3.


Es stellte sich heraus, dass die Hexe nicht wusste, wo sich die Hauptgeschäftsstelle der Insurance Group befand - und ihre Fehlinformationen kosteten sie alle beinahe das Leben.

Wie vereinbart erschien Manuel kurz nach Sonnenaufgang mit vollem Tank vor dem Hotel, und sie fuhren in den Dschungel, der in der anderen Richtung lag als die Hütte der Hexe - in einer raueren, sehr viel unwirtlicheren Landschaft. Dieses Mal hatte Manuel den Pick-up seines Bruders genommen, dessen Fahrerhaus ihnen allen Platz bot: zwei von ihnen saßen vorne neben Manuel, die beiden anderen auf einer schmalen, beengten Rückbank.

Hunt hielt sich am Armaturenbrett fest, als der Pick-up durch ausgewaschene Furchen holperte und auf dem Weg in die Berge immer wieder über Felsbrocken ruckelte. Die Straße, auf der sie sich befanden, sah eher aus wie ein Wanderpfad - Hunt sah keine anderen Radspuren im Erdreich, nur zahllose Hufspuren -, doch der Pick-up schaffte es, eine steile Passhöhe zu erklimmen und dann in Serpentinen an einem Kliff entlang immer weiter hinaufzufahren. Nach einer Stunde Fahrt den Berg hinauf erreichten sie eine Lichtung, auf der ein kleiner Teich, gespeist von einer sprudelnden Quelle, von den Resten der Fundamente eines uralten Bauwerks umschlossen wurde.

Manuel trat auf die Bremse und brachte den Wagen zum Stehen. Nachdem die umherspritzenden Kieselsteine zu Boden geprasselt waren, hörten sie nichts anderes mehr als das Knacken des abkühlenden Motors.

»Hier wir steigen aus«, sagte Manuel.

»Ist es das?«

»Nein, aber weiter wir können nicht fahren. Von hier an wir müssen laufen.«

»Warst du schon mal da?«, erkundigte sich Beth.

»Ja. Da hat einst eine berühmte Schlacht stattgefunden. Aber jenseits davon? Da, wohin uns Hexe schickt? Nein. Ich nur habe ihre Wegbeschreibung.«

»Meinst du nicht, wir könnten uns verirren?«, fragte Beth besorgt.

»Ist nicht weit. Das schon gehen.«

Doch Hunt gefiel das alles nicht. Er spürte, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Dieser Ort war zwar exotisch und abgelegen genug, um ihr Ziel zu sein - ein geheimer Canyon in einem einsamen Gebirge -, doch auf dem Weg spürte Hunt deutlich, dass es irgendwie ... falsch war. Die Insurance Group mochte fast so alt sein wie die Zeit selbst, doch sie war kein Produkt der bäuerlichen Kultur, sondern der Städtebauer. Die Hauptgeschäftsstelle musste sich demnach irgendwo befinden, wo es Menschen gab, und nicht hier im Niemandsland.

Zumindest Joel war der gleichen Ansicht. »Das scheint mir kein Ort zu sein, an dem eine Versicherungsgesellschaft ihre Hauptgeschäftsstelle errichtet«, sagte er. »Nicht einmal die Insurance Group.«

Dennoch folgten sie Manuel weiter. Jeder nahm eine der Feldflaschen, die er für sie mitgebracht hatte. Hunt trank, bis er nicht mehr konnte, füllte seine Flasche an der Quelle auf, verzog sich dann zum Pinkeln hinter einen Felsen und wartete, bis die anderen zum Aufbruch bereit waren.

Dann machten die fünf sich auf den Weg und folgten einem Trampelpfad durch den Canyon.

Hunt hatte damit gerechnet, sehr weit marschieren zu müssen und stundenlang durch ein Labyrinth verborgener Schluchten zu wandern, bis sie irgendwo in einer Klippe einen eingeritzten Stern und einen Felsen finden würden, der aussah wie ein Mensch. Doch schon kurz nach ihrem Aufbruch deutete Jorge nach vorn. Zwischen den Baumwipfeln hindurch, hoch oben in einer Felswand, konnten sie deutlich einen Stern erkennen, umgeben von einem Kreis. Es war ein riesiges Pentagramm, das in die Wand des Kliffs gehauen war. Hunt wusste nicht, wie man etwas Derartiges technisch hatte zustandebringen können. Das Pentagramm schien so groß zu sein wie ein mehrstöckiges Haus; um so etwas zu schaffen, musste ein gewaltiges Baugerüst benutzt worden sein. Wie so etwas möglich gewesen sein sollte, war Hunt ein Rätsel, aber das Pentagramm existierte.

