1.
»Hier kann es nicht sein.«
»Doch, hier ist es.«
»Dann hast du eine falsche Adresse.«
Beth schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist hier.«
Hunt stieg aus dem Auto und starrte über das Dach des Saab hinweg zu der Ruine eines Gebäudes hinüber. Es sah aus, als wäre es bombardiert worden. Nur drei noch teilweise erhaltene Wände waren übrig; die vierte Wand war zu Schutt zerfallen, ebenso wie das Dach.
Sie befanden sich in den Randbezirken des Countys, nahe der mexikanischen Grenze, und hatten den Wagen vor einer Bauruine abgestellt, bei der es sich um ein einstiges Lagerhaus zu handeln schien. Es war der einzige Bau in einer ansonsten leeren Sackgasse; das Unkraut und die Sträucher, die wild zwischen den Betontrümmern und Stützstreben wucherten, ließen vermuten, dass das Gebäude schon vor geraumer Zeit aufgegeben worden war. Hunt konnte nicht genau sagen, was den Bau eigentlich zum Einsturz gebracht haben mochte. Nach einem Brandschaden sah es jedenfalls nicht aus. Wären sie jetzt noch in Kalifornien gewesen, hätte Hunt vermutet, ein Erdbeben habe den Schaden verursacht, aber mit einer solchen Naturkatastrophe war in Tucson kaum zu rechnen.
Beth war auf der Beifahrerseite bereits ausgestiegen. Nun schloss Hunt den Wagen ab und kam zu ihr auf den Bürgersteig. Skeptisch betrachtete Beth eine Kreidezeichnung auf dem Beton: Ein Kind hatte gehörnte Dämonen und Ungeheuer mit riesigen Zähnen gemalt. Beth schauderte. »Ja, hier sind wir offenbar richtig.«
Es war unschwer zu erkennen, dass sich in diesem Bau keine Büroräume mehr befanden; doch Hunt hatte noch immer das Bedürfnis, das halb eingestürzte Gebäude zu betreten und dessen Inneres zu erkunden. Vielleicht ließ sich ja doch irgendetwas in Erfahrung bringen. Schließlich war es die einzige Spur, die sie hatten, die einzige Information über die Insurance Group überhaupt, und Hunt hatte nicht die Absicht, sich diese Gelegenheit entgehen zu lassen.
»Wo hast du die Kopien?«, fragte er.
»In der Schublade mit meiner Unterwäsche.«
Er schaute sie schief an.
»Was Besseres ist mir auf die Schnelle nicht eingefallen«, sagte Beth. »Ich dachte, da wären sie in Sicherheit.«
»Es sei denn, irgendein Perverser bricht in unser Haus ein.«
Sie gingen die lange Auffahrt hinauf, die zu dem eingestürzten Gebäude führte. Die ersten Meter des rissigen Betons waren mit Glassplittern, rostigen Nägeln, Müll und Schutt übersät. Doch ein Stück weiter war die Auffahrt erstaunlicherweise freigeräumt, von Sand und Staub und vereinzelten toten Blättern abgesehen. Als sie näher kamen, schob sich die riesige Ruine vor die Nachmittagssonne und warf einen düsteren Schatten auf den Weg. Es wirkte auf billige Art und Weise symbolisch, verfehlte aber dennoch nicht seine Wirkung. Hunt schauderte, als er und Beth auf einem leicht ansteigenden Pfad, vorbei an abgestorbenen Sträuchern, auf den Eingang des Gebäudes zuschritten.
Ein rechteckiger, hellerer Fleck an der Mauer neben der Doppelflügeltür verriet Hunt, dass hier ein Schild gehangen hatte, doch er entdeckte keinen Hinweis darauf, was auf dem Schild gestanden hatte. Die Türen waren längst verschwunden; nur die Überreste eines verbogenen Metallrahmens in der linken Hälfte des Eingangs verrieten noch, dass es diese Türen überhaupt gegeben hatte. Hunt schüttelte ungläubig den Kopf. Hier sollte die Zentrale einer Versicherung untergebracht gewesen sein? Doch nach den Informationen, die sie aus dem Aktenkoffer des Vertreters hatten, war es tatsächlich so.
Wohin aber war die Gesellschaft verschwunden? Hatte sie ihren Sitz verlegt? Oder - was noch erschreckender wäre - hatte sie sich aus dem Geschäft zurückgezogen, sodass nur noch dieser Vertreter übrig geblieben war, ein wahnsinniger Fanatiker mit übernatürlichen Kräften, der für eine Firma arbeitete, die gar nicht mehr existierte?
