31



Der See lag entrindet und offen da. Obwohl er vom anderen Ufer her schon wieder auskristallisierte, würde dieses Eis keinen Bestand haben. Milderes Wetter kündigte sich an, das spürte Grischa in der Wärme, die sich in seinem Nacken ausbreitete.

Gerade noch rechtzeitig hatten sie heute die letzten Eisblöcke auf den Weg zur Küste gebracht, nach Sonnenuntergang. Für diesen Winter war es die letzte Nacht im Lager an der Flussmündung, morgen früh würden auch sie abgeholt werden und auf der Albatros die Segel setzen, gen Heimat.

Harri und Mokci waren bereits in die Siedlung zurückgekehrt; ausgehungert an Leib und Seele hatten Thilo und Grischa es in vollen Zügen ausgekostet, das Zelt für sich zu haben.

Noch aufregender durch die Hitze darin und die unmittelbare Nähe zu den offenen Flammen, nur von der Lederhülle des Zeltes von der eisigen Nacht getrennt. Noch sinnlicher durch die Rentierfelle auf der nackten Haut.

Grischas Kopf an seiner Brust, fuhr Thilo die Grate und Riefen von Grischas Körper nach. Sehniger und eckiger waren sie nach diesen Wochen harter Arbeit in der Kälte. Die Muskeln härter, von Rentierfleisch und Fladenbrot und Unmengen Kaffee genährt. Im Schein des Feuers glänzte Grischa auch nach diesem langen Winter durch ihrer beider Schweiß wie Messing, während Thilos Glieder wie Platin schimmerten.

Doch obwohl sie vorhin noch ineinander aufgegangen waren, ihre Konturen sich fast nahtlos ineinanderfügten, schien Grischa von ihm wegzudriften. Langsam, aber unaufhaltsam. Als ob er sich jeden Augenblick auflösen und mit dem Rauch in den Himmel ziehen wollte.

Umso fester legte Thilo seinen Arm um Grischas Schultern und umfasste seine Hüfte. Diese Stelle, die er so liebte, die Haut dort von einer zarten Glätte, die Kuhle wie geschaffen, um seinen Handballen hineinzuschmiegen.

»Ich habe nachgedacht«, flüsterte er in Grischas Haare, die nach Rauch und Winterkälte rochen und wie Grischa selbst, erdig und meeressalzig. »Wenn wir das Eis mit Gewinn verkaufen und nach Abzug aller Kosten noch etwas übrig haben, könnten wir uns doch eine eigene Wohnung leisten. Nur für uns beide.«

Endlich löste Grischa seinen Blick von der verrauchten Himmelsöffnung des Zeltes.

»Wohnst du nicht gern mit Katya zusammen?«

»Doch.«

Thilo zögerte; es war nicht allein das Feuer, das Hitze in sein Gesicht trieb.

»Es ist nur … Ich frage mich, was sie denken muss, wenn sie uns hört. Nachts.«

Ein kleines Grinsen lauerte in Grischas Mundwinkel.

»Ich bin sicher, Katya weiß längst Bescheid. Und wenn es sie stören würde, hätte sie etwas gesagt.«

»Trotzdem«, beharrte Thilo mit einem Kuss in Grischas Haar. »Was denkst du darüber?«

Grischa schwieg.

Ein Liebesnest, in dem sie nackt herumspazieren könnten, wenn sie wollten. Sich lieben, wann immer ihnen danach war, auf dem Sofa, dem Tisch, im Flur, kaum zur Tür hereingekommen – eine verlockende Vorstellung.

Und doch schrak er davor zurück. Ein viel zu großer Schritt schien es ihm. Ein Bekenntnis, das er lieber unausgesprochen lassen wollte; wie verheiratet käme er sich vor.

»Ich kann Katya nicht allein wohnen lassen«, wich Grischa aus. »Nicht mit sechzehn.«

»Dann richten wir uns eine der Wohnungen im Haus her. Aus der darunter lässt sich sicher was machen.«

Grischa setzte sich auf und schabte mit dem stoppeligen Kinn über seine Schulter, wie nachdenklich oder verlegen.

»Was ist?«

»Nichts. Was soll sein?«

Thilo legte die Hand auf Grischas Schulterblatt. Kaum merklich zuckte Grischa zurück, und Thilo ließ die Hand sinken. Seine Kehle schnürte sich zu, er musste schlucken.

»Bist du nicht mehr glücklich mit mir?«

»Das ist es nicht.«

»Was ist es dann?«

Grischa starrte vor sich hin.

