3.
Beth weigerte sich, einen Blick in den Spiegel zu werfen, während sie sich das Haar frisierte. Sie bürstete es instinktiv, rein mechanisch, und tat alles, was sie konnte, um nicht ihren Mund anschauen zu müssen.
Für kurze Zeit - vor allem, wenn sie mit Hunt oder ihren Freunden zusammen war - vergaß sie hin und wieder, dass sie Zähne aus Metall hatte. Aber solche Ruhepausen waren immer nur kurz. Jede Abweichung von der Routine ihres Alltagslebens, selbst eine Kleinigkeit wie ein Abstecher zum Supermarkt, wurde sofort zu einem entsetzlichen Desaster. Sie kam sich vor wie Quasimodo, ein Ungeheuer unter den Menschen, ein Objekt des Tuschelns und des Spottes, und sie spürte nur zu deutlich, wie sie angestarrt wurde - und wie man ihr aus dem Weg ging.
Die Schwellung ihrer Lippen war zurückgegangen, und die Schmerzen im Zahnfleisch waren mittlerweile nur noch ein unangenehmes Pochen, doch laut Dr. Mirza, ihrer neuen Zahnärztin, würde es noch mindestens einen oder zwei Monate dauern, bis der Heilungsprozess weit genug fortgeschritten sein würde, um die silbernen Zähne zu ziehen und durch Emaille-Prothesen zu ersetzen.
Es stellte sich heraus, dass Hunt und Beth für die anstehende Operation eine ganze Menge aus eigener Tasche würden bezahlen müssen. Die Versicherung war lediglich bereit, eine Behandlung zu bezahlen, die ebenso teuer oder weniger kostspielig war wie die vorangegangene. Als hätte er genau das erwartet, hatte Dr. Blackburn für das Ziehen und die erste Prothese einen lächerlich geringen Betrag veranschlagt, und Dr. Mirzas Kostenvoranschlag konnte diesem Preis nicht einmal ansatzweise gleichkommen. Hunt und sie stritten sich deswegen immer noch mit DentaPlus, doch sie wussten beide, dass das Ergebnis selbstverständlich längst feststand, und sie hatten sich bereits damit abgefunden, den Restbetrag selbst zu zahlen. Sobald sie sämtliche Rechtsmittel eingelegt hatten, die ihnen zur Verfügung standen, wollten sie vor Gericht gehen. Wenn schon nichts anderes, mochte ein Prozess die Versicherung wenigstens dazu bewegen, sich auf einen Vergleich einzulassen und den fälligen Restbetrag zu übernehmen, um nicht das Risiko einzugehen, eine schlechte Presse zu bekommen.
Beth hatte sich die Haare fertig gekämmt und legte nun etwas Lippenstift auf. Dafür musste sie im Spiegel ihren Mund anschauen, und als sie eine Farbe auswählte, die ihre Lippen tatsächlich weniger auffällig wirken ließ und diese dann auftrug, tat sie es so schnell wie möglich. Dann griff sie rasch nach ihrer Geldbörse, verließ das Schlafzimmer, rief Courtney zum Abschied zu, verschloss die Haustür und ging zu ihrem Wagen, um zur Arbeit zu fahren.
Es war noch früh am Morgen. Die meisten Nachbarn waren noch in ihren Häusern und bereiteten sich auf die Arbeit vor oder waren bereits aufgebrochen und jetzt unterwegs. Ed Brett, ihr Nachbar zur Linken, spritzte mit dem Gartenschlauch gerade seinen Lexus ab, während sein jüngerer Sohn auf dem Bürgersteig saß und Kieselsteine auf die Fahrbahn warf.
