1.
Hunt hatte keine Ahnung, was er vorzufinden erwartet hatte, aber das jedenfalls nicht.
Der Eingang zu dem kleinen Gebäude hatte keine Tür, sondern war offen, und als Wache stand ein blinder Zwerg davor: ein sonderbar aussehender, kleiner Mann mit weit aufgerissenen Augen und einer Nase, die an den Schnabel eines Vogels erinnerte. Seine Lippen waren zu einem beständigen Lächeln verzerrt. Er hatte keinen einzigen Zahn im Mund, und das Zahnfleisch war widerlich schwarz.
Der Zwerg sagte kein Wort, starrte sie nur an. Hunt hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte. Er schaute zu Beth hinüber, dann zu seinen Freunden, doch deren Mienen waren ebenso ratlos. Aus einem Impuls heraus trat Hunt schließlich vor und ging an dem kleinen Mann vorbei und hinein in das winzige Gebäude. Der Zwerg machte keinerlei Anstalten, ihn aufzuhalten. Er blieb regungslos wie eine Statue.
Wie im »Knast« war auch hier der Boden feucht, als stünde das kleine Gebäude in einem Sumpf, doch anders als im »Knast« gab es hier einen weiteren Durchgang - eine kreisförmige Luke, die schwer erreichbar in der hinteren rechten Ecke eingelassen war.
Konnten sie auf diesem Weg zur Insurance Group vorstoßen?
»Kommt!«, rief Hunt und bedeutete den anderen, ihm ins Gebäude zu folgen.
Doch kaum setzte Beth sich in Bewegung, machte der Zwerg einen Satz und stellte sich genau vor den Eingang. Beth schrie auf und taumelte zurück; hastig trat Jorge neben sie, um sie zu stützen, sonst wäre sie gestürzt. Der Zwerg stieß seltsame Laute aus - ein zorniges, schrilles Quietschen, das der Kehlkopf eines Menschen niemals hätte hervorbringen können.
Instinktiv machte Hunt einen Schritt in Richtung Eingang, um Beth zu helfen ...
... und der Zwerg trat zur Seite, um ihn durchzulassen.
Hunt konnte es kaum glauben. Es war völlig unmöglich, dass der Gnom ihn von hinten hatte kommen sehen. Woher hatte er dann gewusst, wann er zur Seite treten musste, um ihn, Hunt, passieren zu lassen? Dann begriff Hunt, warum er das Gebäude betreten konnte, Beth aber nicht.
Die Lebensversicherung.
Seine Deluxe-Lebensversicherung.
Nur Unsterbliche durften hier eintreten.
Beth war auf den gleichen Gedanken gekommen. »Ich habe keine Lebensversicherung abgeschlossen«, sagte sie. »Ich kann nicht reinkommen.«
»Lasst mich mal versuchen«, sagte Joel und ging auf den Eingang zu. Sofort sprang der Zwerg ihm in den Weg und stieß wieder das zornige Kreischen aus. »Meine Fresse!« Joel wich so schnell zurück, dass er beinahe über die eigenen Füße gestolpert wäre.
»Ich hab eine Idee.« Hunt stellte sich vor Joel hin, und der Zwerg trat zur Seite. »Halt dich an meinen Schultern fest und bleib hinter mir.« Joel packte die Schultern seines Freundes, worauf Hunt vortrat. Tatsächlich schafften sie es ungehindert in das kleine Gebäude.
»Es hat geklappt!«, jubelte Hunt. Er ließ Joel in dem winzigen Raum zurück und ging wieder hinaus, um mit Beth auf die gleiche Art und Weise zu verfahren.
Diesmal jedoch versperrte der Zwerg ihm den Weg, und dieses Mal quietschte er nicht, sondern knurrte: ein wilder, urtümlicher, bedrohlicher Laut, der Hunt an einen Keiler denken ließ, der sich in die Enge gedrängt fühlte. Hunt blieb stehen, wartete einige Sekunden lang, dann machte er vorsichtig einen Schritt auf den Eingang zu. Der Zwerg duckte sich leicht, als wolle er jeden Moment losspringen; rhythmisch ballte er die Hände mit den langen Klauen zu Fäusten und öffnete sie wieder. Mit seinen milchigen, immer noch weit aufgerissenen Augen und dem grinsenden, zahnlosen Mund mit dem schwarzen Zahnfleisch wirkte er wie ein gemeingefährlicher Irrer.
Hunt wich zurück, und der Zwerg nahm wieder seine gewohnte Position ein.
