4.


Dumpf und grau zog der Morgen vor dem hohen, schmalen Fenster des Bezirksgefängnisses auf.

Beim Frühstück im Speisesaal drängte sich ein kleiner, fetter Mann, der aussah wie ein Buchhalter, an mehreren Insassen vorbei und setzte sich neben Hunt auf die Bank. Hunt zwang sich gerade dazu, die viel zu flüssigen Eier und den kalten Toast herunterzuwürgen, und blickte auf, als der Mann sein Tablett auf den Tisch stellte. »Haben Sie eine Versicherung abgeschlossen?«

Erstaunt riss Hunt die Augen auf.

»Ich war zwei Fenster weiter und hab mit meiner Frau gesprochen. Ich hab gesehen, dass dieser Versicherungsvertreter dich besucht hat.«

In dem warmen, stickigen Raum voller stinkender Männerleiber war Hunt plötzlich eiskalt.

Der fette Mann beugte sich zu ihn hinüber. »Ich heiße Del. Ich bin hier wegen ...« Er schüttelte den Kopf. »Zu viele Sachen, um alle aufzuzählen.«

Hunt räusperte sich. »Woher hast du gewusst, dass der Mann Versicherungsvertreter ist?«

»Was meinst du wohl, wie ich hier reingekommen bin?«

Es war genau die Antwort, die Hunt tatsächlich erwartet hatte; dennoch fuhr es ihm eiskalt durch Mark und Bein. »Ich heiße Hunt«, entgegnete er. »Man wirft mir vor, ich hätte ...« Er stockte, blickte sich um. Er wusste nicht, ob die anderen Insassen wussten, warum er hier war, und Hunt wollte es sie auf keinen Fall erfahren lassen. Dass sie es nicht wussten, war der wohl einzige Grund, warum seine Zähne noch nicht über den Boden des Duschraums verteilt waren. »Sagen wir einfach, dass auch bei mir dieser Kerl der Grund dafür ist, dass ich hier bin.«

Del nickte enthusiastisch. »Ich hab's gewusst! Was ist passiert? Hast du deine Beiträge nicht bezahlt?«

»Nein«, antwortete Hunt. »Ich habe keine Rechtsversicherung abgeschlossen.«

»Rechtsversicherung? Die hat er mir gar nicht angeboten. Was sollte die denn bringen?«

»Sie sollte dafür sorgen, dass ich hier nicht reinkomme.«

Del stieß ein Schnauben aus. »Typisch.« Schnell trank er einen Schluck kalten Kaffee. »Und was hat er dir angeboten, als er dich hier besucht hat? Und hast du 's genommen?«

»Eine Verurteilungsversicherung«, erklärte Hunt. »Und die werde ich auch nehmen.« Er zögerte. »Falls er sie mir noch mal anbietet.«

»Du hast ihn abblitzen lassen?«

»Er hat meine Frau beleidigt. Na ja, eigentlich nicht richtig beleidigt, aber er hat gesagt, ich müsse erst beweisen, dass ich anspruchsberechtigt sei, und dann hat er mir diese ungeheuerlichen Fragen gestellt.«

Del nickte. »So macht der das immer. Aber lass dich davon nicht unterkriegen. Der will dich nur testen.«

