21



Grischa war schon seit drei Tagen wieder in Hamburg, und noch immer hatte Christian nicht den Mut gefunden, ihn wegen Katya zu fragen. Nie schien es einen günstigen Moment zu geben.

Randvoll mit neuen Eindrücken und Gedanken, an denen er die Brüder teilhaben ließ, war Grischa aus England zurückgekehrt. Als wollte er ihren noch immer groben Plan eines Eishandels so schnell wie möglich zurechtzurren, wirkte er rastlos. Die längste Zeit des Tages war er im Hafen unterwegs, um sich nach geeigneten Schiffen umzusehen, Charterpreise zu erfragen und sich zu erkundigen, wo er die notwendige Ausrüstung herbekam. Und wenn er zwischendurch im Laden half, waren Kunden in der Nähe.

»Je eher wir das Geschäft zum Laufen bringen, umso besser«, erklärte Grischa, als er an diesem Morgen mit Christian die gerade gelieferten Gemüsekisten hereintrug. »Jede Woche, die ungenutzt verstreicht, schmilzt unser Kapital mehr dahin, ohne dass dafür etwas hereinkommt.«

Sein Blick fiel durch die offen stehende Tür nach draußen, und ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. Christian sah ihm nach, wie er auf den Kehrwieder hinaustrat und sich dabei die Hände an der Hose abklopfte.

Auf dem Kai streckte eines der Blumenmädchen der Stadt Passanten ein Sträußchen aus dem Korb, den sie am Arm trug, entgegen. Nicht viel älter als Katya, mager und mausig und mit traurigen Augen, achtete niemand auf sie oder ihre Veilchen.

Wie Wachs in seinen Händen. Christian hatte es immer für eine überspitzte Redensart gehalten, aber genau das geschah mit dem Mädchen, als Grischa sie ansprach. Alles an ihr wurde hell und weich, fast hübsch. Nur unter seinem Blick, ein paar Worten, seiner Nähe. Auf eine instinktive, fast lustvolle Art, die trotzdem etwas Zärtliches hatte.

Mit zwei Händen voller Veilchen kehrte Grischa zurück. Christian sah ihn fragend an.

»Für Katya und Wiebke«, erklärte Grischa augenzwinkernd.

Christian wäre am liebsten im Boden versunken, nicht ein einziges Mal hatte er daran gedacht, Katya Blumen zu schenken.

»Ich wusste nicht, dass Katya Veilchen mag«, murmelte er beschämt, wie zu sich selbst.

Grischa lachte auf, während er die Blumen auf zwei Wassergläser verteilte.

»Ich hoffe es zumindest. Von Wiebke weiß ich es zufällig.«

Es war ein offenes Geheimnis, das Grischa eine Liebschaft in der Stadt hatte. Das lag nahe, wenn er früher als gewohnt sein Glas in der Stube der Petersens leerte und sich mit glänzenden Augen verabschiedete, ein geheimnisvolles Lächeln um den bärtigen Mund, was Arno Petersen immer mit einem verständnisvollen Zwinkern beantwortete.

Frau Kröger hatte Christian schon ein paarmal erzählt, dass Grischa erst in den frühen Morgenstunden nach Hause gekommen war, mit offen stehendem Kragen; nur dass er im Bilde sei über den neuen Mieter oben.

Vermutlich, um von der noch immer ausstehenden Miete der letzten Monate abzulenken.

»Also ist es etwas Ernstes?«

Grischa sah ihn erstaunt an, als er sich die nächste Gemüsekiste griff.

»Es ist mir immer ernst.«

Demnach war Wiebke nicht Grischas erstes Mädchen. Ein befremdlicher Gedanke für Christian, da Grischa doch jünger war als er. Er fragte sich, ob Grischa schlicht ein Weiberheld war. Oder aber ein großer Romantiker, in die ganze Welt verliebt, und die Welt liebte ihn dafür zurück.

Christian sah auf, als er seinen Namen hörte.