»Hier gefällt es mir nicht«, flüsterte Beth. »Es ist unheimlich.«
»Mir gefällt's hier auch nicht«, erwiderte Hunt und stellte überrascht fest, dass er ebenfalls flüsterte. »Aber wir müssen uns hier umsehen.«
Die Wand vor ihnen stand nur noch teilweise; die gesamte rechte Seite war eingestürzt. Vorsichtig traten sie durch den Eingang. Vor ihnen lag ein hoher Schuttberg, ein unüberwindliches Hindernis für jeden, der das Innere des Gebäudes erkunden wollte. Hauptsächlich waren es Teile des Dachs und der Sparren, gewaltige Metallstreben und daran befestigte Stützen, die in sonderbaren Winkeln aus den Trümmern ragten. Ob es nun zufällig oder beabsichtigt war - jedenfalls führte ein nur undeutlich erkennbarer Pfad durch die Trümmer hindurch, ein schmaler Weg, der sich zwischen den Bergen aus Stahl und Beton hindurchwand.
Beth und Hunt folgten dem Weg. Irgendwo neben sich hörten sie das leise Huschen von Ratten. Über ihnen krächzte eine Krähe. Sie kamen an eingestürzten Regalen vorbei, die unter gewaltigen Betontrümmern zusammengebrochen waren, sahen Überreste von Kisten und Kartons, entdeckten sogar das Wrack eines Gabelstaplers - doch nichts von dem, was sie sahen, ließ darauf schließen, dies könne die Zentrale einer Versicherungsgesellschaft gewesen sein.
In der Mitte des Gebäudes befand sich eine Betonplatte, so groß wie ein geräumiges Zimmer, und genau im Zentrum dieser Platte war eine Treppe zu sehen, die hinunter in die Dunkelheit führte. Beth und Hunt gingen darauf zu, blieben neben der Treppe stehen, fassten einander bei den Händen und spähten in die Finsternis hinab. Die Luft, die aus dem Treppenaufgang emporstieg, war kalt und feucht; sie roch nach Mehltau und verrottenden Pflanzen.
Hunt wusste, dass er die Treppe hinuntersteigen musste, wollte er mehr erfahren, doch er hatte Angst. Er fühlte sich wie ein Kind, das in eine düstere Gasse gehen musste, kurz nachdem es einen Gruselfilm gesehen hatte. Hunt hatte Angst davor, dem »Schwarzen Mann« zu begegnen - und dieser Vergleich traf viel besser zu, als Hunt lieb war.
»Im Wagen liegt eine Taschenlampe«, sagte er. »Ich geh sie holen.«
»Und was soll ich solange machen?«, fragte Beth mit einem Anflug von Panik. »Hierbleiben? Kommt überhaupt nicht in die Tüte! Ich komme mit.«
»Ich glaube, du wartest lieber im Wagen«, entgegnete er. »Nur für den Fall.«
»Nein, wir gehen da gemeinsam runter.«
»Und wenn etwas passiert? Nein, es ist besser, wir machen eine Zeit ab - eine Stunde oder so. Wenn ich bis dahin nicht zurück bin, fährst du los und holst Hilfe!«
Beth legte die Stirn in Falten. »Was redest du für einen Unsinn? Wir stecken beide in dieser Sache, und wir gehen beide da runter.«
»Aber ...«
»Kein Aber. Vier Augen sehen mehr als zwei, und ich werde hier ganz bestimmt nicht die Jungfer spielen, die sich immer schön aus allen Gefahren heraushält, während der Held alleine loszieht.«
»Und wenn doch etwas passiert?«
»Wir werden sehen. Außerdem habe ich mein Handy dabei. Und jetzt lass uns gehen. Hier verschwenden wir doch nur Zeit.«
Hunt musste zugeben, dass er erleichtert war. Er hatte wirklich nicht alleine dort hinuntergehen wollen. Gemeinsam gingen sie zurück zum Wagen, holten die Taschenlampe und zwei Schraubenzieher - notfalls konnte man die immer noch als Waffe benutzen -, kehrten in das zerstörte Gebäude zurück und gingen zu der Treppe, die in die Grube führte.
Die Grube.
Genau so dachte Hunt darüber. Die Grube. Als würden sie in die Hölle selbst hinuntersteigen.