»Und jetzt wir suchen nach dem Mann«, erklärte Manuel.

Kurz darauf teilte sich der Canyon. In beide Seitenarme führten Trampelpfade. Manuel führte sie auf den linken Abzweig. Der Weg, der nach rechts abbog, schien um den Berg herumzuführen, der vor ihnen lag, doch der Pfad auf der linken Seite führte leicht aufwärts, geradewegs auf das Pentagramm zu.

Er war drückend heiß, sie alle schwitzten. Hier im Dschungel schien die Feuchtigkeit an einhundert Prozent heranzureichen. Joel zog sein Hemd aus und wischte sich damit übers Gesicht; dann band er es sich um die Hüften. Die anderen Männer folgten seinem Beispiel. Beth öffnete die beiden oberen Knöpfe ihrer Bluse.

Der Canyon vor ihnen endete mit einem Mal, und der Pfad führte den nachfolgenden Hang so steil hinauf, dass sie alle zehn Minuten innehalten mussten, um wieder zu Atem zu kommen und ihre ausgetrockneten Kehlen zu befeuchten. Endlich hatten sie die Kuppe des Berges erreicht. Und dort endlich fanden sie etwas vor, das Hunt erkannte. Eine Mesa. Ein Tafelberg. Bisher waren alle Berge, die sie gesehen hatten, schroff gewesen, mit steilen Gipfeln; jetzt aber befanden sie sich auf einem flachen, wüstenartigen Plateau, das sich schier endlos vor ihnen erstreckte. Der Stern an der Felswand war zu ihrer Rechten immer noch deutlich zu erkennen - hätte er Licht abgestrahlt, hätte er das Plateau erleuchtet. Und nun sahen sie auch einen großen Felsbrocken, der aussah wie ein aufrecht stehender Soldat. Es war nicht zu erkennen, ob Wind und Wetter ihn so geformt hatten oder ob es Menschenhände gewesen waren.

»Gehen wir«, sagte Manuel.

Es dauerte länger, den Fels zu erreichen, als Hunt gedacht hatte, und bis zum letzten Augenblick war er sich nicht sicher, dass sie dort etwas finden würden. Die Fläche zwischen dem Stern an der Felswand und dem Felsbrocken, der wie ein Mann aussah, schien bloß eine leere Ebene zu sein, bewachsen mit vertrocknetem Gras.

Dann erreichten sie den Felsen, und Hunt sah, dass das Plateau dort endete. Die ganze Ebene war eine ...

beabsichtigte?

... optische Täuschung. Vor ihnen lag eine tiefe Felsspalte, und am Grunde dieser Spalte befand sich ein Garten.

Es war das Schönste, was Hunt je gesehen hatte. Der Kontrast zur Steppe ringsum hob diese Schönheit noch hervor. Unter ihnen wiegte sich ein Meer von Blumen; in sämtlichen Farben des Regenbogens wogten sie in einem unsichtbaren leichten Wind, beinahe so, als würden sie tanzen. Gewaltige, tropisch aussehende Pflanzen mit Blättern, die an Elefantenohren erinnerten, und langstielige Rosen wuchsen neben prächtigen Nelken.

Ein Gebäude sah Hunt nicht. Aber vielleicht gab es ja eine Höhle, die sie von ihrem jetzigen Standort aus nicht einsehen konnten. Hunt war immer noch nicht überzeugt, dass sie hier wirklich die Insurance Group vorfinden würden, doch der herrliche Anblick dort unten hatte ihn sofort in Bann geschlagen, und als er zu den anderen hinüberschaute, sah er, dass es ihnen genauso erging.

In die Felswand war eine Treppe gemeißelt, und am Fuß dieser Treppe konnte man in einem weißen Palisadenzaun ein Tor erkennen. Der Anblick ließ Hunt auflachen - eher aus Freude denn aus Belustigung. Er griff nach Beths Hand, und schon liefen die beiden die Treppe hinunter.

Es war Mittag, doch am Grund der Felsspalte war es so düster, als ginge bereits die Sonne unter. Hunt verstand nicht, warum. Von oben war der Garten ganz deutlich zu erkennen gewesen, und die Blumen hatten sich im hellen Sonnenlicht gewiegt, doch hier unten lag alles im tiefen Schatten, und die Klippen oben wirkten düster und trüb, als wären Sturmwolken aufgezogen.