Hunt versuchte es erneut, dieses Mal mit Jorge. Wie zuvor mit Joel hatte er auch mit Jorge keinerlei Schwierigkeiten, den kleinen Raum zu betreten.
Ungehindert ging Hunt wieder hinaus und nahm Beth auf den Rücken, um sie ins kleine Gebäude hineinzutragen, doch ehe Hunt auch nur einen Schritt machen konnte, ging der Zwerg wieder in Kampfposition und knurrte bedrohlich.
Frauen hatten hier keinen Zutritt.
Das war der einzig mögliche Schluss. Hunt wollte eine andere Vorgehensweise vorschlagen, doch Beth schüttelte bereits den Kopf. »Geh schon!«, trieb sie ihn an. »Wer weiß, ob es nicht längst einen Alarm gegeben hat. Ihr müsst da so schnell wie möglich rein und wieder raus, bevor noch jemand mitkriegt, was hier läuft.«
Beth hatte recht.
Hunt nickte, gab ihr einen raschen Kuss und drückte sie kurz an sich; dann ging er wieder an dem Zwerg vorbei in das kleine Gebäude.
»Ich auf Beth aufpassen«, verkündete Manuel von der anderen Seite des kleinen Häuschens. »Ich garantiere ihre Unversehrtheit!«
»Unversehrtheit? Bin ich eine Porzellanpuppe, oder was?« Hunt hörte die Belustigung in Beths Stimme, doch Manuel begann sich wortreich zu entschuldigen.
Hunt wandte sich der runden Luke im Boden zu, die Joel und Jorge schon untersuchten. Nirgends war ein Knauf, ein Griff oder ein Schloss zu erkennen, und Hunt wusste nicht, wie man sie öffnen sollte. Er kauerte sich neben die geschlossene Falltür und versuchte sie anzuheben, doch sie schien beinahe fugenlos in den Boden eingelassen zu sein. Jetzt, wo Hunt sie genauer betrachtete, sah sie gar nicht mehr wie eine echte Klappe aus: Sie wirkte wie aufgemalt.
Versuchsweise stampfte Hunt auf den Fußboden, und Wasser spritzte auf. Der Felsboden unter seinen Füßen fühlte sich massiv an. Hunt wollte gerade erneut aufstampfen, um zu lauschen, ob es unter der Luke hohl klang ...
... als sie langsam in die Tiefe sank.
Sofort sprangen Joel und Jorge neben ihn auf die Luke, um nicht zurückzubleiben.
Hunt kauerte sich hin. Er fürchtete, das Gleichgewicht zu verlieren und war sich nur zu deutlich der Tatsache bewusst, dass es kein Geländer gab und auch sonst nichts, woran er sich hätte festhalten können. Auch Joel kauerte sich hin, während Jorge stehen blieb. In dieser Haltung verharrten die drei, während die Luke sich in die Tiefe bewegte und Sickerwasser auf sie herabtropfte. Langsam sanken sie durch die Dunkelheit.
Hatte Beth das gesehen? Hatte sie durch die Tür zugeschaut? Wusste sie, was geschah? Hunt hätte es ihr zurufen sollen, hätte sie auf die Geschehnisse aufmerksam machen müssen, doch nun war es zu spät.
Hunt blieb weiterhin zusammengekauert. Das hier war eine Art Fahrstuhl, wurde ihm klar. Ein Fahrstuhl, den nur die Mitarbeiter der Insurance Group benutzten und den auch er benutzen durfte, weil er unsterblich war.
Sie hielten ihn für einen der Ihren.
Die Abwärtsbewegung der Luke endete, und die drei Männer fanden sich auf dem Boden eines riesigen Raumes wieder. Es sah aus, als stünden sie im Innern eines uralten Tempels oder in der Grabkammer einer ägyptischen Pyramide. Felsblöcke, jeder so groß wie ein Auto, waren so zusammengefügt, dass sie die Wände riesiger Räume bildeten. Auf den Felsblöcken waren Wörter, Piktogramme und Bilder eingemeißelt. Die Wörter konnte Hunt nicht lesen oder deuten, ebenso wenig die Piktogramme, doch die Bilder, so uralt sie auch waren, stellten unverkennbare Motive dar: Zwei Eltern und ein kleiner Junge, die einander an der Taille hielten, schauten zu, wie ein Gebäude abbrannte. Eine Frau stand weinend vor einem Mann, den ein umgestürzter Baum erschlagen hatte. Neben zwei von Ochsen gezogenen Karren, deren Räder sich verkeilt hatten, stritten sich zwei Männer.