Mit einer Hand winkend, mit der anderen die Röcke gerafft, kam eine der Nachbarinnen auf dem Kehrwieder angelaufen, noch in Puschen.

»Moin, Frau Schröder.«

»Ach je, Christian, mir ist der Zucker ausgegangen.«

Schwer atmend presste sie die Hand unter ihren ausladenden Busen.

»Mein Henning ist doch immer so gnaddelig, wenn er seinen Kaffee morgens ohne trinken muss. Hast du mir schnell ein Pfund?«

»Gern, Frau Schröder.«

Christian hatte den Zucker noch nicht abgewogen, als der Karren des Müllers hielt und sie alle Hände voll zu tun bekamen, die monatliche Fuhre über die Seilwinde am Haus hinaufzuziehen.

Oben auf dem Speicher tanzten Stäubchen in den Strahlen der Morgensonne, und Christian fasste sich ein Herz.

»Bekomme ich deine Erlaubnis, mit Katya auszugehen?«

Er klang unnatürlich steif, das hörte er selbst.

Unsicher fühlte er sich auf seinen Beinen, seine Arme wie aus Gummi; für den Moment konnten die Säcke dort bleiben, wo sie lagen. Über einem davon richtete Grischa sich auf und musterte Christian.

Er hätte es erraten können, an ihren leuchtenden Augen, dem verträumten Lächeln um ihren Mund, wenn sie Gemüse schnitt oder am Saum des neuen Tischtuchs stichelte; er hätte nur nicht gedacht, dass sie schon so weit war.

Ernst und bittend blickte Christian ihn an, von seinem ordentlichen Seitenscheitel standen ein paar Strähnen ab, jungenhaft widerborstig. Die Unruhe in seinen Schultern, seinen Händen verriet, wie nervös er auf eine Antwort wartete.

Grischa mochte Christian, die Petersens überhaupt, herzenswarme und rechtschaffene Leute, bei denen er sich wohlfühlte. Vielleicht kannte er sie noch nicht besonders gut, doch er vertraute seinem Instinkt.

»Sicher«, antwortete Grischa und packte den Sack mit beiden Händen. »Aber erst, wenn sie sechzehn ist. Und mir wäre es lieber, du würdest deine Finger bei dir behalten, bis sie mindestens achtzehn ist.«

Er grinste.

»Alles, was sich sonst bei dir ausstrecken kann.«

Mit Schwung wuchtete Grischa den Sack oben auf den Stapel. An diesem Wall aus Mehlsäcken abgestützt, betrachtete er dann nachdenklich Christian, der ihn ungläubig anstarrte.

Im Gegensatz zu seinem Bruder schien Christian zu wissen, wie gut er aussah. Er genoss es sichtlich, dass die Mädchen auf ihn flogen, das Spiel mit Blicken und neckendem Geplänkel. Als würde er sich beständig Appetit holen, während er noch auf die eigentliche Mahlzeit wartete.

Grischa rieb das Kinn an seiner Schulter.

»Warst du schon einmal mit einer Frau zusammen?«

Christian vergrub die Hände in den Hosentaschen. Abgesehen von unzähligen Küssen und den Fummeleien mit Thea, war er so unberührt wie ein blanker Pfennig.

»Dachte ich mir«, knurrte Grischa und rückte den obersten Sack zurecht. »Du wirst dir jedenfalls nicht die Hörner an meiner Schwester abstoßen.«

»Ich habe nicht vor …«, fuhr Christian auf.

Grischas Lachen unterbrach ihn.

»Das sagst du jetzt! Wenn du einmal damit angefangen hast, willst du mehr und immer mehr, und dann ist es fast unmöglich aufzuhören, glaub mir. Und den Frauen geht es genauso. Nur sind sie diejenigen, die am Ende den Preis dafür bezahlen.«

»Du scheinst dir jedenfalls keine Zügel anzulegen.«

In Christians Bissigkeit klang so etwas wie Neid an, fast bewundernd, und ein Grinsen zuckte über Grischas Gesicht.