Immer noch hielt er Beths Hand - und dann, ganz plötzlich, war sie verschwunden, und Hunt wusste nicht mehr, wo er war. Joel war gerade noch dicht hinter ihm gewesen, doch Hunt konnte sich nicht daran erinnern, seinen Freund noch einmal gesehen zu haben, nachdem sie die Treppe hinuntergegangen waren.

Ein Rascheln war zu hören, ein Flüstern, ein leises Hauchen, das irgendwie zu Hunt sprach. Eine Gänsehaut überlief ihn. Immer weiter drang dieses Flüstern in sein Ohr vor. Es war keine Sprache, und doch gab es Worte, und es gab Gedanken, und dann gab es Bilder, die zu diesen Gedanken passten, und sie schienen sich in seinem Hirn auszubreiten wie Blumen, die bald in seinem Verstand in voller Blüte standen. Plötzlich hörte er diese Laute von überall, und er schaute sich um, suchte nach Beth und Manuel, doch er konnte nichts sehen, nur hören ... und die Dinge, die er hörte, flüsterten vom Tod.

Er wollte hier raus, er musste hier raus, doch er war gefangen. Dann hatte er das Gefühl, in einen tiefen Schacht zu stürzen, und als er landete, dämpfte ein weiches Blumenmeer seinen Fall, und die Blumen berührten ihn sanft, streichelten ihn.

Dann stachen sie ihn, bissen ihn, fraßen ihn auf.

Und dann ...

Joel und Manuel zogen ihn durch das Tor hinaus und legten ihn am Fuß der Treppe ab. Neben ihm, auf der ersten Stufe, half Jorge der immer noch halb betäubten Beth, vorsichtig wieder auf die Beine zu kommen.

»Tut mir leid«, sagte Manuel. »Ich schneller hätte da sein sollen.«

»Was ist passiert?«, fragte Hunt. Seine Lippen waren trocken, seine Augen schmerzten.

»Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich es nicht gesehen hätte«, sagte Jorge ungläubig. »Das war wie dieses Mohnfeld aus Das zauberhafte Land!«

»Die Blumen haben versucht, euch einzufangen«, erklärte Manuel. »Wir haben Beth unter einem Busch gesehen, und nachdem wir sie da haben rausgeholt, wir haben dich gesehen, Hunt - ganz bedeckt von Blumen. Mich sie haben auch einzufangen versucht. Aber ich kann sie so gut nicht hören.« Er grinste. »Auf linkes Ohr ich taub.«

»Diese Hexe hat uns angelogen«, stieß Beth wütend hervor.

Manuel nickte. »Ja, sie gelogen. Sie wollte, das wir hier werden eingefangen. Vor allem du, denn die Hexe hat dein Haar.«

»Ich habe der Alten von Anfang an nicht getraut«, sagte Joel.

»Meinst du, sie arbeitet für die?«, fragte Hunt. »Für diese Versicherungsgesellschaft?«

»Sie nur arbeitet für sich selbst«, sagte Manuel. »Sie keine Verbindung zu diese Versicherung. Ich bezweifle, dass sie jemals davon hat gehört.«

Beth schüttelte den Kopf. »Aber warum sollte sie dann so etwas tun? Warum sollte sie versuchen, uns von der Spur abzulenken und uns umzubringen?«

»So ist sie nun mal«, sagte Manuel. »Denkt nicht mehr an sie. Wir schon finden eure Versicherung.«

»Aber ...«

»Denkt nicht an sie. Das nicht gut.«

Hunt schaute sich um, über das Tor hinweg und zu den Reihen der wunderschönen Blumen.

Und dann machte er sich daran, den langen Weg zum Wagen zurückzugehen.


In der Nacht kamen die Babys zurück, versuchten erneut, ihre Eltern zu strafen. Hunt wusste, dass er und Beth besser hinter ihrer Hotelzimmertür bleiben sollten, in Sicherheit; andererseits stellte sich ihm immerzu die bange Frage, wie diese Wesen überhaupt aussahen. Er stellte sie sich als Säuglinge mit boshaften Augen vor, den Mund voller Reißzähne, aber sie mochten genauso gut unsichtbar sein: Teufel ohne Gesichter. Doch er würde es niemals erfahren. Auch wenn er es gerne gesehen hätte, um endlich Gewissheit zu haben - er war vernünftig genug, nicht gegen die Regeln zu verstoßen, die man ihnen auferlegt hatte. Sie waren Gäste in diesem Land; sie wussten nichts über diese Dinge. Und wenn sie es schaffen wollten, den Versicherungsvertreter zu vernichten, mussten sie sich allein darauf konzentrieren.