Das waren Werbeanzeigen.
Werbeanzeigen für Versicherungen.
Die riesige Kammer war erleuchtet, auch wenn keine Lichtquelle zu sehen war, doch die Winkel und Ecken lagen im Schatten, und aus dem Augenwinkel sah Hunt, wie eine schemenhafte Gestalt sich von der Wand löste und sich bewegte. Beinahe hätte Hunt vor Schreck aufgeschrien. Hastig wich er einen Schritt zurück.
Als der Schemen ins Licht trat, sah Hunt, dass es eine hellbraune Kreatur war, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Sie besaß fast die gleiche Farbe wie die Steine oder der Sand. Langsam bewegte sich die Gestalt über den Boden des Saales hinweg auf einen offenen Durchgang in der gegenüberliegenden Wand zu. Das Wesen hatte Beine und Gliedmaßen, die wie Arme aussahen, doch die Gesichtszüge wirkten unscharf und seltsam flach, als wären sie im Lauf der Jahrhunderte abgeschliffen worden.
Hunt wartete, bis die Kreatur in den Durchgang getreten und in der dahinterliegenden Dunkelheit verschwunden war; dann drehte er sich zu seinen Freunden um und flüsterte: »Sollen wir ihm folgen?«
Jorge nickte stumm, und wie zur Antwort auf Hunts Frage bewegte Joel sich bereits auf den dunklen Durchgang zu. Als die Männer ihn erreichten, stellten sie fest, dass dahinter ein weiterer Raum lag, der von dem gleichen, ursprungslosen Licht erhellt wurde wie die erste Kammer, doch der Raum war sehr viel kleiner, mit einer niedrigeren Decke und kahlen Wänden, die keine Bilder oder Zeichen trugen.
Vor ihnen stand ein steinerner Tisch: eine riesige Felsplatte, die auf zwei ebenso massiven Steinsäulen ruhte. Dahinter, auf einer Art Bank, saß das Wesen, dem sie gefolgt waren. Jetzt, wo er ihm so nah war, konnte Hunt erkennen, dass es tatsächlich einst ein Mensch gewesen sein musste, auch wenn seine Haut aussah, als wäre sie versteinert und die Gesichtszüge sich im Laufe der endlosen Jahre immer mehr abgeschliffen hatten. Der Mann hatte keine Lippen mehr; nur noch eine dünne rote Linie ließ vermuten, wo sein Mund gewesen war, und die Nase war zu einem winzigen Auswuchs ohne Nasenlöcher geschrumpft. Statt der Augenhöhlen gab es nur noch schmale, verkrustete Schlitze, als wäre die versteinerte Haut immer weiter über die Augen gewuchert und dann verhärtet.
Als Hunt das Wesen betrachtete, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass dies alles hier trotz seines ungeheuren Alters die Hauptgeschäftsstelle einer Versicherung war, und mit einem Mal begriff er, dass die große Kammer, die sie eben verlassen hatten, offenbar die Lobby eines Bürogebäudes war. Und dieser kleinere Raum hier war das Vorzimmer.
Einen Augenblick lang verharrte Hunt, unschlüssig, was er jetzt tun sollte. Sollte er versuchen, mit dem Wesen zu kommunizieren? Dann aber kam er zu dem Schluss, dass sie am besten genauso weitermachten, wie sie angefangen hatten, und er nickte seinen Freunden zu. Sie gingen an der sitzenden Kreatur vorbei und in den Korridor dahinter. Hunt rechnete beinahe damit, dass plötzlich eine Stimme erklang, die ihnen befahl, stehen zu bleiben, doch nichts geschah.
Sie stellten fest, dass sie sich in einem Labyrinth befanden, in endlosen Katakomben völlig gleich aussehender, kleiner Räume: das uralte Gegenstück zu den unterteilten Großraumbüros mit ihren kleinen Trennwänden. Fast alle dieser winzigen Räume waren besetzt. Mumifizierte Wesen unbestimmbaren Alters bewegten sich in den Büros langsam hin und her, saßen hinter Sandsteintafeln und hohen Stapeln von Pergament; verschrumpelte Schädel drehten sich knackend auf dürren, vertrockneten Hälsen, und tote Augen schauten den Männern ausdruckslos hinterher, als sie vorbeigingen. Die Wesen hier sahen anders aus als der »Sekretär« am Empfang, vage menschenähnlich und zugleich fremdartiger und weniger leicht zu identifizieren.