Dass er Thilo liebte, daran zweifelte er nicht. Niemand hatte je sein Herz so tief berührt, weder Frau noch Mann.

Thilo, wie er nachts in Grischas Nacken atmete, einen Arm um ihn geschlungen. Wenn Grischa ihm beim Schlafen zusah, in den ersten frühen Lichtstrahlen, bis Thilos Lider, blass schimmernd und feingeädert wie das Innere einer Muschelschale, sich hoben.

Für Grischa gab es kein größeres Glück.

Thilos Schritte, die zur Tür hereinkamen, seine Stimme in der Küche, während er mit Katya über dem Abwasch scherzte und lachte, versetzte etwas in ihm in glückselige Schwingungen, nach denen er süchtig war.

Er wollte nicht, dass das jemals endete. Und dennoch war seine alte Rastlosigkeit zurückgekehrt und nach und nach unter seine Haut gesickert.

Seit sie Katya dem Eiswasser entrissen hatten, drei Wochen war das jetzt her.

Solange sie keuchte und hustete und Wasser ausspie, hatte Grischa einfach nur gehandelt. Ihr als ihr Bruder auf Harris Geheiß hin ihre Kleider vom Leib geschält, sie in seine eigene Jacke gewickelt.

Dann erst hatte das Grauen begonnen. Als sie wie leblos in seinen Armen lag, die Haut fast durchsichtig und mit blauen Lippen, das Haar wie Seetang, eine schockgefrorene Meerjungfrau.

Blut, das in den Adern gefror. Er hatte es immer für eine Redensart gehalten, aber genau so hatte sich Katya angefühlt, während er sie im Schlitten an sich presste und Harri sie beide in einer halsbrecherischen Fahrt ins Lager kutschierte, dicht gefolgt von Ailo mit Christian.

Er hätte es Christian nie verziehen, hätte sie das nicht überlebt, und noch weniger sich selbst.

Etwas von diesem Eis in den Adern schien auch bei Grischa zurückgeblieben zu sein; seitdem konnte er nicht aufhören, darüber nachzudenken, wie jung er noch war, noch nicht einmal zwanzig. Wie schnell alles vorbei sein konnte.

Letztlich vielleicht nur eine schwache Ausrede für seinen ungezügelten Trieb, beschämend genug. Für seine Gier nach absoluter und grenzenloser Freiheit.

»Denkst du an einen anderen Mann? An eine Frau?«

Thilos Stimme klang gepresst. Grischa warf ihm einen Blick zu; im fast weißen Gesicht prägten sich Thilos Wangenknochen herrisch heraus.

»Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich beides mag«, erwiderte er rau. »Das ist meine Natur, und das wusstest du auch.«

Der Gedanke, niemals mehr die weichen Rundungen einer Frau zu streicheln und sich an ihrem Schoß zu betrinken, niemals mehr einen anderen Männerkörper zu kennen als Thilos, nahm ihm die Luft zum Atmen.

»Nur zu.« Thilos scharfe Stimme in seinem Rücken. »Nimm dir, was du willst. Lass dich von mir nicht abhalten.«

Eine Herausforderung, die Grischa hinter dem Brustbein kitzelte und bis tief in sein Becken zog. Lächelnd wandte er sich um und streckte die Hand nach Thilo aus, die dieser wegschlug.

Eine Einladung zum Kampf, auf die Grischa sofort einstieg. Mit Worten und Küssen und Berührungen, lockend, verführend, zupackend, aufheizend. Thilos Widerstand und der Reiz der Eroberung ein Heilmittel gegen seine Unrast.

In dieser Nacht wollte er sich nur in einem einzigen Menschen verlieren. Nur von einem Mann wollte er sich lieben lassen, von Thilo allein.

Thilo war machtlos unter Grischas Händen, seinem Mund, der überwältigenden Kraft seines Körpers. Unentwirrbar verstrickt in seinen Gefühlen, die ihn hilflos machten und wütend und für die er sich in dem Augenblick hasste, als er Grischas Drängen nachgab.

Der einzige Halt, den er in diesem Tumult fand, war an Grischa, der keinen Zweifel daran ließ, wie viel Thilo ihm bedeutete. Mit dem, was er in sein Ohr raunte und auf seine Haut schrieb.

Erst als Grischa ihn im Schlaf an sich presste und Thilo selbst erschöpft und glücklich wegdämmerte, spürte er den Eiszapfen, den Grischa ihm in dieser Nacht ins Herz gerammt hatte.