Hunt hörte immer noch das Klopfen, Jammern und Zischen der Kreaturen, bis er endlich einschlief.


Am nächsten Morgen erschien Manuel mit strahlender Miene. »Glück ist mit uns, amigos! Ich mich umgehört. Einer meiner Kollegen hat ein Freund, dessen Bruder arbeitet für einen Mann, der letzte Woche sich hat umgebracht, weil er nicht mehr bezahlen konnte seine Versicherung. Ich glaube, das ist der, nach dem ihr sucht.«

»Aber wir müssen herausfinden, wo diese Versicherung ihre Geschäftsstelle hat. Wir müssen das Gebäude finden.«

»Ja, und da wir haben Glück! Der Bruder von Freund meines Kollegen hat gestern gesehen den Vertreter im Westteil der Stadt. Und am Tag davor auch. An beiden Tagen genau zur gleichen Zeit.« Manuel hielt beide Hände ausgestreckt vor sich und bewegte sie wie eine Waage. »Wenn wir hier sind, und er ist da ...«

»Dann können wir ihm folgen!«

»Si!«

In Hunt keimte Hoffnung auf. Das klang plausibel. Keine geheimen Canyons in abgelegenen Bergen, sondern ein Mann, der in der Stadt unterwegs war. Jetzt kamen sie der Sache näher ...

»Um wie viel Uhr geht er da vorbei?«, fragte Hunt.

»Zehn nach elf. Wir sollten ein halbe Stunde früher da sein - für alle Fälle.«

»Eine Stunde«, entschied Hunt.

»Eine Stunde, gut.«

Hunt schauderte. Er sah vor seinem geistigen Auge, wie der Versicherungsvertreter durch die Straßen von Tuxtla Gutierrez schlenderte, mit seinem altmodischen Hut und dem Trenchcoat, und wie er Policen verkaufte, die brave Menschen dazu brachte, Selbstmord zu begehen.

Sie hatten noch anderthalb Stunden Zeit, und so fuhren sie durch die Straßen im Westteil der Stadt und versuchten, auf eigene Faust die Insurance Group zu finden. Doch sie hatten kein Glück. Um kurz vor zehn fuhr Manuel sie zu einem modernen Gebäude, in dem die Baufirma untergebracht war, bei welcher der Bruder des Freundes seines Kollegen arbeitete. Er bat Hunt und die anderen, im Wagen zu warten, verschwand im Gebäude und kam Minuten später wieder heraus, begleitet von einem hochgewachsenen, kräftigen Burschen mit gescheiteltem Haar, der einen Anzug im Western-Stil trug.

»Das ist Guillermo«, sagte Manuel.

»¡Hola!«, begrüßte der Mann sie, trat ans Seitenfenster des Pick-up heran und fragte etwas auf Spanisch.

»Er will wissen, ob auch wir Probleme mit der Versicherung haben«, übersetzte Jorge.

»Sí«, gab Hunt sofort zurück.

Wieder fragte der Mann etwas.

»Er fragt, ob wir diese Versicherung loswerden wollen.«

»Sí«, wiederholte Hunt.

»Bueno«, sagte Guillermo, nickte entschieden, spuckte auf den Boden und redete auf Manuel ein.

Manuel antwortete ihm; dann setzte er sich wieder in den Pick-up. »Zwei Querstraßen weiter«, sagt er. »Guillermo gehen zu Fuß, wir folgen ihm mit Auto. Er zeigt uns, wo wir abstellen sollen Pick-up und sagt uns Bescheid, wenn Versicherungsvertreter kommt vorbei. Dann Guillermo geht zurück.«

»Was bekommt er für seine Hilfe?«, fragte Hunt, als Manuel den Motor anließ.