Hunt wusste nicht, ob diese Kreaturen jemals Menschen gewesen waren oder einer völlig anderen Spezies angehörten. Auf jeden Fall waren sie viel älter, als jedes Lebewesen hätte sein können und sein dürfen: Abscheulichkeiten, die schon vor undenklich langer Zeit hätten sterben müssen, hätte die Natur noch das Sagen gehabt.
Sämtliche Wesen, denen sie begegneten, blieben stumm. Auch Hunt und seine Freunde schwiegen aus Angst, jeder Laut könne die Mitarbeiter der Versicherungsgesellschaft alarmieren.
Sie gingen weiter einen Flur entlang. Niemand versuchte sie aufzuhalten, niemand beachtete sie. Hunt hatte keine Ahnung, was er hier unten vorzufinden erwartet hatte, doch so etwas auf jeden Fall nicht. Viel eher hatte er eine dunkle, feuchte Unterwelt erwartet, in der es vor schleimigen Monstern wimmelte - Kreaturen, die sie hätten überlisten oder an denen sie sich hätten vorbeischleichen müssen, bis sie den großen, schrecklichen Oberdämon fanden. Mit dem hätten sie sich dann den unausweichlichen Endkampf geliefert, den großen Showdown, und natürlich gesiegt. Danach hätten sie die Police gefunden, die sie suchten wie den Heiligen Gral, und hätten sie verbrannt.
Doch das hier war viel unheimlicher und beunruhigender. Hier hatten sie es nicht mit irgendwelchen Bestien zu tun; hier waren sie nicht die Drachentöter, die gekommen waren, um ein Ungetüm zu erschlagen. Nein, das hier war eine gut funktionierende Maschinerie, die schon in Betrieb gewesen war, ehe der Mensch zum Menschen hatte werden können - und die Gleichgültigkeit der Mitarbeiter ihnen gegenüber zeigte Hunt, wie kümmerlich und unbedeutend er und seine Freunde in Wirklichkeit waren.
Sie gingen weiter, suchten nach Hinweisen, die ihnen verrieten, wo sie die Unsterblichkeitspolicen finden konnten, nach irgendeinem Anzeichen, dass sie überhaupt auf dem richtigen Weg waren.
In einem Raum, der ganz und gar ins Gesamtbild passte, standen ein Computer und ein Bildschirm, der genauso aussah wie der im Kellerbüro des Versicherungsvertreters in Tucson. Der Monitor war eingeschaltet und zeigte winzige Schriftzeichen, doch eine Stromquelle schien es in diesem Raum nicht zu geben: Hunt sah weder ein Kabel noch eine Steckdose.
Der Raum war leer, und so huschte Hunt zum Schreibtisch und hoffte, das Wort »Tucson« oder »Arizona« oder »Vereinigte Staaten« eingeben zu können, um vielleicht irgendetwas herauszufinden. Doch die Tastatur war nicht beschriftet, und die Schriftzeichen auf dem Bildschirm waren nicht zu entziffern; es waren weder lateinische Buchstaben, noch handelte es sich um arabische oder kyrillische Schrift. So etwas hatte Hunt noch nie gesehen.
Rasch verließen die drei Männer das Büro, ehe der Mitarbeiter der Versicherungsgesellschaft zurückkehrte.
In einem anderen, etwas größeren Raum waren in einem Behälter Schädel aufgestapelt - Menschenschädel, Tierschädel und Knochenreste, die nicht zu identifizieren waren. In der Mitte des Raumes stand ein gehäutetes Maultier, das sie stumm anstarrte und in unaussprechlicher Qual mit den Augen rollte. Hunt und seine Begleiter schauderten, gingen rasch daran vorbei und weiter den Flur entlang, wohl wissend, dass sie den unaussprechlichen Schrecken im Herzen der Versicherungsgesellschaft immer näher kamen.
Auch hier war kein Laut zu hören: keine Gespräche, kein Schreien, kein Grunzen. Die einzigen Geräusche waren ihre eigenen Schritte auf dem Steinfußboden und gelegentlich das sandpapierartige Flüstern, wenn die Büroangestellten mit ihren Mumienfüßen über den Boden schlurften.
Der Flur, auf dem sie sich befanden, endete vor einer massiven Wand, also machten sie kehrt und gingen einen anderen Flur hinunter, der in einen leeren Raum führte. Sie mussten fast sämtliche Räumlichkeiten gefunden haben, die von der Insurance Group genutzt wurden, doch bis jetzt hatten sie noch keine Spur der Original-Policen gefunden. Hunt fragte sich, ob es ihnen jemals gelingen würde.