»Warum auch? Aber an ganz jungen Mädchen verbrenne ich mir nicht die Finger. So viel Hirn und Anstand habe ich immerhin.«

»Katya ist nicht wie andere Mädchen«, beharrte Christian, fast trotzig.

Grischa über seine eigene Schwester zu belehren kam ihm selbst anmaßend vor.

»Nein, das ist sie nicht.«

Mit einem warmen Glanz richteten sich Grischas Augen auf ihn, und für einen flüchtigen Moment erschien ein Lächeln auf ihrer beider Gesichter.

»Es ändert nur nichts daran, dass sie trotzdem erst fünfzehn ist. Ich habe jeden Winter, den sie auf der Welt ist, mitgezählt.«

Grischa griff nach dem nächsten Sack und hielt dann inne.

»Unsere Mutter war stark wie ein Pferd. So erinnere ich mich an sie. Obwohl sie so viele Kinder geboren und die meisten davon wieder verloren hatte. Als Katya kam … Es war ein kalter Winter, der Schnee lag hoch. In der Frühe hat sie mit ihrem gewaltigen Bauch noch Feuer gemacht und Essen für den ganzen Tag gekocht und sich dann in die Ecke hinter dem Vorhang gehockt, um Katya zu bekommen.«

Er zögerte einige Herzschläge lang; danach klang seine Stimme rau, wie aufgeschürft.

»Da war so viel Blut, ich hatte vorher nicht gewusst, wie viel Blut ein Mensch in sich haben kann. Am Abend war sie tot. Katya wäre mit ihr gestorben, hätte unser Großvater sich nicht auf das Wissen der Altväter besonnen und sie am Euter einer Ziege angelegt, damit sie Milch bekam.«

Angestrengt beschäftigte sich Christian mit einer aufgeplatzten Naht an einem der Säcke. Obwohl er wusste, dass drüben in der Ecke eigens dafür Zwirn und eine grobe Nadel lagen, zwirbelte er eigensinnig die Enden zusammen, um sie zu verknoten.

Seine Augen brannten. Was Grischa erzählt hatte, berührte ihn auf mehr als eine Weise.

Viel zu wenig war ihm von seiner Mutter im Gedächtnis geblieben, als hätte das Fieber nahezu alles ausgelöscht, was zuvor gewesen war. Dass sie gern schallend gelacht hatte, daran erinnerte er sich noch. Wie er es geliebt hatte, sein Gesicht in ihren Schoß zu drücken, weil ihre Schürze so gut roch, mal nach Braten, mal nach Butterkuchen; das herrlichste Gefühl der Welt war es gewesen, wenn sie ihm dann über den Hinterkopf streichelte.

Dass Rieke genauso blond gewesen war wie ihre Brüder, daran erinnerte er sich auch noch, und kitzlig an den Füßen, und wie gern sie sich an ihn gekuschelt hatte, immer warm und ein bisschen klebrig, ihre Stoffpuppe im Arm und einen Daumen im Mund.

Als die heißkalten Wellen des Fiebers sich endlich zurückzogen und Christian freigaben, waren seine Mutter und seine kleine Schwester nicht mehr da gewesen. Sein Bruder schien ein alter Mann in einem knochigen Jungenkörper geworden zu sein, und sein baumstarker Vater, auf dessen Schultern Christian immer so gern geritten war, hoch oben über den Köpfen der anderen Leute, hatte nur noch ein Bein gehabt.

Deshalb liebte er den Flirt und den Spaß, wollte er immer nur der Sonne ins Gesicht sehen, nie dem Schatten. Deshalb küsste er so gern Mädchen, denn bei jedem Kuss konnte er fühlen, wie lebendig er war.

Wie früher, wenn er hier oben aus der Luke kletterte, sich an Regenrinne und Dachziegeln hinaufhangelte und auf dem Dachfirst balancierte und die Schornsteine erklomm, in der Alster untertauchte und so lange die Luft anhielt, bis ihm schwindelig wurde.