»Nichts. Das wäre Beleidigung. Er will Tod von sein Boss rächen ... sein Freund.«

Langsam rollte der Wagen die Straße hinunter und folgte Guillermo zu einer Hauptstraße; dann winkte er Manuel, den Pick-up in eine Parklücke zu lenken. Dabei überfuhr er beinahe einen streunenden Hund, der an irgendetwas kaute, das wie ein Stück rohes Fleisch aussah. Guillermo zündete sich eine Zigarette an, stellte sich an einen Zaun in der Nähe des Pick-ups und rauchte.

Sie warteten. Obwohl die Seitenfenster heruntergelassen waren, herrschte im Wagen eine stickige Hitze. Hunt döste ein, bis ihn Beths Ellenbogen in die Rippen traf. Sofort war er hellwach und sah Guillermo am Beifahrerfenster stehen. »Aquí«, sagte er leise und sprach dann in schnellem Spanisch auf Manuel ein.

»Der Mann trägt einen Koffer«, übersetzte Manuel, während er in den Innenspiegel schaute und den Motor anließ. »Da kommt er.«

Guillermo trat rasch vom Wagen zurück und verabschiedete sich. »Gracias, amigo«, sagte Manuel leise. Guillermo nickte ihm zu und machte, dass er davonkam.

Sekunden später ging der Vertreter am Pick-up vorbei.

Im Unterschied zu seinem Kollegen in den Vereinigten Staaten trug er einen der altmodischen grauen Anzüge, die bei mexikanischen Geschäftsleuten und Politikern anscheinend beliebt waren. Seine Haut war dunkel, und er trug eine Ledertasche, keinen Aktenkoffer. Hunt musste gegen das irrationale Bedürfnis ankämpfen, sich zu ducken, sich unter dem Armaturenbrett zu verstecken, bis der Mann vorbeigegangen war. Er sah nicht so kräftig und machtvoll aus wie sein amerikanischer Kollege; er war eher durchschnittlich groß und besaß die nichtssagenden Gesichtszüge, die Hunt bei der ersten Begegnung mit »seinem« Vertreter gesehen hatte.

Der Mann bog um die Ecke des Häuserblocks. Manuel setzte den Wagen aus der Parknische und folgte ihm.

»Sollten wir nicht lieber zu Fuß gehen?«, fragte Jorge. »Sind wir nicht zu auffällig? Der Kerl muss doch merken, wenn ihm ein Wagen im Schritttempo folgt.«

»Warten wir's ab. Es ist mir lieber, ihn zu verfolgen, wenn er selbst in einen Wagen steigt, als dass er plötzlich spurlos verschwindet.«

Auf der Straße drängten sich andere Fahrzeuge, und es wimmelte von Fußgängern. Das bot Manuel die Chance, dem Vertreter auf unauffällige Weise zu folgen, ohne ihn aus den Augen zu verlieren. Sie beobachteten, wie der Mann um eine weitere Straßenecke bog und sich einem seltsamen Gebäude näherte.

»Hier ich noch nicht gewesen«, stieß Manuel ungläubig hervor und schüttelte den Kopf.

In einem Labyrinth aus den verschiedensten Gebäuden in der Innenstadt von Tuxtla Gutierrez befand sich eine Senke, so groß wie drei Fußballfelder. Hunt sah, wie der Versicherungsvertreter mit forschem Schritt den Hang zum Grund dieser Senke hinunterspazierte. Manuel hielt an, und gemeinsam beobachteten sie, wie der Vertreter den Grund des Beckens erreichte und auf einen kleinen Steinbau zuging, der genau in der Mitte der freien Fläche errichtet war - die Hauptgeschäftsstelle der Insurance Group.

Das Gebäude kam Hunt seltsam bekannt vor. Dann fiel es ihm ein: Es erinnerte ihn an den »Knast«.

An dieses scheinbar zweckfreie Gebäude hatte Hunt seit dem Tag, an dem Edward und Jorge es ihm gezeigt hatten, gar nicht mehr gedacht - doch jetzt erinnerte er sich wieder an das Grauen und das klaustrophobische Gefühl, das er und seine beiden Freunde im Innern dieses Bauwerks verspürt hatten. Hunt blickte über die Schulter zur Rückbank.

»Der Knast«, sagte Jorge und nickte. »Verdammt, ich wünschte, mein Handy würde hier funktionieren. Ich würde sofort Edward anrufen und ihm sagen, er soll sich das Ding genau ansehen!«

Sie warteten zehn Minuten, um sicher zu sein, dass der Vertreter im Gebäude blieb. Gerade als sie beschlossen hatten, aus dem Wagen zu steigen und dem Mann zu folgen, kam er wieder zum Vorschein, die Aktentasche unter dem Arm. Er stieg den gegenüberliegenden Hang hinauf, wobei er den steilen Aufstieg ohne Mühe hinter sich brachte, und verschwand in einer schmalen Straße zwischen zwei Gebäuden.

