1.
Die Zeit verstrich.
Hunt erhielt das Angebot, in der Bezirksverwaltung aufzusteigen und in einem schmucken Büro zu arbeiten, statt weiter draußen beim Baumbeschnitt, doch zu jedermanns Erstaunen - von ihm selbst abgesehen - lehnte er ab. Es war sonderbar, aber Hunt hatte festgestellt, dass ihm die Arbeit wirklich Spaß machte. Außerdem verdiente er genug, dass er und Beth mit ihrem gemeinsamen Einkommen sehr gut zurechtkamen. Er sah keinen Grund, sich umzustellen.
Es war beinahe so, als würde er zwei unterschiedliche Leben führen. Das Leben vor der Scheidung und das nach der Scheidung. Vorher hatte er ein großes Haus in der Vorstadt in Südkalifornien gehabt, und dazu einen relativ gut bezahlten Techniker-Job bei einem multinationalen Konzern, und nun lebte er im Haus seiner Freundin und verrichtete körperliche Arbeit für das Pima County.
Aber es war schön. Hunt hatte nie zu den »Zurück-zur-Natur«-Typen gehört, die sich nach einer ländlichen Idylle sehnten, die es gar nicht gab. Doch Hunt empfand es als erfrischend und regelrecht belebend, in der freien Natur zu arbeiten und endlich wieder saubere Luft atmen zu können - nach all den Jahren in der Metropole Los Angeles, in der man einen klaren Tag daran erkannte, dass man durch den Smog gerade noch die umliegenden Berge erkennen konnte.
Außerdem mochte Hunt seine Kollegen wirklich.
Das war ganz anders als bei Boeing. Damals war es ihm völlig egal gewesen, dass er vermutlich keinen seiner Kollegen jemals wiedersehen würde. Zwar hatte es dort niemanden gegeben, den Hunt gehasst hätte, und mit den meisten Kollegen war er gut ausgekommen, aber echte Freundschaften hatte er nicht geschlossen; es hatte niemanden dort gegeben, der ihm wirklich nahegestanden hätte. Seine Kollegen waren allenfalls Bekannte gewesen, aber keine Freunde.
Edward und Jorge hingegen waren echte Freunde. Sie unternahmen gemeinsam Dinge, verbrachten manches Wochenende zusammen, besuchten einander zu Hause. Am meisten überraschte es Hunt - und auch Joel -, dass die vertrauten Klischees einfach nicht zutrafen. Edward war ein Freund der klassischen Musik, ein richtiger Liebhaber. Und er hörte nicht nur die alten Klassiker, sondern auch Ausgefalleneres - Monk, Lentz, Reich, Andriessen und andere Komponisten, von denen Hunt bisher nicht einmal die Namen gehört hatte, geschweige denn, dass er ihre Musik verstünde. Und Jorge las mehr als jeder andere, den Hunt jemals kennen gelernt hatte - nicht nur die üblichen Bestseller, sondern auch obskure Autoren aus Südamerika, deren Werke in den USA noch gar nicht auf dem Markt waren. So seltsam es erscheinen mochte: Die beiden Baumbeschneider kamen Intellektuellen viel näher als Hunt oder Joel oder jemand von deren Berufskollegen aus der Vorstadt - nicht, dass die beiden es jemals zugegeben hätten.
Die Welt war schon sonderbar. In gewisser Hinsicht war Hunt in einem Elfenbeinturm aufgewachsen: Sohn eines Bibliothekars und einer Lehrerin am Junior College, und trotz aller Bemühungen, ein Weltbild zu entwickeln, das so demokratisch wie möglich war, hatte er tief in seinem Innern immer ein gewisses Klassendenken besessen, hatte körperlich hart arbeitenden Menschen und der »ungebildeten Masse« einen gewissen Geschmack und gewisse Merkmale zugeschrieben, den »er und seinesgleichen« nicht aufwiesen. Er hatte erst selbst einen Job annehmen müssen, bei dem es um körperliche Arbeit ging, um in dieser Hinsicht eines Besseren belehrt zu werden und zu begreifen, dass Vorurteile und vorgefasste Meinungen tatsächlich so unzutreffend und schädlich waren, wie es immer gerne behauptet wurde.
Auch seine Arbeit als Baumbeschneider überraschte ihn stets aufs Neue. Pima County war so groß und die Vegetation so abwechslungsreich, dass Hunt immer wieder in Gegenden arbeitete, die völlig neu und fremdartig für ihn waren. Natürlich gab es einen gewissen Zeitplan und bestimmte Gebiete - etwa die Stadtmitte -, die regelmäßig aufgesucht werden mussten, doch dieser Zeitplan war so angelegt, dass sämtliche Baumbeschneider-Trupps sich darin abwechselten, und wenigstens ein paar Mal jeden Monat waren sie in sehr abgelegenen Gegenden unterwegs, die man nur über selten befahrene Straßen erreichte.
Der sonderbarste Ort, den Hunt bisher gesehen hatte, war der »Knast«. Zumindest nannten Edward und Jorge ihn so. Tatsächlich wusste niemand, wozu dieses Gebäude wirklich diente. Es lag im Südosten der Stadt, nahe den Überresten einer alten Geisterstadt, am Grunde eines ausgedienten Wasserreservoirs, doch nun war es nur noch eine knochentrockene Grube, von Wüstenvegetation überwuchert und von dicht wachsenden Mesquitebäumen umstanden. Die Dürre des letzten Jahres hatte dafür gesorgt, dass das gesamte Gebiet als Brandrisiko eingestuft worden war, und nun sollten Hunt und seine Kollegen die Bäume dort ausdünnen; später in der Woche würde ein anderer Trupp kommen, um das vertrocknete Unterholz zu entfernen.
