzbergen zurückgekehrt. Das Eis hatte es nicht früher erlaubt, beinahe hätte er sogar die diesjährige Waljagd verpasst.

Keine Fahrt unter Magne Halvorson hatte ihm ein solches Hochgefühl beschert wie diese, nach der Gefangenschaft im finsteren Winter Spitzbergens endlich wieder auf dem Meer und im Wind, im Licht des arktischen Sommers.

Mit Wolf hatte er dort angeknüpft, wo der Herbst sie unterbrochen hatte, mit einer groben Zärtlichkeit, die sich nicht um ein Morgen scherte. Und auf Grönland hatte ihn Napaartoq, spitzknochig und lebhaft wie ein kleiner Vogel, darüber hinweggetröstet, dass Sikkerneq sich einen Mann genommen hatte und zwischen den Frauen ihrer Familie darauf wartete, ihr erstes Kind zur Welt zu bringen.

Manchmal, wenn die Wellen sich die Havfruen gegenseitig zuwarfen und Brecher über das Deck klatschten, war Grischa an der Reling gestanden und hatte seinen Freiheitsdrang in den Sturm hinausgebrüllt.

Sein wildes Haar von Katya wieder kurz getrimmt, stand er oben in der Kammer und rasierte sich, nichts als eine frische Hose an seinem gebadeten Leib.

Katya saß auf dem Boden und beobachtete, wie sich seine kräftigen Schulterblätter, die Muskelstränge an seinem breiten Rücken bewegten, hell gegen das sonnengefärbte Dreieck des Nackens, die tiefbraunen Arme.

Mit Widerhaken hatte sich die Geschichte von dem Eis für den heißen Süden in ihr festgesetzt, weiter verzweigt, je länger sie darüber nachdachte, und schließlich mit dem verflochten, was Johann Silberberg sie gelehrt hatte.

Sie hatte sich die Worte sorgfältig zurechtgelegt, mit denen sie Grischa davon erzählte.

Grischa lachte laut, während er mit dem Rasierer Schaum und Bartfilz aus seinem Gesicht kratzte.

»Das ist das Verrückteste, was ich je gehört habe.«

»Aber es ist wahr«, beharrte Katya.

Sie löste den Blick von ihrem Bruder und strich über die Felle, die er aus Grönland mitgebracht hatte, um sie an Ragnar Eriksson zu verkaufen.

»Erinnerst du dich nicht«, setzte sie neu an, »wie ihr Männer früher das Eis aus dem großen See geschnitten und zum Grundherrn gebracht habt? Damit er über den Sommer alles in seinem Vorratskeller kühl halten konnte?«

Grischa zog den Rasierer durch das Wasser in der Schüssel.

»Das ist es ja. Wer soll das Eis denn kaufen? Wer welches braucht, holt es sich im Winter selbst.«

Wenn man einmal die Augen angehoben hat, ist es unmöglich, wieder nur auf seine Schuhspitzen zu starren. Katya verstand nicht, wie Grischa, der mehr von der Welt gesehen hatte als sie, seinen Blick nicht weiter über den Horizont hinaus richtete.

Sie jedenfalls bekam den Eisberg in der Wüste nicht aus dem Kopf.

»Die Länder, die keine Winter kennen, natürlich. In denen es so heiß ist, dass man froh wäre um ein bisschen Eis.«

Grischa hielt inne, als sich ihre Blicke im Spiegel trafen.

»Hast du eine Ahnung, wie weit es bis dorthin ist? Wie lange ein Schiff braucht, um Afrika zu erreichen oder den Rest der Welt?«

Mit seinem Interesse an Navigation hatte er bei Kapitän Halvorson offene Türen eingerannt; im Wechsel mit beiden Offizieren hatte Halvorson Grischa die über den Winter erlernte Theorie in die Praxis umsetzen lassen. Als Maat war Grischa jetzt zurückgekehrt, mit entsprechend mehr Heuer in der Hosentasche; seine Sichtweise auf den Horizont war eine andere.