Wieder warteten Hunt und die anderen ungeduldig, endlich in das Allerheiligste dieses geheimnisvollen Unternehmens vordringen zu können.

Als Hunt sicher war, dass der Vertreter nicht zurückkehrte und dass kein Mensch ...

oder ein Etwas

... herauskam, stieg er aus. Beth und Manuel folgten ihm, und auch Joel und Jorge stiegen von der Rückbank. Zu fünft gingen sie über den Kies, blieben am Rand der Senke stehen und schauten hinunter.

Es war tatsächlich ihr gesuchtes Ziel; Hunt war sich ganz sicher. Ob man von diesem kleinen Gebäude in ein Labyrinth unterirdischer Katakomben gelangte oder ob es eine Art Raum-Zeit-Anomalie darstellte, sodass sich im Widerspruch zu allen bekannten Gesetzen der Physik in diesem kleinen Bau ein riesiges Bürogebäude befand - genau hier hatte die Insurance Group ihre Zentrale. Hier hatte sie angefangen, vor all den Jahrhunderten, und hier saß sie immer noch.

Sie.

Hunt ertappte sich dabei, die Versicherung als eigenständiges Wesen zu betrachten, als wäre die Insurance Group eine lebende, vernunftbegabte Kreatur - und das traf wahrscheinlich sogar zu. Es war kein Unternehmen im eigentlichen Sinn, das Leute einstellte und Dienstleistungen anbot. Es war eher wie ein Oktopus, ein Krake, ein lebendes Wesen mit zahlreichen Fangarmen, und wenn man einen dieser Fangarme abschlug, wuchs ein neuer nach.

Hunt hatte es bisher vermieden, darüber nachzudenken, was genau sie hier eigentlich würden tun müssen. Er hatte sich ganz darauf konzentriert, die Unsterblichkeitspolice ihres Versicherungsvertreters zu vernichten, doch jetzt, wo sie hier waren und gesehen hatten, wie der hiesige Vertreter erneut in der Stadt verschwunden war, um weiteres Unheil anzurichten, wurde Hunt klar, dass er versuchen musste, sämtliche Vertreter aufzuhalten, nicht nur den, der für ihn selbst, Beth und seine Freunde zuständig war - sonst würde ein anderer dessen Platz einnehmen, und all ihre Bemühungen wären vergebens gewesen.

Hunt gab sich nicht der Illusion hin, sie könnten problemlos in dieses kleine Gebäude hineinspazieren und Jahrhunderten des Terrors einfach ein Ende bereiten. Er hatte keine Ahnung, wie sie diesen Bau zerstören konnten. Mit Sprengstoff? Wasser? Feuer? Doch Hunt wusste, dass sie so viele Unsterblichkeitspolicen vernichten mussten, wie sie nur finden konnten, und so viele Fangarme dieses Kraken abschlagen mussten wie nur möglich.

»Schon 'ne Idee, wie wir nach da unten kommen?«, fragte Beth. »Der Kerl ist da einfach runtergegangen.«

»Für mich sieht das ein bisschen zu steil aus«, sagte Hunt.

Es sah steil aus. Doch bevor sie noch länger darüber reden konnten, hatte Manuel sich auf den Boden gesetzt und sich abgestoßen, und nun rutschte er auf den Fußsohlen den staubigen Abhang hinunter. Hunt schaute Beth an.

»Machen wir 's ihm nach«, sagte sie.

Vorsichtig rutschten Hunt und die anderen den Abhang hinunter. Als Kinder waren sie auf großen Pappkartons einen Grasabhang im Park heruntergesurft, und genau daran erinnerte ihn die Rutschpartie. Doch dieser Abhang war steinig und längst nicht so glatt wie das Gras, und man kam langsamer voran.

Am Grund der Senke angelangt, klopften Hunt und die anderen sich Staub und Dreck aus der Kleidung. Ein Stück vor ihnen erhob sich das kleine Gebäude.

