22



Als ob Grischa an diesem Morgen auf dem Speicher einen schlafenden Drachen geweckt hätte, so kam es Christian später vor.

Seitdem konnte er nicht aufhören, sich vorzustellen, wie er Katya küsste; diesen feingezeichneten Mund, ein blassrosa schimmerndes Blütenblatt. Wie es wäre, ihre schlanke Gestalt an sich zu pressen und ihr seidiges Rabenhaar durch seine Finger gleiten zu lassen. Sich in ihrem Duft zu verlieren, der ihn an einen Sommerabend an der Alster erinnerte, von einer rauchigen Würze unter der Frische von Wind und Wasser.

Wann immer sie für Mehl und Zucker und Gemüse in den Laden kam, sie einander im Treppenhaus begegneten, ein paar Worte wechselten und ein Lächeln tauschten, musste er an sich halten, sie nicht einfach bei der Hand zu nehmen und es herauszufinden.

So wie an diesem Abend, während sie ungezwungen zwischen den drei jungen Männern auf den Dielen ihrer Stube saß, weil sich der Tisch als zu klein für Papiere, Lampe, Kaffeetassen erwiesen hatte. Für ihre großen Pläne von einem Handel, der die Welt eroberte.

Immer wieder streiften Christians Blicke ihren porzellanenen Knöchel über dem pelzgefütterten Lederschuh, enthüllte ihr hochgerutschter Rocksaum etwas von ihrer schlanken Wade. Licht und Schatten modellierten ihr stolzes Profil, wenn sie sich vorneigte, um ihnen nachzuschenken, oder in einen der Kekse biss, die die Petersens mit heraufgebracht hatten.

Als Katya sich auf den Knien aufrichtete, um eine Landkarte zwischen ihnen zu entfalten, wurde der Stoff ihrer Bluse im Lampenlicht durchlässig und ließ die zarten Formen erahnen, die sich darunter verbargen.

Sein Sehnen nach einem Mädchen, immer vage und wechselhaft, hatte mal Blond bevorzugt, mal Braun oder Rot. Eine zierliche Statur, die Beschützerinstinkte weckte, dann wieder üppige Rundungen, die zum Zupacken einluden. Einmal hatte ein schüchternes Lächeln sein Herz erwärmt, dann wieder war es kecke Schnodderigkeit gewesen, die dasselbe Herz höherschlagen ließ.

Eine beständig um sich selbst kreiselnde Kompassnadel, die jetzt endlich in Katya ihren Norden gefunden hatte.

So schmerzhaft intensiv, dass es manchmal nicht zum Aushalten war. Dann versank er in Träumereien von Katya, die seine Hände über sich selbst wandern ließen, nachts, während sein Bruder tief und fest schlief. Augenblicke der Erleichterung, die ihn beschämten, danach; ein Wüstling, der mit schmutzigen Fantasien einem viel zu jungen Mädchen nachstieg.

»Hier«, sagte Katya, über die Karte gebeugt, »im Süden Norwegens. Das ist die Region, die Johann Silberberg für vielversprechend hält.«

Christian starrte auf die Umrisse der skandinavischen Halbinsel. Überflutet von Verliebtheit und Verlangen, sah er sogar darin etwas Geschlechtliches, eine obszöne Schmiererei an einer Hauswand.

»Das Landesinnere ist reich an Seen«, fuhr Katya fort. »So viele, dass vermutlich nicht einmal alle auf den Karten verzeichnet sind. Die Winter sind lang und kalt und vor allem trocken. Das Eis dort müsste genau das sein, was wir brauchen.«

Auf den Unterarmen stützte Katya sich auf der Karte ab, selbstvergessen mit hochgereckter Kehrseite und durchgedrücktem Rücken wie eine rollige Katze. Christians Blutfluss sackte in die Tiefe, hastig trank er einen Schluck frischen Kaffee und verbrannte sich daran die Zunge.

»Viele dieser Landstriche sind dünn besiedelt«, fuhr sie fort. »Wir könnten also gut einen oder mehrere Seen finden, die niemandem gehören.«

Auch Grischa beugte sich vor, um die Karte zu studieren. Sein Daumen und der Zeigefinger überspannten das Papiermeer.

»Mit Oslo und Bergen hätten wir sogar gleich zwei größere Häfen, die wir anlaufen könnten. Keiner von beiden ist mehr als fünf Tage auf See von Hamburg entfernt. Allerdings sollten wir nicht zu weit ins Landesinnere hinein. Wir müssen das Eis ja transportieren, durch den Schnee, und je kürzer der Weg, desto besser.«

»Aber weit genug von der Küste entfernt«, sagte Katya, »damit die Luft schon trocken genug ist.«

Grischa nickte. Seine Finger wanderten weiter, die eingekerbte Küste hinauf.