Hunt atmete tief ein. »Hätte ich die Versicherung abschließen sollen?«

»Wenn die dich hier rausholt? Aber klar doch, verdammt!«

»Und warum bist du dann hier?«

»Ich habe meine Beiträge nicht bezahlt. Die waren immer weiter angewachsen, und ich hatte meinen Job verloren, und ... ich wollte ja bezahlen, aber ich war zu spät dran, und dann ... dann ist einfach alles auseinandergefallen. Es wurde immer schlimmer. Dann wurde ich festgenommen ... und ich hatte keine Versicherung, die mich hätte schützen können. Als ich den Kerl dann gestern hier gesehen habe, wie er mit dir geredet hat, da hab ich mir gedacht, er würde vielleicht auch noch mit mir sprechen wollen. Mir vielleicht irgendeine neue Versicherung anbieten, die mich hier wieder rausholt. Hat er aber nicht. Der hat mir gar nichts angeboten.« Mürrisch knabberte der fette Mann an seinem Toast. »Vielleicht will der mir ja nur 'nen Denkzettel verpassen. Deswegen sag ich ja auch: Nimm, was man dir anbietet! Der hat dir echt 'ne Chance geboten, Kumpel. Lass dir die nicht entgehen!«

Nachdenklich nickte Hunt. »Sag mal«, fragte er dann, »hat dieser Vertreter dir jemals seinen Namen genannt?«

Del schüttelte den Kopf. »Nein. Das hat mich auch gewundert.« Einen Augenblick lang schwieg er. »Weißt du, Namen verleihen Macht. In gewissen Kulturen reicht es schon aus, den Namen eines Mannes auszusprechen, um über ihn zu herrschen. Wie in diesem Märchen ... wie heißt es noch? Goldlöckchen? Rumpelstilzchen? Das mit dem bösen Zwerg, der den Erstgeborenen der Königin kriegt, wenn sie nicht seinen Namen errät?« Er stockte. »Ich sag das nur, weil du genauso gut wie ich weißt, dass der Typ kein normaler Versicherungsvertreter ist. Da steckt viel, viel mehr dahinter.«

»Ich weiß.«

»Na ja, ich glaube, dass er seinen Namen mit Absicht nicht verrät. Bevor ich festgenommen wurde, hab ich mir sogar gedacht, wenn ich irgendwie seinen Name rausfinden könnte, dann könnte ich ... was weiß ich, ihn erpressen oder es sonst wie zu meinem Vorteil nutzen. Aber du hast recht. Das bedeutet irgendwas. Der hat seinen Namen keinem genannt.«

Eine Wache kam vorbei, ein hagerer Mann mit Frettchengesicht und einem bleistiftdünnen Schnurrbart im Stile von Prince - und es war deutlich zu spüren, dass diese Wache sich fast immer sofort persönlich angegriffen fühlte. »Daley? Dein Anwalt ist da.«

Der fette Mann kletterte über die Rückenlehne der Bank. »Bin in Berufung«, erklärte er. »Ich hoffe, ich hab irgendwas, damit das Verfahren wiederaufgenommen werden kann.« Er winkte Hunt zu, als die Wache ihn aus dem Speisesaal führte. »Wir sehen uns beim Mittagessen.«

Doch Del erschien nicht zum Mittagessen. Irgendwann am späten Vormittag gellte ein schriller, altmodischer Alarm durch die ganze Anlage, und plötzlich waren überall Wachen, die aus Leibeskräften immer wieder »In die Zellen! In die Zellen!« brüllten. Hunt wusste nicht, was es zu bedeuten hatte, doch nachdem alles vorbei war, hörte er, wie sich zwei Insassen einer anderen Zelle über einen Kampf unterhielten, eine brutale Schlägerei, die irgendetwas mit einem vorangegangenen rassistischen Zwischenfall zu tun hatte. Einer der Schläger war in die Krankenstation gebracht worden - entweder im Koma oder tot.

Als Del dann nicht im Speisesaal auftauchte, wusste Hunt, um wen es hier gegangen sein musste.

Es hätte ihn nicht überraschen sollen - und eigentlich tat es das auch nicht. Hunt war entsetzt, zutiefst verängstigt, aber nicht überrascht. Er versuchte sich einzureden, dass es mit ihm selbst überhaupt nichts zu tun hatte und dass Del gar nicht dafür bestraft worden war, aus dem Nähkästchen geplaudert zu haben, sondern dass es um irgendeine alte Sache zwischen Del und dem Versicherungsvertreter gegangen war ... doch so sehr er es auch versuchte, Hunt konnte einfach nicht daran glauben.

