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Die Albatros war ein plumpes Schiff, schwergängig und von Jahren auf rauer See gezeichnet, aber sturmerprobt, verlässlich und für schwere Lasten gebaut. Ihrem Kapitän Hanno Albers nicht unähnlich, der an Deck stand wie der Holzbalken eines alten Hauses, schartig, abgenutzt und von Feuchtigkeit leicht verzogen, aber mit abgeklärter Ruhe alles an seinem Platz hielt.

Wie er es bei Kapitän Halvorson auf dem Walfänger gelernt hatte, hatte Grischa durchgesetzt, dass sie nur so wenige Hände an Bord hatten wie unbedingt nötig, um Platz und Gewicht zu sparen. Christian und Thilo mussten mit anpacken, soweit sie es konnten, genau wie Katya.

Vor allem war die Albatros billig gewesen. Unter der Bedingung, dass sie zuvor eine Ladung Getreide nach Bergen brachte, hatte Heinrich Pohl um seines häuslichen Friedens willen mit dem Eigner einen günstigen Preis ausgehandelt.

Bergen, versteckt hinter ausgefransten Inselketten, war ein lebhafter Hafen. Eine große Stadt, die eine ganze Landzunge einnahm und dazu noch einen Teil der benachbarten Küste. Pastellbunt vor den winterweißen Bergen und sogar noch unter einem grauen Himmel, dessen Regengüsse die Straßen mit Schneematsch füllten.

Die Fahrt nach Bergen bedeutete einen Umweg, der ihnen gelegen kam.

Ausgestattet mit einer kräftigen Pumpe war die Albatros bereits, das nötige Werkzeug besaßen sie auch. Aber erst hier in Bergen konnten sie sich mit Kleidung eindecken, die warm genug sein würde. Bis zu minus zwanzig Grad erwarteten sie im Landesinneren, hatte Johann Silberberg sie in einem seiner Briefe vorgewarnt. Und in Bergen erwarben sie auch säckeweise das Sägemehl, das ihr Eis kühl genug halten sollte, um es ohne allzu große Verluste nach Hamburg zu bringen, zu lagern und danach weiterzuverschiffen.

Hinter der Küstenlinie Norwegens öffnete sich das Tor zu einer geheimen Welt, nur Fels und Wasser, Winterwald und Schnee. Von einer bizarren Schönheit, die einem anderen Kontinent anzugehören schien.

Zwischen schrundigen Felswänden segelte das Schiff durch ein Labyrinth aus Wasserwegen. So still und glatt, dass der schwerfällige Holzleib wie gewichtslos hindurchglitt. So klar, dass sich die Berghänge unter ihrer Schneedecke scharf darin spiegelten, oben und unten, Himmel und Wasser eins.

Eine einsame Fahrt, weit und breit war kein anderer Segler, kein Boot zu sehen. Auch die Hütten, die vereinzelt an einem Bergsaum klebten, schienen verlassen, an diesen ersten Tagen des frisch geschlüpften Jahres.

Hinter jeder Biegung öffneten sich neue Meeresarme. Die steilflankigen Schluchten warfen das leiseste Geräusch donnernd zurück, sogar die Seeleute dämpften ihre Rufe, fast ehrfürchtig.

Während der Kiel des Seglers durch das glänzende Blau schnitt und sich die Wolken langsam auflösten und wieder verdichteten, ein Land jenseits der Zeit.

Die Sonne hatte sich bereits hinter die Gipfel zurückgezogen, als sie in einer Bucht den Anker auswarfen. Nur ein Fleckchen Land war zwischen den Bergen und der Wasserfläche, die dahinter glänzte, ausgespart geblieben.

Flach und noch dazu von einem Fluss durchschnitten, sah dieses kleine Stück Boden aus, als ob es jederzeit entweder überflutet oder von den Felshängen verschlungen werden könnte.

Umso standhafter schienen das schmucklose Kirchlein und die kleinen Holzhäuser, zwischen denen schlanke Segelkähne unter einer Schneedecke ihre Winterruhe hielten.

Bis das erste Boot der Albatros abgefiert war, hatte sich am Ufer schon eine Menschentraube versammelt, warm eingepackt in Pelz und Leder, ihre Strickmützen bunt eingefärbt. Wollige Hunde liefen aufgeregt umher, winselten und bellten.

Katyas Herz schlug schneller, als sie dazwischen ein bekanntes Gesicht ausmachen konnte, und sie riss die Hand hoch. Breit lachend winkte Johann Silberberg zurück.