Lächelnd schlug Katya die Augen auf. Im Zelt war es dunkel, das Feuer heruntergebrannt, durch die Öffnung oben konnte sie die Sterne sehen.

Das Eis rief nach ihr.

Hastig schob sie die Felldecken zur Seite und schlüpfte in die Stiefel, ihre Jacke, aus dem Zelt hinaus in die Winternacht.

Sie hatte sich gut erholt, von den Hirten mit kräftiger Suppe aufgepäppelt. Anfangs war Birra jeden Morgen eigens herübergerudert und hatte an der Feuerstelle einen bitter schmeckenden, stark gesüßten Kräutertee aufgebrüht, damit Katya und Christian unter den Fellen in ihrem jeweiligen Zelt noch den letzten Rest Kälte aus ihren Knochen herausschwitzten.

Gegen Grischas Willen und Harris Rat war sie hier im Lager geblieben; ihre Tage im Eis ließ sie sich von nichts und niemandem nehmen.

Der harschige Schnee knisterte und knirschte unter ihren Sohlen, als sie das dunkle und nachtstille Lager hinter sich ließ; nur einer der Hunde gab ein fragendes Fiepen von sich.

Etliche Herzschläge lang glaubte sie, sie hätte nur geträumt. Dann hob das Eis erneut zu singen an. Sehnsüchtig und klagend, unterstrichen von zögerlich knackenden Schlägen wie der erste Donner eines aufziehenden Gewitters.

Katya lief schneller.

Voroninvatnet konnte es nicht sein, von seinem Wintereis befreit, gerade erst wieder eine Kruste wie dünner Zuckerguss an seinen Rändern. Es musste der andere See sein, dessen Eis splitterte wie Glas. Obwohl näher am Lager, würde sie ihn in dieser Nacht nicht mehr erreichen, fast eine Stunde mit dem Schlitten war er entfernt.

Trotzdem wanderte Katya weiter. Bis sie ganz in dieses Lied eintauchen konnte, über die Ebene zu ihr getragen und von den Bergen verstärkt.

Im bläulich silbernen Licht von Sternenhimmel und Schnee blieb sie stehen, ihr Herz groß und weit. Offen für diese Winternacht und die Welt, die dahinter lag.

Ein Schatten bewegte sich in ihr Gesichtsfeld, zu langsam, zu vorsichtig, um sie zu erschrecken, und sie wandte den Kopf.

Der Ruf des Eises hatte auch Johann Silberberg aus seinem Zelt gelockt.

Ermutigt von ihrem Lächeln, trat er näher und stellte sich neben sie.

»Der schönste Klang der Welt«, murmelte er, und Katya nickte.

Das Eis singt.

Sieben Jahre lang hatte sie es nicht mehr gehört. Sie hatte nie vergessen, wie schön dieses Lied war, und war nun doch erstaunt, wie sehr es sie überwältigte, jetzt, mit sechzehn Jahren. Wie tief es in sie hineinflutete und alles, was in ihrem Körper vibrieren konnte, in Schwingung versetzte.

Es war ein langer Weg gewesen, von dem kleinen Mädchen auf dem großen russischen See bis hierher. Staunend stellte Katya fest, dass sie erwachsen geworden war auf diesem Weg.

Umso mehr, seit sie auf dem dünnem Eis eingebrochen war. Eine Erfahrung, die sie mit einem neuen Verständnis für ihr Element und das Leben zurückgelassen hatte; seitdem liebte sie beides umso inniger.

Mit einem Seitenblick streifte sie Johann Silberberg, der sie so viel über Schnee und Eis gelehrt hatte. Er hatte nicht nur einiges von der Welt gesehen, sondern wusste auch sicher mehr vom Leben und Lieben, von Männern und Frauen.

Daraus schöpfte sie jetzt den Mut, ihn am Ärmel seiner dicken Jacke zu fassen.

»Johann«, flüsterte sie, »lehr mich die Liebe.«

Er brauchte einige Herzschläge, um zu begreifen; dann wurde sein Gesichtsausdruck weich.

»Sosehr es mich berührt, dass du damit ausgerechnet zu mir kommst, und so verlockend deine Bitte auch ist … Ich fürchte, ich muss sie trotzdem ablehnen.«

Katyas Augen wurden groß, dunkel wie der Nachthimmel.

»Gefalle ich dir nicht?«

Johann lachte zärtlich und strich ihr über die Wange.