Später kam er auf den Gedanken, dass der Versicherungsvertreter Del vielleicht gezielt zu ihm geschickt hatte - dass Del in Wirklichkeit gar kein Insasse des Bezirksgefängnisses war, sondern dass man ihn eingeschleust hatte um mit Hunt zu reden und ihn dazu zu bringen, diese Versicherung abzuschließen. Die Vorstellung war völlig verrückt - aber auch nicht verrückter als viele andere Dinge, die in letzter Zeit passiert waren.

Bloß weil man paranoid ist, ging es Hunt durch den Kopf, heißt das noch lange nicht, dass die nicht wirklich hinter einem her sind ...

Hunt lag auf seiner Pritsche und starrte an die Decke, als er Schritte hörte und dann das laute Klappern eines Schlagstocks gegen die Gitterstäbe seiner Zelle.

»Du hast Besuch.«

An diesem Nachmittag sollte Jennings vorbeikommen, doch eigentlich hoffte Hunt, dass es der Versicherungsvertreter sein würde. Hunt hatte eine lange Nacht und einen ebenso langen Tag damit verbracht, über die neue Versicherungsleistung nachzudenken, die ihm angeboten worden war, und er hatte beschlossen, diese »Verurteilungsversicherung« abzuschließen - schon bevor er Del Daley kennen gelernt hatte.

Am hinteren Ende des Besucherzimmers saß tatsächlich der Versicherungsvertreter auf der anderen Seite der Panzerglasscheibe.

Er griff nach dem Telefonhörer und bedeutete Hunt mit einer Handbewegung, es ihm gleichzutun.

Hunt setzte sich, griff nach dem Hörer und legte ihn sich ans Ohr.

»Wie geht es Ihnen heute, Mr. Jackson?« Die Stimme des Vertreters klang jovial und herzlich. Ganz anders, als Hunt erwartet hatte.

»Gut«, antwortete Hunt langsam.

»Wenn ich es richtig verstehe, sind Sie daran interessiert, auf unser Angebot zusätzlicher Versicherungsleistungen einzugehen.«

Hunt nickte und fühlte sich dabei auf unbestimmte Art und Weise schuldig, als würde er einer illegalen oder unmoralischen Tat zustimmen.

»Es freut mich, dass Sie doch noch zur Besinnung gekommen sind. Natürlich müssen Sie sich immer noch als anspruchsberechtigt erweisen, und ich muss Ihnen immer noch ein paar Fragen stellen. Wäre Ihnen das recht?«

»Ja«, erwiderte er knapp.

»Fein, fein. Ich werde versuchen, es so schnell und schmerzlos wie möglich durchzuziehen. Also, Frage Nummer eins ...«

»Klein genug, um eng zu sein, aber groß genug, um mich aufzunehmen. Beantwortet das Ihre Frage?«

»Sind Sie gut ausgestattet? Haben Sie reichlich Fleisch auf dem Knochen?« Der Vertreter lachte leise. »Entschuldigung. Bleiben wir bei den Fragen. Also, auf die erste Frage, ›Wurden Sie jemals für eine Straftat verurteilt?‹, haben Sie geantwortet, die Vagina Ihrer Frau sei ›klein genug, um eng zu sein, aber groß genug, um mich aufzunehmen‹. Habe ich das richtig verstanden?«

»Was soll das? Was zum Teufel geht hier vor? Beim letzten Mal haben Sie mich gefragt ...«

»Ich bitte um Verzeihung. Das war mein Fehler. Ich hatte das falsche Formular. Können wir dann jetzt weitermachen?«

»Meine Fresse!«

»Mr. Jackson ...«

»Gut.«

»Also dann, Frage Nummer zwei: Schätzt Ihre Frau den Analverkehr?« Der Vertreter lachte und hob abwehrend die Hände. »War nur 'n Scherz, war nur 'n Scherz. Tut mir leid, ich konnte einfach nicht widerstehen.«

»Herrgott noch mal!«

»Ich könnte Ihnen auch einfach das Antragsformular geben, und Sie füllen es selbst aus. Ist Ihnen da drinnen der Besitz eines Stiftes gestattet?«

Hunt atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen.