Hunt betete, dass er nur das Opfer einer überaktiven Phantasie sei.
Er ging voran, die Taschenlampe in der Hand. Hier unten war es spürbar kälter, und der widerliche Geruch wurde immer stärker. Hunt musste an überreife Pilze oder verfaulte Kartoffeln denken. Die Treppenstufen waren aus Beton, doch die Seitenwände bestanden aus nacktem Erdreich, das so fest zusammengepresst war, dass es wie getrockneter Lehm wirkte. Die Stufen führten längst nicht so tief hinab, wie Hunt erwartet hatte; die Dunkelheit hatte ihn getäuscht und ihm vorgegaukelt, es ginge viel tiefer, als es tatsächlich der Fall war.
Sie waren vielleicht ein Stockwerk hinabgestiegen, als die Stufen plötzlich endeten. Hunt und Beth standen in einem leeren Raum, ungefähr so groß wie die Betonplatte über ihnen.
Natürlich, dachte Hunt. Ein Keller. Es war dumm gewesen, etwas anderes zu erwarten. Er hatte sich von seiner Phantasie ins Bockshorn jagen lassen.
Ein zweites Mal ließ er den Schein der Taschenlampe durch den Raum wandern. Es war kein Keller, wie man ihn unterhalb eines Lagerhauses erwarten würde. Es war eher wie der Vorratskeller eines Privathauses. Die Decke war aus Beton, doch Wände und Boden bestanden aus dem gleichen, dicht gepackten Erdreich wie die Seitenwände des Treppenaufgangs. Der Lichtkegel der Taschenlampe fiel auf das bröckelnde Material, auf die kleinen Steinchen, die darin zu erkennen waren, eine herausragende Wurzel und ... eine Holztür.
Neben sich hörte Hunt, wie Beth scharf Luft holte. Die Tür war eben noch nicht da gewesen; eben hatte es dort nur die glatte Fläche des lehmartigen Erdreichs gegeben. Beth griff nach Hunts Arm, klammerte sich fest. »Meinst du, wir sollten da reingehen?«
»Ja«, sagte Hunt. »Auch wenn ich nicht behaupten kann, dass diese Aussicht mich begeistert.«
Sie traten näher. Im gelblichen Schein der Taschenlampe konnten sie abblätternde grüne Farbe erkennen. Und genau in der Mitte der Tür, kaum erkennbar, sahen sie die matten Umrisse dreier Buchstaben: TIG
The Insurance Group.
Sie hatten es gefunden.
Hunt wusste nicht, ob er sich freuen oder es bedauern sollte. Er wäre zuversichtlicher gewesen, hätten sie diese Tür in einem Gebäude auf der Oberfläche entdeckt. Dass er sich jetzt unter der Erde befand, sorgte dafür, dass er sich äußerst unwohl fühlte - und aus irgendeinem Grund auch viel verwundbarer. Doch sie hatten keine andere Wahl: Sie waren hierhergekommen, um herauszufinden, was sie gegen den Versicherungsvertreter und dessen Gesellschaft unternehmen konnten, deshalb mussten sie durch diese Tür.
»Kommst du?«, fragte er.
Er spürte Beths Nicken mehr, als dass er es sah.
Ein kalter Luftzug strömte durch die Schlitze rings um die Tür, eine Kälte, die auch in den Keller vordrang, in dem sie sich gerade befanden. Doch in den Räumen hinter der Tür musste es bedeutend kälter sein. Hunt nahm alle Kraft zusammen, umklammerte Taschenlampe und Schraubenzieher fester und ging voran. Beth ließ seinen Ärmel los und packte sein Handgelenk.
Hunt öffnete die Tür - und taumelte würgend zurück, als ihm ein scheußlicher Pesthauch entgegenschlug. Von hier also kam der Gestank, und so nahe an seiner Quelle war er schier übermächtig. Beth hustete und ließ Hunts Handgelenk los, damit sie sich die Nase zuhalten konnte.
»Was mag das sein?«, fragte sie, und ihre Stimme klang erstickt und kraftlos. »Ein totes Tier?«
Hunts Phantasie war weniger prosaisch gewesen. Er hatte an schleimige Kreaturen gedacht, die noch nie das Tageslicht erblickt hatten, an entsetzliche, weißhäutige Mutanten, die unter der Erde lebten und sich von Wurzeln und verrottendem Material ernährten und sich nur manchmal an die Oberfläche wagten, wo sie sich dann verwandelten ... in Versicherungsvertreter. Doch jetzt, da Beth den anderen Gedanken aufgeworfen hatte, kam er Hunt zwingend logisch vor, und es erschien ihm wahrscheinlich, dass hier irgendwo ein verwesender Kadaver lag - oder ein Leichnam.