»Oder wir laufen in einen der Fjorde ein und gehen dort vor Anker. Nur breit und tief genug für ein Schiff müsste er sein.«

»Was ich immer noch nicht verstehe«, wandte Thilo stirnrunzelnd ein. »Warum Eis aus Norwegen? Warum keines von hier?«

»Euer Eis taugt nichts«, erwiderte Katya. »Das habe ich gesehen, als ich hier angekommen bin.«

Thilo hob eine Braue. »Besten Dank auch.«

Katyas Lachen lockte so etwas wie ein Schmunzeln auf Thilos sonst stoisches Gesicht und versetzte Christian einen Stich.

»Die Luft hier ist zu feucht«, erklärte Katya. »Feuchtes Eis schmilzt schneller. Und Flusswasser friert nicht so dicht wie das Wasser eines stillen Sees.«

»Wir haben hier doch aber Eishäuser.« Thilo blieb stur. »Darin lagert hiesiges Eis den ganzen Sommer über.«

Katya strich sich ein loses Haar aus der Stirn und richtete sich auf.

»Aber sobald du es über ein paar Tage hinweg transportieren musst, schmilzt es zu schnell. Eis aus einem See weiter im Norden hält besser. Eis, das länger Zeit hatte zu wachsen, in einer trockenen Kälte.«

Während er ihr zuhörte, hellte sich Thilos hartes Gesicht auf, wurde beinahe weich. Ihr Wissen über das Eis imponierte ihm, und er mochte die Leidenschaft, mit der sie darüber sprach.

»Was glaubst du«, unterbrach Christian scharf, »wofür die Leute nachher mehr Geld ausgeben werden? Für Eis aus einem See in Norwegen, das schon allein nach purer Kälte klingt, oder für Eis irgendwo aus Norddeutschland?«

Sein Bruder hob die Hände zum Zeichen, dass er sich geschlagen gab, und machte sich ein paar Notizen auf den Papieren, die neben seinem Knie auf den Dielen lagen.

»Wir holen das Eis also aus dem norwegischen Winter«, sagte er. »Aber wohin dann damit? Im Winter kauft uns das sicher niemand ab. Der Kunde als solcher ist kurzsichtig und kauft Kernseife vor dem Waschtag, Scheuerpulver und Bohnerwachs vor dem Frühjahrsputz. Was machen wir mit dem Eis, bis die Leute es haben wollen?«

»Wir lagern es ein«, gab Grischa zur Antwort. »Ob noch in Norwegen, hier in Hamburg oder schon im Zielhafen, das müssen wir noch sehen.«

»Hier im Hafen steht genug Lagerraum leer«, meinte Christian, auf befreiende Weise von Katya abgelenkt. »Da bekommen wir sicher etwas für einen Appel und ein Ei.«

Thilo nickte und schrieb ein paar Stichworte dazu nieder, bevor er wieder den Blick hob.

»Aber wie halten wir es solange kühl oder sogar kalt? Für mindestens ein Vierteljahr, wenn nicht länger?«

»Mit Sägemehl«, erwiderte Grischa, ohne zu zögern. »Ich habe lange darüber nachgedacht und überall in Lagerhäusern herumgefragt, womit man eine Fracht am besten dämmt. Mir fällt nichts Besseres ein als das, was wir früher in Russland dazu benutzt haben, im Eiskeller des Grundherrn. In Norwegen wird viel Holz geschlagen und verschifft, wir könnten Sägemehl dort billig bekommen, vielleicht sogar umsonst. In manchen Jahren haben wir auch … Ich weiß nicht, wie es auf Deutsch heißt. Getrocknete Erde aus dem Moor haben wir dafür genommen. Auf Russisch torv

Ein Mundwinkel Thilos zuckte; weich und flach hatte Grischa das Wort ausgesprochen, sodass es mehr wie Dorf klang, aber das Wort war eindeutig dasselbe.

»Torf. Ja, so heißt das bei uns auch. Davon haben wir mehr als genug hier im Norden.«

Sein Gesicht blieb reglos, doch seine wolkengrauen Augen klarten auf. Ein Funke glomm in Grischas braunen Augen, und lächelnd beugte er sich wieder über die Karte.