Vorsichtig gingen sie weiter, schauten immer wieder zum Rand der Grube hinauf, um sich zu vergewissern, dass der Versicherungsvertreter tatsächlich nicht zurückgekehrt war und nun mit schnellen Schritten auf sie zukam. Dann endlich hatten sie das kleine Gebäude erreicht. Daneben, von oben nicht erkennbar, befand sich ein Loch im Boden, das sich als Einstieg zu einer Art Schacht erwies. Er sah aus wie der Eingang zu einer Grabkammer. Fauliger Geruch schlug ihnen aus der Tiefe entgegen - der Gestank verrottender Pilze und vermodernder Kartoffeln. Hunt erkannte ihn sofort wieder, Beth ebenso.

»Das ist es«, sagte sie.

»Ich nicht gehe da runter«, erklärte Manuel ihnen. »Ich hier auf euch warten.«

Hunt nickte. Er bezweifelte, dass er selbst für lumpige zwanzig Dollar am Tag überhaupt so weit mitgekommen wäre. Er griff in seine Gesäßtasche, zog seine Brieftasche hervor und reichte Manuel fünfzig Dollar in Scheinen und weitere hundert Dollar in Travellerschecks. Der Mann war viel mehr als nur ein Fremdenführer für sie gewesen, und so viel hatte er mindestens verdient. Hunt hätte ihm mehr gegeben, doch mehr hatte er nicht bei sich.

Manuel versuchte zu protestieren. »Nein, nein.«

Hunt drückte ihm das Geld in die Hand. »Nimm schon!«

»Wir noch nicht fertig. Ich arbeite immer noch für euch!«

Hunt schaute ihn bedeutungsvoll an. »Nur für alle Fälle, damit du nicht leer ausgehst. Du verstehst?«

Manuel blickte auf das Loch im Boden, dann zu dem kleinen Gebäude daneben. Schließlich nickte er. »Ich verstehe.«

Erneut schaute Hunt auf das kleine Steingebäude und atmete tief durch. Der Eingang schien sich auf der anderen Seite zu befinden, und Hunt zögerte noch, das Gebäude zu umrunden. Er hatte Angst, zumal sie keine Waffen bei sich trugen. Er war so besessen gewesen von dem Gedanken, die Zentrale der Insurance Group zu finden, dass er keinerlei Vorbereitungen für diese Unternehmung getroffen hatte.

Er räusperte sich. »Sag mal«, sprach er dann Manuel an, »hast du ein Messer dabei? Irgendeine Waffe?«

»So was hier?«

Hunt hatte bestenfalls ein Taschenmesser erwartet, doch der Fremdenführer zog aus einer verborgen getragenen Scheide einen Dolch mit einer Klinge von fast zwanzig Zentimetern Länge.

»Ja. Das wird reichen.«

Manuel schnallte die Scheide ab, und Hunt band sie sich mit dem Gürtel um die Taille, damit er die Hände frei hatte.

»Hast du auch Streichhölzer?«, fragte er dann.

»Ich hab ein Feuerzeug mitgebracht«, sagte Jorge. Er lächelte. »Ich hab mir schon gedacht, dass du es vielleicht vergisst.«

»Danke.« Hunt steckte sich das Feuerzeug in die Tasche. »Ich schätze, wir können los.« Jetzt, wo es so weit war, verspürte Hunt eisige Furcht.

»Ich hier warten«, versprach Manuel. »Wenn du bis Einbruch der Dunkelheit nicht zurück, ich holen Hilfe.«

»Gracias«, sagte Beth.

»Ja, danke, Manuel. Du warst wirklich unser Retter. Ohne dich hätten wir das nie geschafft.«

Jorge gab dem Fremdenführer einen Klaps auf den Rücken, dann schloss er ihn in die Arme. Joel schüttelte ihm die Hand. »Du warst uns eine große Hilfe, Manuel.«

»War mir eine Freude.«

Hunt betrachtete die Gesichter ihrer kleinen, unerschrockenen Truppe. Er sah Zweifel und Furcht, aber auch Zorn und Entschlossenheit. Sie waren schlecht vorbereitet, wahrscheinlich in der Unterzahl und hatten eindeutig die schlechteren Karten als ihre Gegner, doch sie wollten sich davon nicht aufhalten lassen.

In diesem Augenblick war Hunt sehr stolz auf seine Frau und seine Freunde. Sie hatten das Richtige getan, und zumindest das konnte ihnen niemand mehr nehmen, egal, was von nun an geschehen mochte.

Hunt nickte Manuel zum Abschied zu; dann umrundeten sie das kleine Gebäude.

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