Vorsichtig nahm er die Hand von der Nase. Der Geruch war jetzt weniger grässlich als noch vor wenigen Sekunden. Entweder gewöhnte Hunt sich bereits daran, oder die übelriechende Wolke hatte sich inzwischen mit der Luft von draußen vermischt und sich dabei verteilt. Was immer der Grund sein mochte - Hunt stellte fest, dass er sich weiterbewegen konnte, ohne zu würgen, und so richtete er die Taschenlampe nach vorn. Hinter der Tür erstarb der Lichtschein; der Lichtkegel reichte kaum einen halben Meter weit. Was da vor ihnen lag, konnte genauso gut ein Wandschrank sein wie ein ganzes Höhlensystem, das sich meilenweit dahinzog ... oder nach weniger als zwei Metern endete.
Hunt spürte, wie Beth sich wieder an ihn drängte. Im matten Schein der Taschenlampe konnte er gerade noch die Umrisse ihres Arms ausmachen. »Gehen wir rein?«, fragte sie.
»Ja. Hol tief Luft. Das wird erst mal schlimm, ehe es dann wieder besser wird.«
Beide atmeten mehrmals tief ein und flach wieder aus.
»Auf drei«, sagte Hunt. »Eins ... zwei ... drei!«
Taschenlampe und Schraubenzieher vor sich gestreckt, stürmte Hunt ins Halbdunkel.
Ein Licht flammte auf.
Sie befanden sich im Büro einer Versicherungsgesellschaft.
Hunt blinzelte, damit seine Augen sich schneller an die plötzliche Helligkeit gewöhnten. Der Raum, der vor ihnen lag, sah so völlig anders aus als alles, was Hunt erwartet hatte, und passte so wenig zu der Ruine, die über ihnen lag, und zu dem schmutzigen Keller, aus dem sie gerade kamen, dass Hunts halb betäubtes Hirn einen Moment brauchte, um alles zu erfassen.
Sie standen auf einem nüchternen grauen Teppich, wie man ihn oft in Büroräumen vorfindet. Vor ihnen stand ein wuchtiger Schreibtisch, auf dem sich Papiere türmten; dazwischen war ein Computerbildschirm zu erkennen. Hinter dem Schreibtisch befand sich eine ganze Wand voller Regale mit Büchern und zahllosen Ordnern, in denen sich vermutlich Versicherungspolicen befanden. Links von ihnen standen mehrere Aktenschränke aus Metall, und zu ihrer Rechten war ein Sofa für Besucher aufgestellt, über dem Urkunden und Zertifikate hingen.
Als hinter ihnen plötzlich ein Geräusch erklang, fuhr Hunt herum.
Im Eingang stand der Versicherungsvertreter.
Er war groß und muskulös, sein Körper füllte fast den ganzen Eingang aus, und seine Haltung wirkte so bedrohlich wie sein Gesichtsausdruck. Er kam auf sie zu. Gleichzeitig traten Hunt und Beth ein paar Schritte zurück. Der Vertreter lachte, ein tiefes Glucksen, das herzlich und finster zugleich klang.
»Kann ich bitte meinen Aktenkoffer wiederhaben?«
»Wir ... haben ihn nicht dabei«, stammelte Hunt.
»Kommen Sie, kommen Sie! Sie haben ihn gestohlen.«
»Er steht zu Hause«, erklärte Beth.
»Ich dachte, deswegen wären Sie vorbeigekommen. Um ihn mir zurückzugeben.« Der Vertreter machte eine Handbewegung, als wollte er seine Ärmelaufschläge zurückschieben, und plötzlich hielt er den Aktenkoffer in der Hand. »Ist schon gut. Ich war so frei, ihn selbst zu holen. Die Kopien meiner Karten übrigens auch.« Er lächelte Beth an. »In der Schublade waren sehr hübsche Höschen. Die rochen genau wie Sie.« In der anderen Hand hielt der Vertreter einen von Beths Slips. Er putzte sich damit die Nase; dann warf er ihn achtlos fort. »Kommen wir zum Geschäft.« Er ging an ihnen vorbei, um den Schreibtisch herum und setzte sich. Dann schaltete er den Computer ein. Eine Zeitlang waren nur das angestrengte Keuchen von Hunt und Beth sowie das Klappern der Tastatur zu hören, als der Vertreter darauf tippte.