So macht der das immer. Der will dich nur testen.

»Nein«, sagte Hunt. »Ich werde die Fragen beantworten. Lesen Sie einfach vor. Ich will das hier so schnell wie möglich hinter mich bringen.«

»Das ist eine vernünftige Einstellung. Okay, wurden Sie jemals für eine Straftat verurteilt?«

»Nein.«

»Wurden Sie bisher jemals festgenommen?«

»Nein.«

»Haben Sie jemals eine Straftat begangen, bei der Sie weder erwischt noch dafür bestraft wurden?«

»Trunkenheit am Steuer vielleicht, während der College-Zeit. Und Sachbeschädigung in meiner Kindheit, würde ich sagen.«

Der Vertreter griff nach dem Formular und schob es in seinen Aktenkoffer. »Wir sind fertig.«

Hunt konnte es nicht glauben. »Das war alles? Das sind die einzigen Fragen?«

»Ja.«

»Und wann erfahre ich, ob ich anspruchsberechtigt bin?«

»Jetzt gleich.«

Es folgte eine lange Pause.

»Und?«, hakte Hunt nach.

»Sie sind anspruchsberechtigt. Also, möchten Sie eine Personenschadensversicherung mit der Zusatzleistung des Schutzes vor einer Verurteilung abschließen?«

»Ja, beides.«

»Also gut. Ich werde den Antrag für Sie ausfüllen, auch wenn ich natürlich immer noch Ihre Unterschrift benötigen werde. Ich werde einen Wachmann bitten, Ihnen die Unterlagen zur Unterzeichnung vorzulegen, sobald wir fertig sind.« Er holte neue Papiere aus seinem Aktenkoffer. Unter dem weißen Deckblatt konnte Hunt leuchtend rosafarbene und gelbe Blätter erkennen. »Name ... Adresse ... Beruf«, murmelte er. Dann begann er rasch zu schreiben. »Grund der Festnahme ... Art der Anklagepunkte ...«

Der Vertreter ging detailliert die einzelnen Punkte der Police durch. Die Vertragsbestimmungen und Klauseln waren so eindeutig formuliert, dass es eigentlich keinen Grund gab, jeden Punkt durchzugehen, doch der Vertreter genoss es sichtlich, sämtliche Details der einzelnen Versicherungsleistungen zu schildern, und er kostete es aus, jede Vertragsbedingung und jede einzelne Eventualität der Police zu erläutern - sowohl für die Personenschadensversicherung als auch für die zusätzliche Verurteilungsversicherung, die jeweils mit einem einzelnen Satz akkurat und prägnant hätten abgehandelt werden können. Schließlich erhob er sich, ging zu einem Wachmann und sprach kurz auf ihn ein. Der Wachmann öffnete die Sicherheitstür und reichte das Formular an seinen Kollegen auf Hunts Seite der Glaswand weiter, und der Kollege legte es Hunt vor.

Sorgfältig las Hunt beide Anträge durch, um sich zu vergewissern, dass nicht auf wundersame Weise neue Zeilen hinzugekommen waren, seit er das Formular durch die Glasscheibe betrachtet hatte - was ja nicht unmöglich gewesen wäre. Dann unterschrieb er. Anschließend reichte er das Formular wieder dem Wachmann, der die Tür öffnete und es seinem Kollegen gab, und der brachte es schließlich wieder zum Versicherungsvertreter, der ihm das Schreiben beinahe gierig aus den Händen riss.