Der Kiel stieß knirschend auf Grund, und Katya kletterte eilig über die Reling; dieses Mal waren Männerhosen keine Verkleidung, sondern eine praktische Notwendigkeit. In ihren festen Stiefeln stapfte sie durch das flache Wasser auf Johann Silberberg zu, der ihr mit ausgebreiteten Armen entgegenkam.

»Katya! Lass dich ansehen.«

Verlegen ließ Katya es über sich ergehen, dass er sie bei den Schultern nahm und eingehend betrachtete. In ihren Wachstumssprüngen hatte sie zu ihm aufgeschlossen, überragte ihn sogar schon um ein oder zwei Fingerbreit.

»Das ist also aus dem aufgeweckten Mädchen geworden«, sagte Johann Silberberg mit einem leisen Lächeln. »Eine hinreißende junge Dame. Und sicher immer noch genauso wissensdurstig und gescheit.«

»Sie sehen auch gut aus, Herr Silberberg«, erwiderte Katya mit einem Lachen.

Bis auf einige wenige graue Haare an den Schläfen mehr, schienen die drei Jahre spurlos an ihm vorübergegangen zu sein. Der Bart, den er sich hatte wachsen lassen, stand ihm.

»Einfach Johann, bitte. Wir begegnen uns jetzt ja in jeder Hinsicht auf Augenhöhe.«

Einer der einheimischen Männer trat zu ihnen, das Gesicht eckig und von Wind und Wetter abgeschmirgelt, die Augen von silbrigem Blau wie das Wasser eines Fjords.

Kumpelhaft packte Johann Silberberg ihn bei der Schulter.

»Das ist Harri. Mehr oder weniger das Oberhaupt der Leute an diesem kleinen Flecken Erde.«

Feine Linien falteten sich unter Harris Augen auf, als er lächelte.

»Du musst Katya sein. Das Eismädchen. Herzlich willkommen.«

Weich und fließend war seine Aussprache, am Gaumen über seine Zunge gleitend.

Ringsum begann über Sprachgrenzen hinweg ein großes händeschüttelndes Bekanntmachen, gefolgt von einladenden Gesten in die Häuser, in die sich dann nach und nach die Besatzung der Albatros zerstreute.

»Lass uns reingehen.«

Wie selbstverständlich legte Johann Silberberg den Arm um Katyas Schultern.

»Die Gastfreundschaft hier ist legendär.«

Mit so vielen Menschen wurde es eng in Harris Hütte, außen ebenso mit Tierfellen bespannt wie innen. Gemütlich war es, als sie sich am Tisch zusammenzwängten, im Schein des Feuers, über dem Fleischstreifen zum Trocknen hingen. Die aufgefädelten Pilze und das Blöken der Schafe im benachbarten Stall erinnerten Katya an ihre Kindheit in Russland, während die Soße aus Multbeeren, die Harris Frau Birra und ihre älteste Tochter Nasti zu Rentierbraten und Fladenbrot auf den Tisch stellten, nach der Zeit ihres Heranwachsens in Tromsø schmeckte.

Lebhaft ging es zu bei Tisch, Johann Silberberg kam kaum zum Essen, da er fortwährend erzählte und von einer Sprache in die andere übersetzte.

Christian hörte nur mit halbem Ohr zu, er konnte die Augen nicht von Katya abwenden.

Das war nicht das scheue Mädchen, das er in Hamburg kennengelernt hatte. Offener war sie hier in Norwegen, selbstsicherer. Das hatte er schon auf dem Schiff ein paarmal gedacht, nur war er dort zu beschäftigt gewesen, mit weichen Knien und zittrigen Händen in der Takelage herumzusteigen, um mehr als einen Seitenblick auf sie werfen zu können. Die schwankenden Masten, die beweglichen Seile bedeuteten für ihn eine ungleich größere Herausforderung als die Balken und Dächer, über die er als Junge geklettert war. Vielleicht war die Schwerkraft heute für ihn auch eine andere, als ausgewachsener Mann.

Lachend und mit einem Leuchten auf dem Gesicht saß Katya zwischen diesen fremden Menschen, mit leidenschaftlich glänzenden Augen. Als hätte die fremde Sprache ihr die Zunge gelöst.

Christian irritierte ihre Vertrautheit mit diesem Herrn Silberberg, der mindestens vierzig Jahre alt war. Schwer zu schätzen mit seiner von Kälte, Sonne und Wind gegerbten Haut und reichlich sonderbar, die Karikatur eines verschrobenen Forschers.

Mit dem Beerenpunsch nach dem Essen saß Katya fast auf Silberbergs Schoß, als sie sich zusammen über eine grobe Skizze der Gegend beugten.