Sein Ruf an den Schwarzen Mann, ihn doch zu holen, wenn er es wagte, immer auf der Suche nach einem Grund, warum er das Fieber überlebt hatte und nicht Mutter, nicht Rieke.

In dem Bedürfnis nach Strafe hatte er im Dunkeln Senf an die Türgriffe der Nachbarn geschmiert, rohe Eier in die Schuhe im Treppenhaus gesteckt. Doch wenn nicht sein Jungengesicht unter dem blonden Haarschopf Ausrede genug war, war es Thilo gewesen, der sich für ihn entschuldigt hatte, manchmal mit einer Flasche Schnaps oder einer Dose Kekse als Wiedergutmachung, hatte sein kleiner Bruder es allzu toll getrieben.

Verbissen rang Christian mit dem störrischen Sackleinen, der scharfe Schmerz in den Fingerspitzen und Knöcheln, die Schnitte, die er sich dabei mit den Nägeln selbst beibrachte wie ein Gegenmittel gegen die Enge in seiner Kehle.

»Auch wenn ich sie viel zu oft und viel zu lange allein gelassen habe, weil es nicht anders ging«, sagte Grischa hinter ihm. »Katya ist die einzige Familie, die ich habe. Meine einzige Heimat. Ich kann sie nicht davor bewahren, das gleiche Schicksal zu erleiden wie unsere Mutter. Aber ich kann verhindern, dass sie sich in die gleiche Gefahr bringt, bevor sie überhaupt zu einer Frau herangewachsen ist.«

Zorn entzündete sich in Christian; er packte den zugeknoteten Sack und schleuderte ihn auf den Stapel obenauf; über ihren Köpfen explodierte eine Mehlfontäne und schneite auf sie herab.

»Ich habe dich doch nur gefragt, ob ich mit ihr ausgehen darf!«

In Grischas Mundwinkel lauerte ein kleines Lachen.

»Du tust ja gerade so, als ob ich Katya von nun an einsperren will. Natürlich könnt ihr euch treffen. Nur nicht allein, nicht unter vier Augen.«

Zu einem Lausejungen zurechtgestutzt, so kam Christian sich vor. Dem ein Erwachsener die Regeln diktierte.

»Traust du mir so wenig?«

»Ich traue deinem Charakter, Christian. Aber nicht deinem Schwanz.«

»Vielleicht habe ich meinen besser im Zaum als du deinen.«

Während sie miteinander stritten, rückten ihre Hände einträchtig die letzten Mehlsäcke zurecht.

»Kannst du mir denn dein Wort geben, dass es beim Händehalten bleibt? Bei einem harmlosen Kuss, irgendwo hinter einem Baum oder hier auf dem Speicher?«

Es wäre so einfach gewesen, ja zu sagen. Mit derselben Überzeugungskraft, mit der er eine Kundin dazu brachte, eine Spule Zwirn mehr zu nehmen, zum Bohnerwachs noch eine Dose Schuhwichse, damit die Stiefel genauso glänzten wie der Boden, und zum Alltagseinkauf eine Tüte Bonbons für die Enkel.

Christian war ein guter Verkäufer, aber kein Lügner.

»Ein Jahr, Christian.«

Grischa bürstete sich das Mehl aus den Haaren, klopfte es sich aus den Kleidern.

»Wenn du sie in einem Jahr immer noch willst und sie dich auch, dann habt ihr meinen Segen, miteinander auszugehen. Wenn du dann noch einmal zwei Jahre Geduld aufbringst, gebe ich sie dir gern zur Braut, so sie will. Machst du ihr aber in der Zwischenzeit ein Kind, breche ich dir alle Knochen im Leib.«

Grischas starke Hand packte ihn an der Schulter; eine gleichermaßen versöhnliche Geste unter Freunden wie eine unmissverständliche Drohung.

Christian wünschte sich, er hätte nichts gesagt und es einfach darauf ankommen lassen. Von nun an würde nicht nur Thilo, sondern auch Grischa ein scharfes Auge auf ihn und Katya haben.

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