»Ich hatte eine Menge Zeit in England, mich umzuhören. Unsere Fracht für Hamburg steckte nämlich noch im Schlamm fest, nachdem es wochenlang geregnet hatte und die Straßen überflutet waren. Ich glaube, England wäre der perfekte Markt für unser Eis. Die Winter dort sind oft mild. Zu mild, um viel Eis hervorzubringen, aber die Sommer sind warm. Die Leute essen gern frischen Fisch, und die feinen Ladys und Gentlemen mögen ihre Drinks gekühlt. Wenn wir unser Eis für gutes Geld verkaufen können, dann dort, in einem englischen Sommer.«

Er zeigte auf die Dielen, schräg unterhalb des Kartenrandes, ungefähr dorthin, wo England eingezeichnet wäre.

»London ist ebenfalls nur fünf Tage auf See entfernt. Die Sache hat aber einen Haken. Ich spreche so gut wie kein Englisch. Als ich mich überall durchgefragt habe, habe ich jemanden gebraucht, der für mich übersetzte.«

Johnny Skovsgaard, der dänische Bootsmann, dem der Übermut aus den blitzblauen Augen sprühte. Mit messerscharfen Wangenknochen unter der sommersprossigen Haut, einem Kinn wie der Winkel eines Sextanten und Hinterbacken, die Walnüsse hätten knacken können.

Christian und Thilo tauschten einen langen Blick.

»Wir sprechen beide Englisch«, sagte Christian dann.

Als englischste Stadt auf dem Kontinent hatte Hamburg früher gegolten. Eine Seelenverwandtschaft, die weit über Tweedjacken, Tabakspfeife und Teatime hinausging und in der sich hanseatische Haltung und englische stiff upper lip verbrüderten. Wenn es in London regnete, spannten die Hamburger ihre Regenschirme auf, wie es hieß, so eng waren die Bande über die Nordsee hinweg gewesen.

Bis Napoleon sie säbelrasselnd durchtrennte.

Überzeugt, dass sich der Wind der Mächtigen einmal wieder drehen würde, hatte Arno Petersen seinen Söhnen nicht nur beigebracht, hinter der Toonbank zu stehen und die Bücher zu führen, sondern sie auch die verbotene Sprache gelehrt.

»Leidlich«, widersprach Thilo. »Meines jedenfalls ist reichlich eingerostet.«

»England ist es dann also«, beschloss Grischa.

Locker stützten sich seine Finger auf die Dielen, ganz so, als hielte er England bereits in der Hand.

»Ein Engländer hat vor einiger Zeit schon einmal versucht, mit Eis aus Norwegen zu handeln.«

Grischa genoss die gebannten Blicke Katyas und der beiden Brüder Petersen.

»Er hat sich dabei aber ungeschickt angestellt und ist mit einem Schiff voller Schmelzwasser beinahe gesunken.«

Katya beugte sich wieder über die Karte und ließ ihre Fingerspitzen an den eingezeichneten Bergen und Seen entlangwandern; bis in ihre Ellbogen hinauf kribbelte es, als könnte sie das Eis dort schon fühlen.

»Wir müssen an das dichteste und festeste Eis kommen, das wir kriegen können«, murmelte sie schließlich. »Das beste Eis.«

Grischa nickte.

»Und mit einer Pumpe müssen wir ständig das Schmelzwasser aus dem Frachtraum hinausbefördern. Viele Schiffe haben eine Pumpe an Bord, für Bilgewasser, das sich während der Fahrt unten im Rumpf sammelt. So eine brauchen wir dann für unser Schmelzwasser. Eine möglichst starke.«

Über seinen Notizen stöhnte Thilo auf.

»Ich höre immer nur, was wir alles brauchen. Wie wir das bezahlen wollen, darüber reden wir nie.«

»Wenn es nicht reicht, beleihen wir eben das Haus«, schlug Christian kühn vor.

Thilo starrte ihn eisig an.

»Und wenn es schiefgeht, verlieren wir nicht nur den Laden, sondern sitzen auch auf der Straße. Das kannst du Vadder nicht antun.«

»Wenn es gut geht«, forderte Christian seinen Bruder heraus, »können wir ihm nicht nur ein neues Holzbein kaufen, sondern auch eine Hilfe für ihn anstellen. Vielleicht sogar umziehen in ein Haus, in dem er besser zurechtkommt als hier mit den steilen Treppen.«

Wie Thilos schmale Augen sich verdunkelten und wieder aufhellten, verriet, wie er mit sich rang.