Sie bogen in einen anderen Korridor ab, von dem zahlreiche Seitengänge in sämtliche Richtungen führten: ein Labyrinth, das Hunt an irgendetwas erinnerte, über das er einmal gelesen hatte - irgendetwas aus der griechischen Mythologie. Hier gab es keine Räume, nur endlose Gänge. Hunt und seine Freunde gingen langsam und vorsichtig weiter und achteten darauf, sich jede Abzweigung zu merken, die sie nahmen, damit sie nicht für alle Zeiten durch diese Gänge irren mussten.
Endlich erreichten sie eine Räumlichkeit, die wie das Herzstück dieses Labyrinths wirkte: das Nervenzentrum der Versicherungsgesellschaft.
Hunt roch es, bevor er es sah. Es war der vertraute Gestank feuchter Verwesung. Er sickerte unter einer roten Holztür hindurch, die in die Steinwand eingelassen war - eine Tür, kaum groß genug für ein Kind oder den Zwerg, der den Eingang an der Erdoberfläche bewachte. Hunt streckte die Hand aus, drehte den flachen Metallknauf, und die Tür schwang auf. Er hielt die Luft an, duckte sich und spähte hindurch.
Der Raum, der dahinter lag, bildete einen scharfen Kontrast zu den einfarbigen, hellbraunen Steinen, aus denen der gesamte Komplex errichtet war. Die Wände waren fröhlich bunt, in allen nur erdenklichen Farben: Sie zeigten die aufwändigsten Wandmalereien, die Hunt jemals gesehen hatte. Wie überall in dieser Hauptgeschäftsstelle konnte man im Licht, das von überallher zu kommen schien, alles bestens erkennen.
Was Hunt nun sah, war eine bildliche Darstellung der gesamten Menschheitsgeschichte: kunstvolle Gemälde sämtlicher wichtigen Ereignisse der Zivilisationen in der Westlichen und Östlichen Welt und im Nahen Osten, seit Anbeginn der Zeit.
Ereignisse, die die Insurance Group versichert hatte.
Der Eingang war klein, doch der Raum, der dahinter lag, war riesig. Nicht so überwältigend und gewaltig wie die Lobby, aber doch so groß wie die Stadthalle einer Kleinstadt. In der Mitte des ansonsten leeren Raumes befand sich eine flache Grube, umgeben von einem Miniaturzaun, kaum einen Viertelmeter hoch. Und innerhalb dieser Umzäunung befand sich die Macht, die treibende Kraft, das Gehirn, das hinter der Versicherungsgesellschaft steckte.
Es war ein Wesen aus Sand und Erde, ein entsetzlicher Elementargeist, eine Abscheulichkeit, die sich in ihrem Bau drehte und wandte, wobei das schreckliche Maul beständig aufgerissen war zu einem furchtbaren, lautlosen Schrei. Der faulige Gestank war so intensiv, dass die Luft selbst sich klebrig und süß anfühlte - es war, als würde man Zuckerwatte atmen. Eine spürbare Aura des Boshaften, ein überwältigender Impuls negativer Energie ging von diesem Raum aus. Alles an diesem Wesen war böse und verderbt, und als es den scheußlichen Hals reckte, das Maul unmöglich weit geöffnet, wusste Hunt, dass dies ein Anblick war, der ihn bis zum Tod in seinen Träumen verfolgen würde.
Wie war es möglich, dass etwas so Fremdartiges eine Versicherungsgesellschaft hatte gründen, organisieren und leiten können? Wie konnte etwas Derartiges hinter dem verwirrenden Fachchinesisch stecken, in dem die verschiedenen Policen abgefasst waren? Wie konnte eine solche Abscheulichkeit die Bestimmungen festlegen, die darüber entschieden, dass es billiger war, einen Volvo zu versichern als eine Corvette?
Hunt wusste es nicht. Aber er wusste, dass es die Wahrheit war. Und noch während er hinschaute, veränderten sich die Wandgemälde. Jetzt waren es keine kunstvollen Gemälde mit Szenen aus der Vergangenheit mehr, sondern Echtzeitdarstellungen zahlloser Individuen auf der ganzen Welt: Vertreter und Kunden der Versicherungsgesellschaft. Hunt betrachtete die Myriaden von Bildern. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er in der unteren rechten Ecke Stacy und Lilly erkannte, die sich auf dem Sofa im Wohnzimmer zusammenkauerten, zu verängstigt, das Haus zu verlassen.