»Ich habe meine Brille nicht dabei«, sagte er schließlich, obwohl Hunt ihn noch nie mit Brille gesehen hatte. »Können Sie mir sagen, wie spät es ist?«
Er deutete auf eine Uhr, die neben den Urkunden an der Wand hing. Hunt hatte die Uhr vorher gar nicht bemerkt, doch als er sie nun anschaute, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Das Zifferblatt wies keine Zahlen auf; es gab nur die Cartoon-artige Zeichnung eines Affen-Hinterteils an der Stelle, wo sich die Zwölf hätte befinden müssen, sowie eine Darstellung haariger Hoden anstelle der Sechs. Der einzige Zeiger, den die Uhr hatte, wies auf den Punkt, wo die Drei hätte sein müssen, genau zwischen den beiden Zeichnungen.
Halb Affenarsch, viertel vor Ho-den-sack.
Der Vertreter lachte. Es war ein erschreckendes, irres Geräusch.
Dann stellte er den Computer ab und schwenkte im Sessel zu seinen beiden Besuchern herum. Jetzt verriet seine Miene Zorn und Streitlust. »Also, warum sind Sie hier?«, fragte er. »Was wollen Sie?«
Hunt wusste keine Antwort.
»Es geht um Versicherungen«, sagte Beth schnell. »Wir glauben, dass Sie uns nicht die Policen anbieten, die wir haben wollen, sondern uns Versicherungen andrehen, die Sie loswerden möchten. Wir sind hierhergekommen, um herauszufinden, ob das stimmt ... und notfalls über Ihren Kopf hinweg Ihre Vorgesetzten über Ihre Unzulänglichkeiten zu informieren.«
Die Haltung des Vertreters änderte sich schlagartig.
Hunt wusste nicht, was Beth dazu gebracht hatte, so etwas zu sagen und wie sie darauf gekommen war, doch es funktionierte bestens. Der bedrohliche, massige Kerl, der ihnen gerade noch gegenübergestanden hatte, verwandelte sich schlagartig in einen servilen, kriecherischen Lakaien.
»Die Aufgabe eines Versicherungsvertreters ist es, die Bedürfnisse seiner Kunden zu ermitteln und dafür zu sorgen, dass die Policen diesen Bedürfnissen auch stets angemessen sind«, sagte er beschwichtigend. »Ich hatte sicherlich niemals die Absicht, auch nur den Eindruck zu erwecken, ich würde Ihnen Versicherungsleistungen aufdrängen. Wer wäre ich denn, Ihnen die Reichweite Ihres individuellen Deckungskonzepts vorzuschreiben? Ich bin nur hier, um Ihnen behilflich zu sein.« Er spreizte die Finger. »Sagen Sie mir nur, für welche Art Police Sie sich interessieren! Was immer es sein mag, ich bin mir sicher, die Insurance Group kann Ihrem Wunsch entsprechen, und ich werde weiterhin in der Lage sein, Ihnen den erstklassigen Service zu bieten, den Sie von mir kennen und erwarten.«
Er schien gar nicht zu Beth und Hunt zu sprechen, sondern für irgendeinen unsichtbaren Zuschauer seinen Text herunterzuspulen. Hunt fragte sich, ob jemand anders sie in diesem Moment beobachtete, ob dieser Raum vielleicht überwacht wurde. Aber von wem? Als sie dieses Büro entdeckt hatten, war Hunt gerade zu dem Schluss gekommen, dass es so etwas wie die Insurance Group überhaupt nicht gab, sondern eben nur diesen einen Vertreter, der auf eigene Faust handelte. Doch der Mann schien ernstlich besorgt, wie seine Vorgesetzten auf Beths Kritik an seiner Arbeit reagieren würden. Daraus zog Hunt den Schluss, das es doch eine Versicherungsgesellschaft geben musste - und eben auch Vorgesetzte, denen der Vertreter Rechenschaft ablegen musste. Aber wo waren diese Vorgesetzten? Wer steckte wirklich hinter alledem? Und konnten sie - wer immer sie sein mochten - wirklich in diesem Moment zuschauen, wie sie beide und der Vertreter sich in diesem Büro im Keller eines eingestürzten Gebäudes unterhielten?