Der Vertreter verstaute das Formular in seinem Aktenkoffer, erhob sich und verneigte sich kurz vor Hunt. »Sie werden es nicht bereuen.«

Doch als Hunt das kalte Lächeln sah, das sich mit einem Mal auf dem plötzlich viel härter wirkenden Gesicht ausbreitete, bereute er es schon jetzt.


Knapp zwei Stunden später traf er mit Jennings zusammen - in dem Raum, den er geistig nur noch »den Anwalts-Mandanten-Raum« nannte. Der Rechtsanwalt wirkte sehr ernst, und sein Gesicht war aschfahl, als Hunt eintrat. Reglos saß er in seinem Stuhl. Sofort wusste Hunt, dass irgendetwas nicht stimmte.

Dieses Mal lagen keine Papiere auf dem Tisch, kein Kassettenrekorder, keine Aktentasche. Hunt setzte sich Jennings gegenüber und rückte seinen Stuhl zurecht. Das Herz hämmerte ihm in der Brust. »Hallo, Ray«, begann er. »Was gibt es Neues?«

Einen Augenblick lang schwieg der Rechtsanwalt, und das alleine war schon ungewöhnlich. Jedes Mal, wenn Hunt mit ihm zu tun gehabt hatte, hatte Jennings sofort eine Antwort parat gehabt, war jederzeit auf alles genauestens vorbereitet gewesen, und er war Hunt mit einem Selbstvertrauen entgegengetreten, das regelrecht ansteckend gewesen war. Nun jedoch wirkte der Anwalt zweifelnd und unsicher, was Hunt als äußerst beunruhigend betrachtete.

»Ich muss Sie etwas fragen ...«, setzte Jennings an.

»Legen Sie los.«

»Ich brauche eine ehrliche Antwort.«

»Selbstverständlich.« Hunt krampfte sich der Magen zusammen.

»Bitte denken Sie daran, dass alles, was hier gesagt wird, unter dem besonderen Schutz eines Gespräches des Mandanten mit seinem Anwalt steht. Es besteht also keinerlei Veranlassung für Sie zu lügen. Haben Sie ...?« Er stockte. »Wie drücke ich das möglichst taktvoll aus? Haben Sie Kontakte zum organisierten Verbrechen?«

Hunt starrte ihn ungläubig an. »Was?«

»Ich muss das wissen. Stehen Sie in irgendeiner Form mit denen ... in Verbindung?«

»Natürlich nicht!«

Sein Anwalt seufzte und schob seinen Stuhl ein Stück vom Tisch zurück. »Dann gibt es wahrscheinlich auf dem ganzen Planeten niemanden, der so viel Glück hat wie Sie.«

»Wovon reden Sie überhaupt? Was soll das?«

»Kate Gifford ist heute Morgen bei einem Autounfall vor ihrer Schule ums Leben gekommen.«

Hunt schwindelte es vor Augen, als hätte man ihm mit einem Ruck den Boden unter den Füßen weggezogen. Ein Wort hallte immer wieder durch seinen Kopf: Verurteilungsversicherung, Verurteilungsversicherung, Verurteilungsversicherung ...

»Wie ist es passiert?«, fragte er mit tonloser Stimme. »War Lilly dabei? Ist sie verletzt?«

»Nein, sie hat damit überhaupt nichts zu tun. Kate wurde mit einer anderen Klassenkameradin zusammen zur Schule gefahren. Sie saß auf dem Rücksitz, und als der Wagen vor der Schule hielt, ist sie zur Straßenseite hin ausgestiegen. Ein Pickup kam vorbei - für einen ausgewiesenen Schulweg viel zu schnell. Der Fahrer hat sie erst im letzten Moment gesehen und konnte nicht rechtzeitig bremsen oder ausweichen. Er hat sie erwischt und die Wagentür abgerissen.«

»O Gott!«

Verurteilungsversicherung.