Wäre er mutiger gewesen - oder wäre das alles hier nur ein Film gewesen -, hätte er jetzt heldenhaft Manuels Messer gezückt, wäre durch die Tür gekrochen und hätte nach hartem Kampf das Ungeheuer erstochen. Aber das hier war kein Film, und noch nie im ganzen Leben hatte Hunt sich so mutlos gefühlt. Die Kreatur war etwas abgrundtief Böses, das so weit über alles hinausging, was er sich bisher auch nur hatte vorstellen können, dass er diese Bestie unmöglich würde bekämpfen können. Ohne zu seinen Freunden auch nur ein einziges Wort zu sagen, schloss er die Tür wieder und zog sich zurück, wobei er darauf achtete, bloß keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Verzweifelt hoffte er, dass die unfassbare Macht dieses entsetzlichen Wesens das Eindringen der winzigen Menschen noch nicht einmal registriert hatte.
»Was ist das?«, fragte Joel, und Hunt hörte die Angst und Anspannung in der Stimme seines Freundes. Es waren die ersten Worte, die einer von ihnen hier im Labyrinth gesprochen hatte, und in der Stille klangen sie unglaublich laut.
Hunt dachte an die Szene mit Stacy und Lilly auf dem »Wandgemälde«.
»Nichts«, log er. Er war überzeugt davon, dass es das Ende der Versicherungsgesellschaft bedeuten würde, wenn er das Ungeheuer hinter der Tür erschlagen konnte, aber das war unmöglich.
Hunt erinnerte sich immer noch genau an den Weg, den sie genommen hatten, um hierherzukommen, und so führte er seine Freunde zurück, bis sie erneut einen der Flure erreichten, auf dem die uralten, erodierten Wesen langsam zu ihren Büros schlurften. Nach diesem Ding hinter der roten Tür kamen Hunt diese Wesen vertraut, beinahe schon beruhigend vor.
Er wusste nicht, wohin sie jetzt gehen sollten und war versucht, bis zur Lobby zurückzukehren und noch einmal von vorne anzufangen. Doch dann sah er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Nicht das langsame Schlurfen der mumienhaften Büroangestellten, die sich wie Untote bewegten, sondern den zielbewussten, entschlossenen Gang eines ...
Versicherungsvertreters.
Es war der Mann, den sie verfolgt hatten. Anscheinend war er wieder in die Zentrale zurückgekehrt.
Hunt huschte in das nächstgelegene leere Büro. Joel und Jorge folgten ihm dichtauf. Lautlos standen die drei dann in der Dunkelheit und warteten, bis der Vertreter an ihnen vorbeigegangen war.
Dann traten sie aus dem Büro wieder auf den Gang hinaus.
Und folgten dem Mann.
Sie bewegten sich langsam, so wie die anderen Wesen hier, um nicht unnötig Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, doch sie hätten sich keine Sorgen zu machen brauchen. Der Versicherungsvertreter achtete nicht im Mindesten auf seine Umgebung; er konzentrierte sich offensichtlich nur auf ein einziges Ziel. Hunt beobachtete, wie er den Gang hinunterschritt und nach rechts abbog.
Innerlich hatte Hunt sich schon darauf eingestellt, endlos durch dieses Labyrinth irren zu müssen, um hinauszufinden, doch zu seiner großen Überraschung blieb der Mann gleich an der ersten Tür stehen, die er erreichte, und ging in das Zimmer dahinter.
Zuerst dachte Hunt, dort wären sie schon vorbeigekommen, doch dem war nicht so: Hinter der offenen Tür lag kein weiteres kleines Büro mit einer uralten Drohne, die an einem Steintisch irgendeine bedeutungslose Aufgabe erfüllte, sondern ein Archiv voller hölzerner Aktenschränke. Der Vertreter suchte irgendetwas in dem Schrank, der dem Eingang am nächsten stand. Hunt huschte am Archiv vorbei, um nicht entdeckt zu werden; wieder folgten Joel und Jorge ihm auf dem Fuß. Sie verschwanden im ersten Büro, das unmittelbar daneben lag, und spähten vorsichtig hinaus. Wenige Augenblicke später sahen sie, dass der Versicherungsvertreter das Archiv verließ. Er schaute nicht in ihre Richtung, sondern ging sofort wieder den Weg zurück, den er gekommen war. Sobald er um die Biegung des Ganges verschwunden war, eilte Hunt in den Archivraum, während Joel sich als Posten neben den Eingang stellte.
