1.
Im Januar fragte Hunt Beth, ob sie ihn heiraten wolle.
Sie waren jetzt seit fast acht Monaten zusammen, und seit vier Monaten wohnten sie unter einem Dach. Zuerst hatte Hunt mit Joel darüber gesprochen, hatte Edward und Jorge davon erzählt, ehe er Beth selbst fragte, denn er brauchte den Blickwinkel eines anderen, die Meinung eines Außenstehenden, um sicher sein zu können, dass er nicht zu schnell vorging oder in die falsche Richtung stürmte.
Nein, sagten ihm alle, Beth sei großartig, die beiden seien das ideale Paar, und eine Hochzeit sei nur der nächste logische Schritt.
Und Beth sagte nicht nur Ja - sie wollte so schnell wie nur möglich heiraten. »Das ist besser, als endlos lange verlobt zu sein«, erklärte sie. »Wenn ein Paar erst einmal die Entscheidung gefällt hat, zu heiraten, sollte es auch handeln.«
Und genau das taten sie auch.
Beide waren nicht gerade angetan von der Vorstellung einer großen kirchlichen Zeremonie - vor allem, da sie beide sowieso nie in die Kirche gingen -, doch sie wollten auch nicht einfach nur die nüchterne Sachlichkeit eines kurzen Termins im Rathaus. Also entschieden sie sich für eine konfessionslose Trauung, abgehalten von einem Freund Joels, der Philosophie lehrte und zugleich ordinierter Priester einer dieser rechtlich anerkannten, spirituell jedoch zweifelhaften New-Age-Kirchen war. Sie planten, sowohl die Trauung selbst als auch den anschließenden Empfang in einer Cabana mitten in einem der schönsten Parks von Tucson abzuhalten - einem Park, der praktischerweise an genau dem Tag für den Publikumsverkehr gesperrt sein würde, weil dort Baumbeschnitt und andere Arbeiten vorgenommen werden mussten.
Beths Vater war bereits vor einiger Zeit gestorben, doch ihre Mutter kam schon eine Woche vor dem Termin aus Las Vegas, um Beth bei der Auswahl eines Kleides zu helfen und sich um den Blumenschmuck und dergleichen zu kümmern. Sie schlief im Gästezimmer, und falls sie dort ungewöhnliche Laute hörte, so sprach sie zumindest nicht davon. Jeden Morgen wirkte sie erholt und entspannt, also ging Hunt davon aus, alles sei in bester Ordnung.
Seine Eltern kamen aus Minnesota und brachten einen ganzen Tross entfernter, fast vergessener Verwandter mit: Tanten und Cousins und den Onkel seines Vaters, den Hunt noch nie gesehen hatte. In Park Rapids liege hoch Schnee, berichtete seine Mutter; daran, wie sie es erzählte, merkte Hunt sofort, dass sie sich wünschte, nie aus Tucson fortgezogen zu sein. Hunts Vater indes schien durch den Umzug regelrecht verjüngt; er wirkte zufriedener und lebendiger, als Hunt ihn je gesehen hatte.
Joel war sein Trauzeuge. Da es keine klassische Hochzeit war, hatte Joel nicht viel mehr zu tun, als während des Empfangs einen Toast auszubringen, doch er schien dennoch gerührt, dass Hunt ihn gefragt hatte. Anstelle eines typischen Junggesellenabschieds kehrten die beiden zur William Bodie Junior High zurück und lieferten sich ein Match Horse Basketball, so wie damals, als sie dreizehn Jahre alt gewesen waren. Die Turnhalle selbst war natürlich abgeschlossen, doch die Spielfelder im Freien waren allesamt zugänglich, und so übten die beiden erst eine Zeitlang Würfe, bis sie sich an das Spiel selbst machten. Die Schule kam Hunt kleiner vor, als er sie in Erinnerung hatte, die Körbe hingegen erschienen ihm erstaunlicherweise größer, und die Platten hinter den Körben nervten mit ihrem Scheppern und Klappern, sobald ein Ball sie traf, genau so wie früher.