»Ja.«

»Ist sie ...?«

»Sie war auf der Stelle tot. Und die Videokassette, auf der sie die sexuellen Kontakte schildert, die sie angeblich mit Ihnen gehabt hat, ist leider verschwunden. Ich sollte wohl besser sagen: sämtliche Kopien dieser Kassette sind verschwunden. Die aus der Asservatenkammer der Polizei, die aus dem Büro der Psychiater, die von der Staatsanwaltschaft ... und meine eigene.« Jennings blickte Hunt über den Rand seiner Brille hinweg an. »Sie verstehen vielleicht, warum ich mich ein wenig wundere.«

»Ich weiß nicht, wie das passiert sein kann«, log Hunt, »aber ich habe nichts damit zu tun.« Selbst für seine eigenen Ohren klang es unglaubwürdig, und er war sicher, dass der Anwalt an seinen Worten mehr denn je zweifelte. Vor seinem geistigen Auge sah er wieder, wie das unheimliche Lächeln auf das Gesicht des Versicherungsvertreters kroch. Sie werden es nicht bereuen.

Es war seine Schuld. Er hatte sie getötet. Hätte er nicht diese Verurteilungsversicherung abgeschlossen, hätte er sich nicht bereit erklärt, die Versicherung dafür zu bezahlen, ihm den Arsch zu retten, dann würde die kleine Kate jetzt noch leben.

Aber wenn sie keine Lügen über ihn erzählt hätte ...

Nein. Auf diesen Gedanken wollte Hunt sich erst gar nicht einlassen. Er wusste nicht wie, aber irgendwie hatten die es geschafft, Kate dazu zu bringen, gegen ihn auszusagen; sie hatten das Mädchen einer Gehirnwäsche unterzogen und sogar dazu gebracht, die eigenen Lügen selbst zu glauben. Und das alles nur, um ihn davon zu überzeugen, diese Versicherung abzuschließen.

Und das hatte er getan.

Jetzt war sie tot.

Aber was hatte er erwartet? Wie sonst hätte dafür gesorgt werden können, dass die Anklage fallen gelassen wird? Hatte er wirklich geglaubt, die Versicherung würde den Staatsanwalt und die Polizei bestechen, damit die Klage abgewiesen wurde? Für jämmerliche dreißig Dollar im Monat? Das wären untragbare Kosten gewesen, und die Gefahr, dass der Versuch scheiterte, war viel zu groß. Nein, sie hatten sich die einfachste und billigste Lösung ausgesucht.

Sie hatten das Mädchen umgebracht.

Und alle Bänder gestohlen.

Hunt dachte daran, wie sie auf Joels Hof mit Kate und Lilly Basketball gespielt hatten, erinnerte sich an Kates ansteckendes Kichern. Seine Gefühle waren in hellem Aufruhr, und in seinem Innern herrschte ein Chaos aus Entsetzen und Trauer, Zorn und Erleichterung.

»Selbstredend«, fuhr Jennings fort, »werden sämtliche Anklagepunkte gegen Sie wegen Mangels an Beweisen fallen gelassen.«

»Was bedeutet das? Kann ich dann gehen?«

»Sobald die Papiere hier eintreffen und bearbeitet sind, sind Sie ein freier Mann.«

»Und das war's?«

»Rein theoretisch könnte die Staatsanwaltschaft den Fall wieder aufnehmen, wenn zusätzliche Beweise ans Tageslicht kämen, aber das ist äußerst unwahrscheinlich. Deshalb würde ich sagen ... ja, ich würde sagen, das war's.«

Jegliche engere Bindung, die sie zueinander aufgebaut hatten, war fort. Jennings konnte es nicht beweisen, aber tief im Herzen glaubte er, Hunt sei für Kates Tod verantwortlich. Hunt wusste, dass er verantwortlich war - aber aus ganz anderen Gründen, als sein Rechtsanwalt sich jemals hätte ausmalen können. So beendeten sie unpersönlich und förmlich ihre Zusammenarbeit. Zwei Stunden später, als Hunt dank der eifrigen Bemühungen seines Anwalts offiziell entlassen wurde, setzten die beiden sich ein letztes Mal zusammen, um noch ein paar Kleinigkeiten zu regeln.