Die Decke war niedrig, nicht so endlos hoch wie in der Lobby, doch der Raum erstreckte sich so weit in die Tiefe des Gewölbes, dass Hunt das Ende nicht erkennen konnte. Zu beiden Seiten standen lange Reihen von Aktenschränken. Hunt öffnete gleich den ersten neben dem Eingang - den, in dem auch der Versicherungsvertreter irgendetwas gesucht hatte. Hunt entdeckte Mappen mit Papieren und Dokumenten. Eine der Mappen zog er heraus und fand darin Antragsformulare für Versicherungen, die genau so aussahen wie die, die Beth und er hatten ausfüllen müssen, nur dass diese Formulare auf Spanisch abgefasst waren. Hunt legte die Mappe zurück, ging zum nächsten Aktenschrank und fand dort Antragsformulare auf Arabisch.
Er schloss die Tür des hölzernen Aktenschranks und schaute sich um. Vor ihm erstreckten sich Aktenschränke bis scheinbar in die Unendlichkeit, doch hinter ihm, am Kopf des Raumes, links von der Tür ...
... befand sich die Unsterblichkeitspolice ihres Versicherungsvertreters.
Sie war auf Pergament geschrieben und wurde unter Glas aufbewahrt, wie ein Ausstellungsstück aus einem Museum. Es gab nur sechs solcher Policen - eine für jeden Kontinent? -, und Hunt vermutete, dass es demzufolge auch nur sechs unsterbliche Vertreter gab, die auf der ganzen Erde tätig waren. Hatte es früher mehr gegeben? Und hatten diese Vertreter aus früheren Zeiten vielleicht irgendwann ihre Beiträge nicht mehr zahlen können, sodass sie beseitigt worden waren? Oder gab es insgesamt nur sechs Planstellen, und sobald diese besetzt waren, brauchte sich niemand mehr darauf zu bewerben?
Hunt wusste es nicht, und es war ihm auch egal. Die Tatsache, dass es nur sechs Vertreter gab, machte ihm die Arbeit sehr viel leichter. Er stellte sich neben den Aktenschrank und starrte das Pergament durch die Scheibe hindurch an. Dieses Dokument verlieh ihm die Macht über Leben und Tod des Versicherungsvertreters. Jetzt hatte endlich er die Oberhand. Er war es, der den Ausgang dieser Schlacht bestimmte. Was sich hinter dieser Glasscheibe befand, war nicht die unsterbliche Seele des Vertreters, es war seine Unsterblichkeitspolice. Der Vertreter hatte keine Seele, nur diese Police.
Hunt begriff, dass die Bibel recht hatte: Im Anfang war das Wort. Und das Wort war mächtiger, wichtiger und verbindlicher, als ein Körper es jemals sein konnte.
»Was ist das?«, fragte Jorge.
»Seine Lebensversicherungspolice«, antwortete Hunt. Immer noch sprachen sie nur im Flüsterton miteinander, als fürchteten sie, jemand könne sie hören.
Hunt beugte sich vor, bis er die Nase fast gegen das Glas presste. Die Bestimmungen der Police waren in einer Schrift geschrieben, die Hunt nicht kannte - sie musste noch älter sein als die Keilschrift -, doch die Form und der allgemeine Aufbau des Dokuments waren identisch mit Hunts eigener Unsterblichkeitspolice, und er sah auch die Zeile am Anfang, in der der Name des Vertreters eingetragen war.
Er hieß Ralph Harrington.
Ralph.
Das schien unglaublich, unmöglich. Der Name des Bösen konnte doch nicht so alltäglich sein, so lächerlich trivial ...
Ralph Harrington.
In gewisser Weise machte das diesen Mann, diese Bedrohung, irgendwie kleiner, verwies ihn in seine Schranken, machte ihn weniger einschüchternd. Er wirkte nicht mehr wie ein übernatürliches Wesen, sondern mehr wie ein normaler Bursche von nebenan.
Hunt musste daran denken, was Del ihm im Gefängnis erzählt hatte: dass Namen Macht verliehen - wie bei Rumpelstilzchen.
Worte. Namen. Das waren die Dinge, die wirklich wichtig waren.
Aus reiner Neugier schaute Hunt sich weiter in dem Glaskasten um und las die Namen auf den anderen Policen. Einer war entweder in chinesischen oder in japanischen Schriftzeichen eingetragen, ein weiterer auf Griechisch oder Kyrillisch. Zwei Namen waren in arabischer Schrift eingetragen. Nur bei Ralphs Namen waren lateinische Buchstaben verwendet worden. Doch all diese Namen schienen aus der Gegenwart zu stammen, und Hunt fragte sich, ob die Namen sich mit der Zeit änderten, ob sie irgendwie, auf magische Weise, stets auf dem neuesten Stand gehalten wurden - ob die jeweiligen Vertreter ihre Namen jedes Mal änderten, um stets in die aktuelle Zeit zu passen.