»Erinnerst du dich noch«, fragte Joel, »wie wir meinem Dad das Bier aus dem Kühlschrank geklaut und uns geteilt haben? Und dann hast du dir mitten im Spiel auf die Schuhe gekotzt!«
»Ja«, sagte Hunt kichernd. »Ich erinnere mich.«
»Und Mr. Hunter hat dich ganz entsetzt gefragt, was los ist. Daraufhin hab ich ihm erzählt, Bill Groff hätte dich gezwungen, einen Käfer zu essen, und darum müsstest du reihern.«
Hunt lachte. »Und der arme Groff hat eine Woche lang nachsitzen müssen.«
»Das waren noch Zeiten, Mann!«
»Und wir dachten immer, das würde sich niemals ändern.« Hunt versuchte sich an einem Hakenwurf von der Mitte des Platzes aus, doch der Ball prallte gegen die Kante des Bretts und knallte scheppernd gegen den Maschendrahtzaun.
Hunt hatte Joel all die Jahre wirklich vermisst, auch wenn ihm das erst nach seiner Rückkehr nach Tucson klar geworden war. Ach, verdammt, er vermisste alle seine alten Kumpel von früher. Das Leben riss die Leute sowieso schon viel zu oft auseinander: Man entwickelte sich in völlig unterschiedliche Richtungen, oder Freundschaften aus der frühesten Kindheit wurden einfach auseinandergerissen und durch andere, oberflächlichere und viel weniger enge Beziehungen ersetzt.
Hunt blickte zu Joel hinüber und versuchte in dem ruhigen, gesetzten College-Lehrer den wilden, antiautoritären Unruhestifter wiederzufinden, den er aus seiner Jugendzeit kannte. Dieser Junge mochte noch irgendwo dort tief im Innern seines Freundes verborgen sein, doch mittlerweile war er erwachsen geworden, seine Ecken und Kanten waren abgeschliffen, und Joel war zu genau der Sorte Mensch geworden, die er früher so heftig verspottet und abgelehnt hatte.
Das geht uns allen so, vermutete Hunt. Er selbst hatte sich seit der Junior High ebenfalls sehr verändert. Er war weniger arrogant, weniger anmaßend, deutlich bereitwilliger, Kompromisse einzugehen, anderen gegenüber weniger ablehnend und im Ganzen viel mitfühlender.
Doch irgendwie, aus irgendeinem Grund, waren sie doch wieder Freunde. Beide waren als Erwachsene ganz anders, als sie und ihre Bekannten es wohl vermutet hätten, und doch befanden sie sich jetzt wieder im Einklang. Irgendwie hatte sich der Kreis in ihrem Leben geschlossen.
Joel vollführte einen Sprungwurf. »Und? Hast du 's deiner Ex schon erzählt?«
»Eileen?« Hunt schüttelte den Kopf. »Um ehrlich zu sein, ich weiß noch nicht mal, wo ich sie überhaupt erreichen könnte.« Er ahmte Joels Sprungwurf perfekt nach; dann stützte er die Hände auf die Knie und hockte sich auf den Boden, um einen Augenblick zu verschnaufen. »Aber ich habe natürlich daran gedacht. Ich war nicht gerade glücklich verheiratet, aber ich war verheiratet. Ich kann jetzt nicht so tun, als wäre das alles nie gewesen, oder dass es Eileen gar nicht gibt.«
Joel hockte sich neben ihn. »Hast du noch Gefühle für sie?«
»Nein. Zumindest keine positiven. Und Beth ... Beth ist einfach klasse, sie ist perfekt. Ich wünschte nur, dass es meine erste Heirat wäre, verstehst du? Dass ich nicht so viele Altlasten aus der ersten Ehe in meinem Innern herumschleppen würde.«
»Macht es Beth etwas aus?«
»Nein. Sagt sie zumindest.«
»Warum sollte es dir dann was ausmachen? Vergiss es einfach, Mann! Dieses Mal heiratest du richtig. Das andere war nur die Trockenübung.«
»Du hast recht.«
»Ich weiß.«
Joel gewann das Match. Anschließend gingen sie zu Pancho Muldoon's, einer Bar in der Nähe der Uni, in der Hunt während der Collegezeit oft herumgehangen hatte. Noch immer war es eine Kneipe, die hauptsächlich von Collegestudenten besucht wurde; Joel und Hunt waren beide mindestens ein Jahrzehnt älter als der Durchschnitt der Gäste. Nach einem Bier fühlten sich beide so fehl am Platze, dass sie nach Hause gingen.
»Erwachsen sein«, sagte Joel, »ist schon irgendwie blöd.«
Der große Tag war schlichtweg chaotisch. Es schienen hundert Leute in Beths Haus - im Haus der Frischvermählten - zu sein, und alle machten sich gleichzeitig fertig: Beth und ihre Mom, Hunt und seine Eltern sowie zahlreiche Verwandte beider Familien, dazu noch jede Menge Freunde.