Dann wurde Hunt freigelassen.

Beth saß auf einer Bank im Warteraum neben den Familienangehörigen anderer Insassen. Sie sprang auf und rannte auf Hunt zu, als er durch die Tür kam. Hunt schloss sie in die Arme, und sie drückte ihr Gesicht an seinen Hals. Er wusste nicht, ob sie weinte, weil sie so erleichtert war, dass er entlassen wurde und diese höllische Tortur endlich beendet war, oder wegen der Dinge, die geschehen waren - wegen dieses kleinen Mädchens, das jetzt tot war. Vielleicht war es von beidem etwas.

Hunt wollte nicht eine Sekunde länger in dem Gebäude bleiben als nötig, und als Beths Schluchzen verebbte, schob er sie zur Tür hinaus, an die herrliche frische Luft der Freiheit.

Sobald sie zu Hause waren, schliefen sie miteinander - es gab doch nichts, was die guten alten Hormone so sehr auf Touren brachte, wie die Gefahr einer dauerhaften Trennung -, und es war rau und schmutzig, genau so, wie Hunt es liebte, der beste Sex, den er seit langer Zeit bekommen hatte. Danach lagen sie nebeneinander im Bett und unterhielten sich, und Hunt erzählte Beth von seinem Frühstücksgespräch mit Del und seinem letzten Zusammentreffen mit dem Versicherungsvertreter, in dem Besucherraum, und wie er zugestimmt hatte, eine Personenschadensversicherung mit dem Zusatz einer Verurteilungsversicherung abzuschließen. Er erzählte Beth auch von Kate, obwohl sie es bereits von Jennings erfahren hatte.

»Vielleicht hat das ja wirklich nichts miteinander zu tun«, sagte sie hoffnungsvoll. »Ich meine, wir haben doch noch keinen Cent Beiträge bezahlt.«

»Jennings hat gesagt, die Versicherung sei unmittelbar nach der Unterzeichnung gültig.« Hunt schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe das Mädchen umgebracht. Ich habe ihr Todesurteil unterschrieben, als ich diesen Antrag unterschrieb.«

Beth brach in Tränen aus.

Und hielt Hunt ganz, ganz fest.


Nach dem Abendessen ging es im Gästezimmer wieder los.

Um seine Freilassung zu feiern, waren sie ausgegangen, ins Terra Cotta, hatten exotische, erlesene Vorspeisen bestellt, hatten den herrlichen Sonnenuntergang durch die großen Fenster genossen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Als sie wieder nach Hause kamen, war es bereits dunkel.

Sie hörten die Geräusche aus dem Gästezimmer schon, kaum dass sie im Flur waren.

Ein Klopfen und Tappen, wie Holz auf Holz. Das trockene Zischen eines Windstoßes, den es nicht gab.

Hunt war entschlossen, dieses Mal mutig zu sein. Nach allem, was er durchgemacht hatte, erschienen ihm ein paar sonderbare Laute aus einem leeren Zimmer längst nicht mehr so Furcht erregend. Doch als er sich dem Gästezimmer näherte, sah er plötzlich, wie die Zimmertür sich langsam öffnete; zugleich nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung in den Schatten wahr: Irgendetwas schwebte über dem ungemachten Bett. Augenblicklich kehrte die Furcht mit brutaler Gewalt zurück.

Er sah, dass Beth, die neben ihm stand, den Atem anhielt.

»Heute Nacht gehen wir in ein Hotel«, entschied Hunt. »Das muss ich mir nicht antun. Nicht heute Nacht.«

Beth nickte, zu verängstigt, um sprechen zu können, während die Tür am Ende des Flures sich von alleine wieder schloss.

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