Hunt hatte genug gesehen, um zu wissen, dass es sehr wohl möglich war, just in diesem Moment beobachtet zu werden - und das bedeutete, dass die Überwachungsmechanismen ebenso gut eine Kristallkugel sein konnten wie irgendwelche High-Tech-Abhöranlagen. Der Versicherungsvertreter hatte mehr als einmal betont, dass die Gesellschaft, für die er tätig war, sehr alt sei - und die Karten und Dokumente, die Beth und Hunt im Aktenkoffer des Mannes entdeckt hatten, schienen das zu bestätigen. Doch nicht zum ersten Mal fragte Hunt sich, wie alt die Insurance Group wirklich sein mochte. Er wusste nicht, wann und wo das Konzept für Versicherungen entstanden war, doch er zweifelte keinen Moment daran, dass die Insurance Group bereits existiert hatte, als es noch gar keine Versicherungen gab.
Wie alt war sie? Jahrzehnte? Jahrhunderte? Jahrtausende?
Vor seinem geistigen Auge sah Hunt unwillkürlich Fred Feuerstein in seinem Umhang aus Säbelzahntigerfell, der grunzenden Höhlenmenschen Versicherungen verkaufte und die Konditionen der Policen mit einem Faustkeil in eine Steintafel meißelte.
Wie alt war der Vertreter?
War er unsterblich?
Plötzlich überkam Hunt ein schreckliches Gefühl der Mutlosigkeit. Er fühlte sich besiegt und hoffnungslos unterlegen. Wie hatten Beth und er nur glauben können, sie könnten es mit einer Macht aufnehmen, die so alt und mächtig und offensichtlich erfolgreich war? Wer waren sie denn schon? Nobodys! Es würde die größten Geister aus allen Zeitaltern erfordern - und sämtliche Kräfte, die die Regierungen aufbringen konnten -, um dem Treiben dieser Versicherung ein Ende zu machen. Kurz schoss Hunt der lächerliche Gedanke durch den Kopf, er könne ja eine offizielle Beschwerde bei der Bundeskartellbehörde oder irgendeiner anderen Organisation zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs einreichen, sodass die sich dann um die Insurance Group kümmern musste, doch er wusste genau, dass es völlig unmöglich war - selbst wenn es ihm gelänge, jemand dazu zu bringen, dieser ungeheuerlichen Geschichte überhaupt Glauben zu schenken.
Der Vertreter sprach immer noch. »Sie werden nirgends einen derart umfassenden Service finden und ein solches Bemühen, Ihre persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen, was Versicherungen angeht, wie bei der Insurance Group.«
Beth hatte in diesem geradezu manischen Versuch, sich zu verteidigen, offensichtlich einen Hauch von Verzweiflung entdeckt, der Hunt ebenfalls aufgefallen war. »Sie scheinen nicht zu verstehen«, sagte sie jetzt langsam und deutlich, als würde sie mit einem kleinen Kind sprechen. »Wir sind nicht zufrieden damit, wie sie uns betreuen. Da sind wir Besseres gewöhnt, und wir erwarten eine respektvollere Behandlung von unserem«, und nun klang sie geradezu theatralisch geringschätzig, »Versicherungsvertreter.«
»Ich bin nur hier, um Ihnen zu Diensten zu sein«, erklärte er Beth und all den anderen, die vielleicht noch zuhörten oder zuschauten. »Mein Ziel ist es, sie vollkommen zufriedenzustellen.«
Das war ihre Chance.
»Meinen Sie das ernst?«, fragte Hunt.
»Natürlich! Sagen Sie mir, was Sie möchten. Schildern Sie mir Ihre Bedürfnisse, und ich werde eine Police finden, die genau darauf zugeschnitten ist.«
Hunt schaute den Vertreter an. »Ich hätte gerne eine Lebensversicherung. Ihre Deluxe-Police.«
Die Mundwinkel des Vertreters hoben sich. Es war das Grinsen eines Raubtiers. Plötzlich war er wieder ganz der Alte. Er quoll vor Selbstvertrauen geradezu über. Jegliche Spur von Servilität war verschwunden. »Jetzt wird es interessant. Das braucht zwar ganz schöne Beiträge, aber es ist unser ultimatives Rundum-Versicherungspaket.« Er stand auf, ging um den Schreibtisch herum und legte Hunt auf plump-vertrauliche Art den fleischigen Arm um die Schultern. »Ich bin stolz auf dich, mein Junge, und ich kann dir garantieren, dass du mir auf ewig dankbar dafür sein wirst. Auf ewig! Es gibt absolut nichts Vergleichbares, von keinem anderen Anbieter!«
Der Arm des Vertreters fühlte sich wie ein gepolstertes Holzscheit an. Und jetzt, wo er ihm so nahe war, glaubte Hunt auch einen Hauch des fauligen Modergestanks von vorhin wahrzunehmen.