In der Küche ging Hunt mit Joel gerade die Bezahlung und das Trinkgeld für den Priester durch, als Beths Mutter kurz hereinkam, um sich ein Glas Wasser zu holen. »Ich habe gestern Abend die Nachrichten gesehen. In der Wettervorhersage hieß es, dass es heute vielleicht regnet«, erklärte sie. »Ihr hättet eine Heiratsversicherung abschließen sollen, nur für den Fall. Dann hättet ihr nicht ganz so viel Ärger, falls der Regen alles verdirbt.«
Hunt schaute zu Joel hinüber und sah in dessen Blick die gleiche Beunruhigung, die auch er spürte, als dieses Wort gefallen war.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Hunt. »Alles wird gut laufen. Das wird schon!«
Er sollte recht behalten. Die Zeremonie selbst war kurz und stimmungsvoll, und obwohl tatsächlich am Nachmittag Wolken aufzogen, sorgte das lediglich dafür, dass die Temperaturen recht angenehm blieben; der Regen selbst kam nicht. Nach dem Empfang war Edward betrunken und hätte sich beinahe eine Schlägerei mit dem Philosophieprofessor geliefert; Jorge und Joel mussten ihn zurückhalten. »Ich reiß dir die Arme ab, du schwanzloses Hemd!«, schrie er. Eine von Beths alten Freundinnen, mit denen sie früher durch die Clubs gezogen war, erbrach sich in den Ententeich.
Diese Ereignisse schienen Hunts Eltern ein wenig zu entsetzen, und mit einem Anflug von Rebellion war Hunt regelrecht stolz darauf. Das hier war seine Hochzeit, es waren seine Freunde, und er war erwachsen. Er konnte herumhängen, mit wem er wollte. Doch kurze Zeit später sah er, dass sein Vater sich ausgiebig mit Jorge unterhielt, und seine Mutter lachte schallend über einen zotigen Witz, den eine Kollegin von Beth und Stacy erzählte.
Beide Elternteile schienen Beth sehr zu mögen, und dafür war Hunt überaus dankbar. Natürlich wollte er, dass die beiden Beth mochten - und umgekehrt. Erst hatte Hunt sich ein wenig Sorgen gemacht, weil seine Eltern mit Eileen nicht so recht warm geworden waren, doch diese Sorgen hätte er sich diesmal nicht zu machen brauchen. Anscheinend sahen sie in Beth die gleichen Qualitäten, die auch er selbst sah. Hunt war überglücklich, als ihm klar wurde, dass sie alle vielleicht eine große, glückliche Familie werden konnten.
Ihre Hochzeitsnacht verbrachten sie im Westward Look, einer Luxus-Hotelanlage am Fuße der Catalinas, von der aus man einen atemberaubenden Blick auf die Stadt bei Nacht hatte. Im Süden tobten Gewitter; vom Fenster ihrer Suite aus sahen sie blauweiße Lichtblitze, die jenseits der bunten Lichter der Stadt zuckten.
»Es ist wunderschön«, sagte Beth und kuschelte sich an ihn, während sie vor dem Fenster standen.
Und das war es auch. Die Blitze erhellten immer wieder die dräuenden Gewitterwolken am Nachthimmel und enthüllten eine Schönheit, die Hunt niemals erwartet hätte; der Kontrast zwischen den wilden, aufzuckenden Blitzen und der ruhigen Künstlichkeit der Stadtlichter hatte etwas Magisches.
Eine Zeitlang standen sie einfach nur da, bis das Gewitter sich ein wenig beruhigte; dann gingen sie zum Bett hinüber, streichelten einander die Kleider vom Leib und liebten sich langsam und leidenschaftlich. Ursprünglich hatten sie sich ein aufwändigeres Szenario für ihre Hochzeitsnacht zurechtgelegt, damit es etwas anderes würde als eine »normale Nacht«, und sie hatten sich verschiedene, exotischere Stellungen überlegt. Dann aber erkannten sie, dass sie so etwas gar nicht nötig hatten. Die Nacht war ohnehin schon etwas Besonderes. Das »Normale« war wunderbar.
Eng umschlungen schliefen sie ein.
Am nächsten Morgen brachen sie zu ihrer Hochzeitsreise auf. Hunt hatte nach Montana oder Wyoming fahren wollen, vielleicht sogar nach Kanada, um eine Zeitlang die Abgeschiedenheit zu genießen, doch Beth wollte nach Kalifornien und dort sämtliche Touristenattraktionen aufsuchen, und Hunt hatte ihre Wünsche sofort und begeistert aufgenommen. Tatsächlich vermisste er Kalifornien ein wenig, und die Vorstellung, seine Frau herumzuführen und ihr alles zu zeigen, gefiel ihm sehr.