»So oder so können wir das nicht machen«, sagte er schließlich. »Das Haus läuft auf Arno Petersen, genau wie der Laden.«

»Sprich du mit ihm. Als der Ältere. Der Nachfolger.«

Thilo hielt dem drängenden Blick seines Bruders stand.

»Er hat immer gesagt, er übergibt den Laden uns beiden, wenn wir ihn beide wollen. Sprich du mit ihm, du bist doch derjenige, der immer kriegt, was er will.«

»Auf schöne Worte gibt er nichts, das weißt du. Er verlässt sich nur auf Zahlen.«

Ein Tauziehen um Schwächen und Stärken und Verantwortlichkeiten, das den Brüdern zur zweiten Natur geworden war. Manchmal dachte Christian, dass die schweren Zeiten, die sie durchlitten hatten, seinen Vater und Thilo zusammengeschweißt hatten und er selbst, während er im Fieber lag, den Anschluss verpasst hatte.

Schließlich schüttelte Thilo nur den Kopf und versenkte sich wieder in seine Notizen.

»Also holst du uns diesen Winter das erste Eis«, sagte er nach einer kleinen Pause mit einem flüchtigen Seitenblick auf Grischa.

»Wir alle zusammen. Wir werden in Norwegen jede Hand brauchen, die wir kriegen können, um das Eis zu schneiden und zu verladen. Und das ist harte Arbeit, glaub mir.«

Thilo dachte darüber nach.

»Das geht nicht. Einer muss hierbleiben, bei unserem Vater. Wenn es ihm gut geht, kommt er allein zurecht. Aber das ist nun einmal nicht immer so. Und jemand muss sich auch um den Laden kümmern, den können wir nicht für mehrere Wochen schließen. Solange das Geschäft mit dem Eis noch nichts abwirft, brauchen wir das Geld, das hier reinkommt.«

»Katya ist doch da«, warf Christian, ohne nachzudenken, ein.

Katyas Augen, im Zwielicht des Zimmers dunkel wie Indigo, richteten sich auf ihn.

»Katya kommt mit nach Norwegen. Wir brauchen sie dort.«

Gewichtig wie ein Felsblock stellte Grischa diese Tatsache in den Raum.

»Der Handel mit Eis war außerdem ihre Idee.«

Christian fragte sich, ob er dieses kleine Detail irgendwann überhört oder ob Grischa es wohlweislich verschwiegen hatte.

Katya brauchte ihren Bruder nicht, um für sich selbst einzustehen.

»Und es ist auch mein Geld, für das ich fünf Jahre lang gearbeitet und gespart habe. Dieses Geschäft ist ebenso gut meines wie eures«, erklärte sie.

Hell und klar waren ihre Augen jetzt, von einem durchdringenden Blau, das fast ins Grüne spielte.

Eine Täuschung des Lampenlichts vielleicht, unruhig im Luftzug der Fenster; trotzdem hatte Christian noch nie solche Augen gesehen, und er begriff, wie wenig er Katya wirklich kannte.

Mit dem nächsten Wimpernschlag glaubte er, einen Blick auf die Frau zu erhaschen, die sie einmal werden würde, furchtlos und willensstark, ihr Verstand klar und scharf wie ein Eiszapfen. Von einer inneren Schönheit, wild und facettenreich, die noch ihre äußere überstrahlte.

Plötzlich war er unsicher, wie er einer solchen Frau je genügen sollte.

Grischa hielt seine Rechte ausgestreckt über die Karte.

»Auf Petersen & Voronin. «

Katya legte strahlend die Hand in die ihres Bruders und wiederholte seine Worte.

Eine Spur von Ironie um den Mund, zuckte eine von Thilos Brauen auf; er war zu nüchtern veranlagt für betont feierliche Momente. Seine grauen Augen blickten jedoch tiefernst, als er seine große Männerhand obenauf legte.

»Petersen & Voronin.«

Christian zögerte. Ein Handschlag war in Hamburg so bindend wie ein schriftlicher und von einem Notar abgesegneter Vertrag, das hatten die Brüder mit der Luft, die sie atmeten, aufgesogen.

Noch konnte er einen Rückzieher machen. Aber diese Idee war so verrückt, dass sie zwangsläufig ein Erfolg werden musste, das spürte er tief in jedem Knochen. Die einmalige Chance, ihrer aller Leben, die am Rand der Armut vor sich hin dümpelten, etwas Größeres, Besseres abzuringen.

Christian griff zu. »Auf das Geschäft.«

Seine Gedanken kreisten nur noch um zwei Dinge.

Er musste sich Katya aus dem Kopf schlagen.

Und sie brauchten ein Schiff.

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