»Du gefällst mir sogar sehr, Katya. Jeder Mann würde sich glücklich schätzen, das mit dir erleben zu dürfen. Aber es wäre nicht recht, weißt du?«

Katya schüttelte den Kopf, das verstand sie nicht.

»Ich bin viel zu alt für dich.«

»Du bist nicht alt.«

Zweiundvierzig war er jetzt; seltsam, dass sie ihn vor drei Jahren in Tromsø für älter gehalten hatte, als sie es heute empfand.

»Trotzdem wäre es, als würde ich deine jugendliche Neugierde ausnutzen. Kannst du das verstehen?«

Katya nickte.

»Wird das je aufhören«, murmelte sie dennoch, »dass ich für irgendetwas zu jung bin?«

Johann gab einen Laut von sich, der halb nachdenklich, halb belustigt klang.

»Ungefähr an dem Tag, an dem du feststellst, dass du für manche Dinge einfach schon zu alt bist.«

Katya lächelte. Er nahm ihre Hand und drückte einen Kuss auf den weißen Pelz ihres Handschuhs.

»Du solltest dir das für den jungen Mann aufbewahren, in den du dich eines Tages verlieben wirst.«

Kurz flackerte der Gedanke an Christian in Katya auf und verlosch sofort. Thilos Bruder, Grischas Freund – mehr war er nicht mehr für sie, ihr Geschäftspartner und Hennys Mann.

Das nahm sie aus Norwegen mit.

»Und wenn aber keiner mehr kommt?«

Er umschloss ihre Hand fester.

»Dann, liebe Katya, reden wir noch einmal darüber. Als zwei ganz und gar erwachsene Menschen.«

»Versprichst du mir das?«

Er legte den Arm um ihre Schultern und küsste sie auf die Stirn.

»Hoch und heilig verspreche ich dir das.«

Seltsame Geräusche hatten Christian in seinem Schlaf gestört, der ohnehin unruhig war. In dem überhitzten Zelt, in das gegen Morgen, sobald das Feuer einige Zeit erloschen war, verlässlich eine unangenehm klamme Kälte zog. Vorsichtig, um Ailo nicht zu wecken, kroch er zum Einstieg und spähte hinaus.

Mit langen Schritten ließ Katya das Lager hinter sich und eilte in die Nacht hinaus.

Christian zögerte keine Sekunde, griff sich seine warmen Sachen und folgte ihr mit klopfendem Herzen.

Was zwischen ihnen gewesen war, in den Tiefen des Eiswassers, danach im Zelt, war zu kostbar, als dass er es leichtfertig aufgeben wollte.

Darüber hatte er nachgedacht an den Tagen, an denen er zwischen den Fellen am Feuer langsam wieder zu Kräften kam. Als er dick eingepackt seine ersten Schritte draußen tat, damit ihm auch von innen her wieder warm wurde und er zu seiner früheren Energie zurückfand.

Doch seither begegnete ihm Katya mit einer freundlichen Kühle, an der jeder seiner Blicke abglitt. Jedes Wort, das er an sie zu richten versuchte.

Auf einen Moment wie diesen hatte er gewartet. Bevor seine Entschlusskraft und sein Mut, in Eis und Schnee gehärtet, wieder schmolz. Sobald er in wärmere Regionen zurückkehrte und in Hennys ewigen Sonnenschein.

Katya blieb stehen. Ein schwarzer Schatten im Schnee war sie, zwischen den Bergen, im Sternenlicht. Von einer Schönheit, die ihm den Atem nahm und sein Herz wild umherspringen ließ.

Eine zweite Silhouette, kompakt wie Johann Silberberg, gesellte sich zu ihr und trieb auf sie zu, und schließlich verschmolzen beide Umrisse zu einem einzigen.

Als ob er es nicht schon von Anfang an geahnt hätte.

Wie betäubt stand Christian da, seine Brust wie aufgerissen, voller Scham über seine eigene Blindheit und voller Zorn.

Abrupt drehte er sich um und stapfte durch den Schnee zurück.

Erst später, während die Albatros sich mit ihrer tonnenschweren Last durch das spiegelnde Wasser der Fjorde mühte und dann durch die ungestüme Nordsee kämpfte, jeder Atemzug an Bord vom dumpfen Stampfen der Pumpe begleitet, fragte sich Christian, ob vielleicht etwas von dem frostigen Wasser des Sees bei ihm zurückgeblieben war.

Ein Eiskristall, eingeatmet oder über eine Pore seiner Haut eingedrungen, der in seinem Körper umhergewandert war und nun sein Herz mit Raureif zu überziehen begann.

Загрузка...