»Was ist mit Ihnen?« Der Vertreter legte den anderen Arm um Beths Schultern und zog sie zu sich heran. »Sind auch Sie an einer zusätzlichen Versicherung interessiert? Wollen Sie den Rest Ihrer Tage - den Rest der Ewigkeit - mit Ihrem Göttergatten verbringen?«
Beth entwand sich ihm, schlüpfte unter seinem Arm hindurch. »Lassen Sie mich bloß aus dieser Sache raus«, sagte sie kalt.
Wieder stieß der Versicherungsvertreter das tiefe Glucksen aus, halb herzlich, halb höllisch. Schwer lastete seine große Hand auf Hunts Schlüsselbein. »Tja, dann wohl nur du und ich, hombre.«
Du und ich.
Der Vertreter selbst hatte diese Lebensversicherung.
Die Deluxe-Lebensversicherung.
Hunt hatte Angst, zu Beth hinüberzuschauen und sich zu verraten, doch er hoffte, dass es auch ihr nicht entgangen war: Der Vertreter hatte eine Lebensversicherungspolice, die ihn unsterblich machte. Deshalb hatte er so lange im Geschäft sein können. Deshalb hatte er den unzähligen Menschen in all den Ländern Versicherungen verkaufen können. Und deshalb setzte er Hunt und Beth und Gott weiß wen sonst noch so unter Druck. Weil er seine eigenen Beiträge bezahlen musste, die zweifellos unerschwinglich waren.
Wenn sie es dem Vertreter doch nur unmöglich machen könnten, die Beiträge zu bezahlen! Wenn sie doch nur ...
... seine Police zerreißen könnten.
Das war die Lösung!
Plötzlich verspürte Hunt einen Anflug von Überschwang und versuchte sofort, dieses Gefühl hinter einer ausdruckslosen Miene zu verbergen. Jetzt konnten sie tatsächlich etwas unternehmen. Der Versicherungsvertreter hatte eine Schwäche, und sie kannten sie. Jetzt hatten sie die Chance, diesen Hurensohn ein für alle Mal zu erledigen.
Noch während der Vertreter Hunt zum Schreibtisch führte, ein Dokument hervorholte und begann, die Konditionen der Versicherungsleistungen zu schildern, arbeitete Hunt an einem Plan, wie sie die Police des Vertreters vernichten konnten. Zuerst mussten sie die wirkliche Hauptgeschäftsstelle der Insurance Group finden, das eigentliche Büro dieser Versicherung. Dann mussten sie dort eindringen, die Police suchen und sie verbrennen. Sobald das Dokument vernichtet wäre, würde der Vertreter ... ja, was? So weit reichte nicht einmal Hunts Phantasie.
»Sie werden ewig leben«, versprach der Vertreter. »Diese Police kann nur im gegenseitigen Einvernehmen von Ihnen und der Versicherung gekündigt werden, sie kann nicht einseitig zeitweilig oder auf Dauer aufgehoben oder unwirksam gemacht werden. Nur eine Nichtzahlung der Beiträge kann diese Police vorzeitig unwirksam machen - und das würde zu empfindlichen Strafen führen.«
»Welche Strafe könnte schlimmer sein als der Tod?«, erkundigte sich Beth.
Die Miene des Vertreters jagte Hunt eine Gänsehaut über den ganzen Leib. »Es gibt viele Strafen, die schlimmer sind als der Tod. Strafen, die noch über den Tod hinaus wirksam sind. Glauben Sie mir, Sie wollen gar nicht wissen, wie die aussehen.«
Dann zwinkerte der Vertreter ihr zu und lächelte freundlich. »Falls Sie es doch wissen wollen, lesen Sie das Kleingedruckte Ihrer Police. Da steht alles drin.«
»Und wo muss ich unterschreiben?«, fragte Hunt.