Mit den meisten Nachbarn kam Beth ziemlich gut klar. Die Familie, die rechts von ihnen wohnte, war dort schon eingezogen, während die restlichen Parzellen erst noch vollständig erschlossen wurden, und sie hatten Beth mit einer Party in der Nachbarschaft willkommen geheißen, kaum dass sie eingezogen war, damit sie auch die anderen Leute in ihrer Straße kennen lernen konnte. Echte »Freunde« waren sie nicht, aber sie waren freundlich, und Beth half aus, wenn die Leute in Urlaub waren. Umgekehrt gossen die Nachbarn Beths Blumen und achteten ganz allgemein auf das Haus, wenn Beth einmal nicht da war. Die beiden alten Molokaner-Schwestern, die gleich gegenüber wohnten, blieben öfters stehen, um ein bisschen mit Beth zu plaudern, wenn diese gerade Unkraut jätete oder die Pflanzen im Vorgarten schnitt, und wenigstens an jedem zweiten Wochenende besuchte Beth die beiden Schwestern auf eine Tasse Tee. Der junge Mann, der in dem Haus neben ihnen wohnte - ein Mechaniker, der einen Großteil seiner Freizeit damit verbrachte, in seiner Garage an einem Motorrad zu schrauben -, war immer nett zu ihr, auch wenn sie einander nie richtig kennen gelernt hatten.
Aber die Nachbarn zur Linken, die Bretts, hatte Beth nie sonderlich gemocht. Vor etwa einem Jahr waren sie eingezogen; sie hatten das Haus Tom und Jan Kraal abgekauft, die Beths engste Freunde in der Gegend gewesen waren und die nach Tarzana in Kalifornien hatten ziehen müssen, weil Toms Firma ihn dorthin versetzt hatte. Zuerst hatte Beth versucht, eine gewisse Nachbarschaftlichkeit zu den Bretts aufzubauen. Jeder in der Straße hatte das versucht. Doch Sally Brett war eine geplagte Hausfrau, die nur selten ihr Heim - das eher ihr Gefängnis war -, verließ, und ihr Mann Ed war ein unhöflicher, streitlustiger Flegel, der es schon bald geschafft hatte, es sich mit den meisten Leuten aus der Nachbarschaft zu verderben. Und ihre beiden Söhne waren verzogene Bälger, die sonderbare Ansichten hatten, was ihnen in der Welt alles zustünde.
Verärgert stellte Beth fest, dass der Junge die Kieselsteine genau dorthin warf, wohin sie mit ihrem Wagen würde zurücksetzen müssen, doch sie sagte nichts. Also schloss sie das Auto auf und öffnete die Tür.
»Hey!«, rief der Junge ihr hinterher. »Was ist denn mit Ihren Zähnen?« Er lachte, und sein Vater fiel ein.
Plötzlich wurde Beth von einer ungeheuren Wut gepackt. Sie schlug ihre Wagentür zu und ging zu dem Jungen hinüber, der immer noch auf dem Bürgersteig saß. »Das war nicht sehr nett von dir«, sagte sie.
Ed Brett ließ den Gartenschlauch fallen und kam zu ihr hinüber. »So reden Sie nicht mit meinem Jungen!«
»Er war unhöflich.«
»Er war ehrlich. So sind Kinder nun mal.«
Dabei hätte Beth es bewenden lassen können, doch sie konnte sich nicht mehr zurückhalten. »Irgendjemand muss ihm ja mal Manieren beibringen«, fuhr sie fort. »Zuhause lernt er sie auf jeden Fall nicht.«
»Was ist denn nun eigentlich mit Ihren Zähnen?« Mit gespielter Verwirrung starrte Ed Brett auf ihre Zähne.
Beth schloss den Mund und wandte sich ab, ging mit schnellen Schritten zu ihrem Wagen, hielt mit Mühe die Tränen zurück, die ihr in den Augen brannten, und versuchte, das Gelächter von Ed Brett und seinem verzogenen Balg zu ignorieren.
Als sie am Abend Hunt davon erzählte, wurde der sehr wütend. Er wollte auf der Stelle hinübergehen und Brett dazu bringen, sich zu entschuldigen. Doch die Nachbarn zu verärgern würde auch nichts einfacher machen, und so überzeugte Beth ihn davon, die Sache einfach zu vergessen und die Dinge laufen zu lassen.
»Ich bin nur übersensibel«, sagte sie. »Ich sollte mir so etwas gar nicht erst zu Herzen nehmen. Das liegt nur an diesen ... Zähnen.«
»Ich würde dich auch dann lieben, wenn deine Zähne grün oder braun oder rot-weiß-blau wären.«
»Ich weiß«, sagte sie und küsste ihn. »Deswegen behalte ich dich ja auch.«