Katya gab nicht nach.

»Frederic Tudor hat es doch auch geschafft.«

Grischa fuhr damit fort, in schnellen Bewegungen über die empfindliche Oberlippe zu schaben.

»Ja. Von Neuengland in die Karibik. In Seemeilen ein Katzensprung. Wir reden hier aber über Monate auf See, Katya. In dieser Zeit ist dir das Eis im Laderaum weggeschmolzen, und du kannst höchstens noch das Wasser verkaufen, das geblieben ist. Sofern es unterwegs nicht schon unbrauchbar geworden ist.«

»Nicht unbedingt«, widersprach Katya. »Gletschereis schmilzt langsamer als Eis aus einem See oder einem Fluss. Umso langsamer, je größer die Menge.«

Grischa schüttelte den Kopf und wischte sich den Rest Schaum aus dem Gesicht, rieb sich dann mit einem Tuch trocken.

»Wahrscheinlich wissen die Leute dort nicht einmal, dass es so etwas wie Eis gibt. Und offenbar kommen sie auch gut ohne zurecht. Denn wenn es ein so gutes Geschäft wäre, dann hätten es schon längst viele andere gemacht.«

Verstimmt senkte Katya den Kopf und streichelte die Schuhe, die Grischa ihr von den Inuit mitgebracht hatte, pelzgefüttert und das weiche Leder kostbar bestickt. Sie fragte sich, ob Grischa in den vielen Monaten auf See verlernt hatte, zu träumen und große Pläne zu schmieden.

Dass die Idee gut war, das Eis des Nordens in den Süden zu verschiffen, daran zweifelte sie jedoch keinen Augenblick. Sie wusste nur nicht, wie sie Grischa davon überzeugen konnte.

Das Flämmchen der Lampe war am Verlöschen. Grischa beobachtete sein Züngeln und Zucken, während Silja an seiner Schulter schlief.

Eis in die Tropen verschiffen. Es in die Wüste verkaufen.

Grischa hatte wirklich noch nie etwas derart Verrücktes gehört. Einmal mehr lachte er stumm in sich hinein, und trotzdem ging es ihm immer wieder durch den Sinn. Vielleicht, weil Katyas Argumente in sich schlüssig klangen und sie noch nie eine Traumtänzerin gewesen war; vielleicht aber auch, weil seine Gedanken unablässig um Geschäfte kreisten.

Der Fang dieses Jahres war gut gewesen, die Gier nach Tran und Fischbein ungebrochen, geradezu unersättlich. Trotzdem war der Erlös geringer ausgefallen. Zu viele Walfänger drängten sich inzwischen auf dem Nordmeer und unterboten einander bei ihrer Rückkehr, um ihre Fracht so schnell wie möglich an den Mann zu bringen.

Wolf hatte recht behalten, über kurz oder lang würde Grischa sich etwas anderes suchen müssen, wollte er mehr Geld verdienen als bisher.

Mit einem tiefen Atemzug, halb ein Seufzen, regte sich Silja und blinzelte in das flackernde Licht.

Ein Lächeln erschien auf ihren Gesichtern. Siljas Hand legte sich auf seine Wange, glitt dann in sein Haar. Wie ihre Finger sich darin vergruben und wie sich das Gewicht ihrer Brüste dabei sanft an seiner Haut rieb, rief seine schlafende Männlichkeit wieder wach.

Sie bog den Hals zurück und brach in ein kaum hörbares Lachen aus, das er mit einem langen Kuss erwiderte.

Der sanfte Druck seines Knies genügte, damit sie ihre Schenkel öffnete, und während Grischa sich mit aller Leidenschaft seiner siebzehn Jahre in ihrer reifen Weiblichkeit verlor und schließlich seinen Samen vergoss, trieb der Gedanke an das Eis eine erste feine Wurzel in ihm aus.

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