Doch das war egal. Jetzt hieß ihr Versicherungsvertreter auf jeden Fall »Ralph Harrington«. Das war der Name, der in die Police eingetragen war, und somit war es der Name, dem er verpflichtet war. Hunt suchte nach einem Riegel oder einem Schloss, nach irgendeiner Möglichkeit, die Vitrine zu öffnen, in der die Policen lagen, doch es gab nichts dergleichen. Schließlich ging Hunt zum nächstbesten Aktenschrank, nahm eine dicke Mappe heraus, legte sie auf die Glasscheibe und schlug dann mit der Faust auf die Mitte der Mappe, so fest er konnte.
Das Glas zersprang.
Zum Glück war es kein Sicherheitsglas, sonst hätte Hunt es womöglich nicht zerschmettern können. Er ließ die Mappe auf den Fußboden fallen, entfernte dann die größten Glassplitter und ließ auch sie fallen. Schließlich konnte er die Policen gefahrlos aus der Vitrine nehmen.
Jetzt war die Zeit der Abrechnung gekommen.
Einen Sekundenbruchteil lang zögerte Hunt. Doch dann dachte er an Jorges Kind, an Lilly, an Eileen, an all die Menschen, die wegen des Versicherungsvertreters gestorben waren oder leiden mussten. Hunt tat, was zu tun er sich vorgenommen hatte. Er legte die anderen Policen beiseite und griff nach der, die auf den Namen »Ralph Harrington« ausgestellt war.
Dann zog er das Feuerzeug aus der Tasche, ließ es aufschnappen, hielt das Pergament an der Oberkante fest und entzündete die untere rechte Ecke. Es war kein magisches Puff! zu hören, und auch nicht das verklingende Echo eines Schreies, doch das uralte Papier fing schnell Feuer und verbrannte in einer ruhigen, gleichmäßigen Flamme. Bis zum letzten Moment hielt Hunt es fest; dann ließ er es fallen. Auf dem Fußboden brannte es noch ein paar Sekunden weiter und erlosch. Nun lag auf dem Boden nur noch ein kleiner, dreieckiger Papyrusfetzen, auf dem nicht mehr das Geringste aufgedruckt war. Doch Hunt wollte kein Risiko eingehen, also hob er auch den Fetzen auf, hielt ihn erneut ans Feuerzeug und hielt es fest, bis die Flammen seine Fingerspitzen versengten und die Police völlig verbrannt war.
Hunt schaute zur Tür. Er hatte mehrere Minuten gebraucht, um die Kiste aufzubrechen, die Policen herauszunehmen und die von Ralph Harrington anzuzünden, doch Joel hielt immer noch ungestört Wache. Gerade jetzt schaute er wieder zu Hunt und nickte ihm zu, um ihm zu bedeuten, dass die Luft immer noch rein sei.
Hunt und Jorge nutzten die Gelegenheit und verbrannten auch die anderen Policen.
Niemand kam, um sie aufzuhalten. Das war das Sonderbarste: Während Hunt und Jorge eine der kostbaren Policen nach der anderen in Brand steckten, schrillten keine Alarmsirenen, und keine Sprinkleranlage reagierte auf den Rauch. Nichts geschah.
Hunt konnte es nicht begreifen. In den Vereinigten Staaten schien die Versicherungsgesellschaft jeden ihrer Schritte nachzuverfolgen, und hier, in Mexiko, konnte er einfach hereinspazieren und die Policen anzünden, die sämtliche hiesigen Vertreter am Leben hielten! Lag es daran, dass diese Männer sich ganz auf die Außenwelt konzentrierten? Oder daran, dass sie zuvor noch nie einen Eindringling in ihren (un-)heiligen Hallen gehabt hatten? Hatte es noch nie einen Verräter unter ihnen gegeben? Hatte es noch nie einen Grund gegeben, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen? Lag es daran, dass die einzelnen Vertreter ihre Kunden zu überwachen hatten und dafür verantwortlich waren, über sämtliche ihrer Schritte informiert zu sein? Oder gewährte ihm seine eigene Lebensversicherung hier völlig freie Hand? Hatte sie ihm sozusagen eine Tarnkappe geschenkt und ihm die Genehmigung erteilt, alles zu tun, was er wollte?
Plötzlich gellte ein Wutschrei.
Und dann geschah alles blitzschnell.