Doch zuerst wurde Hunt von Edward und Jorge einen steilen Kiesweg hinuntergeführt, geradewegs in die Grube hinein, in der dichte, dornige Disteln hüfthoch ein sonderbares Steingebäude umrankten, das nur wenig größer war als ein Toilettenhäuschen. Es hatte keine Fenster, und die Tür - ein verrostetes Rechteck zahlreicher, einander überkreuzender Eisenstangen - war in halb geöffnetem Zustand festgerostet. Innen waren die Wände völlig mit Moos überzogen, und der Boden war feucht und voller Algen, als befände sich das kleine Gebäude oberhalb einer Quelle, aus der immer wieder Wasser aufstieg und für Feuchtigkeit, Fäulnis und Moder sorgte.
»Wir haben immer noch nicht rausgekriegt, warum es den Knast hier überhaupt gibt«, sagte Jorge. »Offensichtlich ist er sehr alt, wahrscheinlich so alt wie diese Geisterstadt, aber zu der Zeit muss es hier unten Wasser gegeben haben.«
Edward versuchte, die Tür weiter zu öffnen. »Ich glaube, die haben Leute da drin eingesperrt, wenn der Wasserstand niedrig war, und sie dann drin gelassen, wenn der Wasserspiegel gestiegen ist, um sie zu ersäufen. Hexen und so.«
Jorge nickte. »Schon möglich.«
Es war noch früh am Morgen, aber schon heiß, und so stapften sie den Pfad wieder hinauf, zu ihren Wagen zurück. Der »Knast« ging Hunt den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf, doch aus irgendeinem Grund erzählte er Beth nichts davon.
Beth und er waren einander näher denn je. Ihre Beziehung entwickelte sich immer weiter und immer besser, fast wie eine Liebesgeschichte bei Lifetime-TV. Sie waren tatsächlich verliebt, auch wenn keiner von beiden es bisher gesagt hatte; weder Hunt noch Beth hatten bis jetzt die berühmten Worte ausgesprochen. Und auch wenn Hunt nicht recht wusste, warum eigentlich nicht, so hatte er doch die Absicht, dies bald zu ändern. Nach seinen Erfahrungen mit Eileen hatte er nicht geglaubt, sich so rasch wieder auf eine neue echte Beziehung einlassen zu können, doch jetzt erkannte er, dass er sich nichts so sehr wünschte, wie den Rest seines Lebens mit Beth zu verbringen.
Vor einem Club, in dem sie sich an einem Freitagabend einen Auftritt von Jimmie Dale Gilmore angeschaut hatten, trafen sie ihren alten Kumpel wieder, den Loser-Typen im purpurnen Anzug. Es schien ihm zurzeit ziemlich gut zu gehen; und anscheinend ging er wieder seinem alten Gewerbe nach. Obwohl er Hunt und Beth offensichtlich gesehen hatte, schien er sie doch nicht zu erkennen. Hunt konnte es nur recht sein. Der Kerl gehörte nun wirklich nicht zu den Menschen, mit denen er eine Bekanntschaft pflegen wollte.
Dabei stellte Hunt fest, dass er sich unterschwellig fragte, ob das Krankenhaus, vor dem sie den »Loser« abgesetzt hatten, den Mann tatsächlich behandelt hatte, oder ob er wie ein Obdachloser aus einem Charles-Dickens-Roman fortgeschickt worden war, weil er keine Versicherung vorweisen konnte. Aber jetzt war er hier, und es schien ihm gut zu gehen, also ging Hunt davon aus, dass man die Verletzungen des Mannes behandelt hatte. Doch irgendwie hatte Hunt das Gefühl, dass der Purpur-Mann nicht zu ihm hinüberschauen würde, wenn er ihm einen Gruß zuriefe - weil er auf dem Ohr taub war, das zu behandeln man sich im ersten Krankenhaus geweigert hatte.
Hunt hatte immer noch Ärger mit seiner Versicherung wegen der Einrichtung des Hauses, das er nach wie vor gemietet hatte. Die Versicherung war der Ansicht, er sei angemessen entschädigt worden: Seine zerstörten Möbel und die anderen Besitztümer habe man durch Gleichwertiges ersetzt; für die Versicherung sei der Fall damit abgeschlossen. Doch Hunt wollte das so nicht hinnehmen und hatte Widerspruch bei der staatlichen Versicherungskommission eingelegt, um gegen diese Ungerechtigkeit anzugehen. Doch die Mühlen der Bürokratie mahlten langsam, und so wusste Hunt nicht, wann eine Entscheidung fallen würde - und ob diese zu seinen Gunsten ausfiele. Insgeheim dachte er schon darüber nach, dem Senator seines Bundesstaates, seinem Abgeordneten und seinem Kongressabgeordneten zu schreiben und dabei detaillierte Richtlinien vorzuschlagen, die seines Erachtens zum Gesetz gemacht werden sollten, damit anderen Menschen solche Beleidigungen und Misshandlungen erspart blieben.
Die Richtlinien, die Hunt vorschlagen wollte, waren logisch und sinnvoll, und ihm fiel kein Grund ein, warum jemand - außer den Versicherungsgesellschaften - etwas dagegen haben sollte. Deshalb hätte man ihn eigentlich anhören und entsprechende Maßnahmen ergreifen müssen. Aber Versicherungsgesellschaften waren reich und mächtig.
Und tief in seinem Innern glaubte Hunt auch nicht, dass sich etwas ändern würde.