Der Vertreter drehte das Dokument um und deutete auf eine Linie im unteren Drittel der Seite. »Hier. Datum und Unterschrift.«
»Das muss nicht irgendwie mit Blut gemacht werden, oder so?«
Der Vertreter lachte, und ausnahmsweise klang es tatsächlich nach echter Belustigung. Er fand diesen Gedanken wohl wirklich lustig. »Nein«, sagte er kichernd. »Nehmen Sie einfach einen Stift. Ihre Unterschrift reicht völlig. Mehr brauchen wir gar nicht.«
Hunt griff nach dem Dokument; dann nahm er sich einen Stift aus einem Stifthalter neben dem Computerbildschirm. Nach einem kurzen Blick auf Beth, die fast unmerklich den Kopf schüttelte, als wolle sie sagen: »Tu's nicht!«, setzte er den Stift aufs Papier, unterzeichnete und schrieb das Datum daneben. Hunt war es zuwider, was er tat, doch ihnen blieb keine andere Wahl, wollten sie hier lebend herauskommen. Außerdem - wenn alles glatt lief, würde das hier bald vorbei sein, und sowohl seine Police als auch die des Vertreters würde unwirksam.
»Ich würde sagen, wir sind dann hier fertig.« Der Vertreter erhob sich und schüttelte Hunt die Hand. »Danke, dass Sie vorbeigeschaut haben. Aber das nächste Mal«, wieder schien er eher für einen unsichtbaren Zuhörer zu sprechen als für Hunt und Beth, »werde ich doch lieber zu Ihnen kommen, damit Sie nicht den ganzen Weg hierher zu meinem Büro fahren müssen. Wir bieten jedem unsere Kunden eine Rundum-Versorgung und stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung. Schließlich ist es unser Ziel, Ihnen den Abschluss von Versicherungen zu vereinfachen, und nicht etwa, es uns selbst bequemer zu machen.«
Er wollte gerade hinter seinem Schreibtisch hervorkommen, um sie hinauszubegleiten, doch Hunt und Beth gingen bereits zur Tür. »Wir finden allein hinaus«, verabschiedete Beth sich knapp.
»Bis bald!«, rief der Vertreter ihnen hinterher, und dann waren sie durch die Tür und befanden sich wieder im Keller. Ohne ein Wort zu sagen, stiegen sie die Treppe hinauf und gelangten wieder an die Oberfläche. Sie schwiegen, bis sie in ihrem Wagen saßen. In Sicherheit. Oder doch nicht? Hunt wusste nicht, ob sie tatsächlich in Sicherheit waren, doch sie konnten unmöglich ihr eigenes Leben führen, wenn sie davon ausgingen, eine allwissende Versicherung würde sie vierundzwanzig Stunden am Tag beobachten.
»Er hat eine Deluxe-Lebensversicherung«, sagte Hunt, als sie die Türen zugeschlagen und verriegelt hatten. »Das hält ihn am Leben.«
»Das habe ich auch mitgekriegt. Was können wir dagegen tun? Sollen wir versuchen, das Original seiner Police zu finden und zu vernichten?«
Er lächelte. »Dein Plan gefällt mir.«
»Ich bin nicht so blöd, wie ich aussehe.« Sie legte die Stirn in Falten. »Aber warum hast du diese Police unterschrieben? Warum hast du nicht ...«
»Gewartet? Du kennst doch seine Masche. Mich hätte an Ort und Stelle ein Blitz erschlagen können - einfach nur, um zu zeigen, zu was der Kerl alles fähig ist. Keiner von uns beiden wäre jemals wieder aus dem Büro herausgekommen.«
Beth nickte. »Du hast recht.«
»Aber jetzt sind wir draußen. Und wir haben die Möglichkeit, die Police zu finden und sie vorzeitig auslaufen zu lassen.« Er ließ den Wagen an, setzte zurück, wendete und fuhr auf den Highway zu. »Aber wohin?«
Beth griff unter den Beifahrersitz und lächelte. »Na, dann wollen wir doch mal auf die Karte schauen, was?«
»Die Karte? Er hat nicht alle Kopien gekriegt?«
»Nur die, die zu Hause waren. Nicht die beiden, die wir mitgenommen haben. Ich glaube, er ist doch nicht so allwissend, wie er glaubt. Zu Hause werden wir die Kopien einscannen, und dann drucken wir ein paar tausend Exemplare.«
»Ich liebe dich«, sagte Hunt.
»Ich dich auch.«
Sie fuhren nach Norden, in Richtung Tucson.