Sie fuhren nach Hollywood, nach Disneyland, in den Griffith-Park und die Huntington Library, doch am Wichtigsten war es Beth, an den Strand zu gehen, denn das Wetter war warm und sonnig und so schön, wie ein August nur sein konnte, nicht so drückend heiß wie im Juni. Hunt zeigte ihr Seal Beach, wo sie über seinen Lieblings-Pier spazierten und dann in einem mexikanischen Restaurant auf der Main Street essen gingen. Dann fuhren sie die Küste entlang nach Crystal Cove. Offensichtlich hatten viele andere Leute die gleiche Idee, denn es war schlichtweg unmöglich, eine Parklücke zu finden. Zweimal fuhr Hunt um den gesamten Parkplatz herum, bis er schließlich zwei Teenies sah, die zu einem VW-Käfer-Kabrio schlenderten. Er blieb stehen und wartete, doch die Mädchen ließen sich Zeit. Als sie den Wagen schließlich aus der Parklücke setzten, kam ein roter Mustang angeschossen und drängte sich vor.
Hunt drückte auf die Hupe und ließ die Scheibe herunter. »Du blöder Arsch!«, rief er.
Beth legte ihm eine Hand auf den Arm. »Das ist es doch nicht wert, sich aufzuregen. Schau, da drüben wird wieder was frei.«
Und tatsächlich - die Bremsleuchten eines Nissan-Pickup, der nur zwei Lücken weiter stand, flammten soeben auf. Diesmal wollte Hunt kein Risiko eingehen. Er setzte seinen Wagen fast genau hinter den Nissan und verhinderte auf diese Weise, dass jemand anders in die Lücke schlüpfen konnte. Er wollte rückwärts einparken, sobald der Pickup herausfuhr, und dabei so wenig Platz wie möglich zwischen den beiden Wagen lassen - eine Technik, die er während der Collegezeit perfektioniert hatte, als die Wettkämpfe um Parkplätze auf dem Campus-Gelände ihren Höhepunkt erreichten.
Der Pickup rollte langsam zurück, und Hunt legte schon den Rückwärtsgang ein, doch ein alter Chevy-Lieferwagen war unmittelbar hinter ihm und versperrte ihm den Weg. Und der Pickup setzte weiter zurück. Hunt drückte auf die Hupe, doch beide Fahrer ignorierten ihn oder hörten ihn nicht. Und Hunt hatte keinen Platz zum Ausweichen.
Der Pickup stieß gegen seinen Wagen.
Sofort sprang der Fahrer aus der Tür, um sich den Schaden zu besehen. »Es tut mir leid«, sagte er. »Mann, tut mir echt leid. Ich hab Sie nicht gesehen. Ist alles in Ordnung?«
Hunt und Beth stiegen jetzt ebenfalls aus. »Alles in Ordnung«, sagte Hunt. Er deutete hinter sich. »Der Schwachkopf da hat mir den Weg versperrt. Ich konnte nicht ausweichen.«
Der Chevy-Lieferwagen hatte ein Stück zurückgesetzt und wartete jetzt darauf, dass einige Parklücken entfernt ein roter Jeep den Platz freimachte.
»Wie sieht's mit Ihrem Wagen aus?«, fragte der Mann.
Gemeinsam untersuchten Hunt und Beth die Front des Saab, konnten jedoch keine Dellen oder Kratzer entdecken. Auch der Fahrer des anderen Wagens schaute genau hin. »Ich sehe nichts«, sagte er mit hoffnungsvoller Stimme.
»Ich auch nicht. Scheint so, als hätten wir noch mal Glück gehabt.«
»Vielleicht sollten wir unsere Versicherungs-Informationen austauschen ... nur für den Fall.«
Versicherung.
Unweigerlich erschauerte Hunt, obwohl es ein schöner warmer Tag war. »Nein«, sagte er. »Ist schon in Ordnung.«
»Vielleicht entdecken Sie ja später noch was ...«
»Keine Sorge«, beruhigte Hunt ihn.
»Sind Sie sicher?«
Halb Affenarsch, viertel vor Ho-den-sack.
»Ja.«
»Vielleicht sollten wir ja doch ...«, setzte Beth an.
»Ist schon in Ordnung«, sagte Hunt. »Alles klar.«