Womöglich war Grischas kleine Schwester doch nicht so unschuldig, wie dieser geglaubt hatte, ging es Christian durch den Kopf, einen schlechten Geschmack auf der Zunge.

Katya und Silberberg debattierten angeregt mit Harri, seinem Sohn Mokci und Nastis Mann Ailo, alle mit Augen wie Wasser und Eis, Haaren wie sommergebleichtes Gras; ab und zu rief Grischa etwas dazwischen.

Aufmerksam hörten Birra und ihre beiden Töchter zu, die im Hintergrund saßen und Wolle spannen oder strickten. Jaska, das jüngere Mädchen, im Gegensatz zu ihrer Mutter und Schwester die Zöpfe nicht hochgesteckt, sondern frei über den Rücken ihrer bunten Weste fallend, sah immer wieder mit offenem Mund herüber. Staunend über die Fremden, die in die Siedlung gekommen waren. Über die junge Frau mit dem Rabenhaar, die zwischen den Männern saß wie ihresgleichen und sich auch kleidete wie ein Mann.

»Harri hat uns zugesichert, dass wir auf ihre Hilfe zählen können«, erklärte Johann Silberberg. »Über den Transport des Eises mit den Rentieren hinaus. Falls wir noch Hände brauchen, die beim Schneiden des Eises mit anpacken.«

Zwei Mark am Tag hatte Grischa den Seeleuten für die Arbeit am Eis versprochen. Ein paar hatten sofort zugesagt, andere zogen es vor, lieber nichts zu tun und einfach nur die Gastfreundschaft der Leute hier zu genießen, einige weitere waren unentschlossen, warteten noch ab.

Die Aussicht auf eine Beteiligung aus dem Verkauf des Eises über den Sommer schien offenbar zu unsicher, um wirklich ein Anreiz zu sein.

»Und was wird uns das kosten?«, fragte Christian scharf dazwischen.

Verblüfft richteten sich Johann Silberbergs braune Augen auf ihn. Harris helle Brauen hoben sich.

»Umsonst werden sie das ja wohl kaum machen«, fuhr Christian fort.

Eine steile Falte über der Nasenwurzel, warf Katya ihm einen grünschillernden Blick zu, dann senkte sie den Kopf, ihre Schultern angespannt, wie peinlich berührt.

»Nicht jedes Volk schätzt die klingende Münze so hoch wie wir Deutschen, Herr Petersen.«

Sanftmütig hatte Johann Silberberg es gesagt, erst gegen Ende des Satzes war eine geschliffene Kante herauszuhören.

Mit einem schnellen Blick wollte Christian seinen Bruder auffordern, ihm beizustehen. Doch Thilo hatte sich in die Schatten an der Tischecke zurückgezogen, wo er über einem Papier mit Zahlenfolgen den Kopf mit Grischa zusammensteckte. Wann immer sich in ihr Flüstern eine Pause einschlich, erhellte ein Lächeln ihre Gesichter, wehte ein leises Lachen zu Christian herüber.

Sein Bruder hatte sich verändert. Weicher, nachgiebiger war er geworden und zeigte doch eine ganz neue männliche Stärke. Selbst sein Geruch war nicht mehr derselbe; etwas Dunkles lagerte darunter, das Christian von sich selbst kannte, seit er Nacht für Nacht zu Henny unter die Decken schlüpfte.

Als ob auch Thilo ein Mädchen gefunden hätte, das jetzt zu Hause in Hamburg auf ihn wartete.

Obwohl er nie etwas darüber verlauten ließ, noch nicht einmal andeutungsweise. Bestimmt hatte Grischa nachgeholfen; geradezu unzertrennlich waren sie geworden in den letzten Wochen, dabei hatte Christian immer geglaubt, er wäre derjenige, der sich besser mit Grischa verstand.

In diesem Moment fühlte er sich ausgeschlossen. Einsam, in diesem Raum voller Menschen.

Plötzlich vermisste er Henny, obwohl er kaum an sie dachte, seit sie sich im Hafen von ihm verabschiedet hatte, unter einer Flut von Küssen und ein paar Tränen, hinter denen jedoch aufgeregter Stolz auf ihren wagemutigen Mann funkelte.

Henny, die immer bereit war, ihn in die Arme zu schließen, damit er in ihrer weichen Wärme versinken konnte. Die keinen Widerstand kannte, keine Kanten und Ecken und noch nicht einmal eine Spur von Reibung.

Das musste es sein. Er vermisste Henny, anders konnte er sich das Gefühl der Beklemmung nicht erklären, das den Beerenpunsch auf seiner Zunge faulig schmecken ließ.

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