1.
Die ganze Woche war Steve ihnen allen gewaltig auf den Zeiger gegangen, und Hunt war dankbar, als endlich der Freitag kam. Auf dem Heimweg fuhr er zum Tanken. Auf der anderen Straßenseite war ein Waffle House; während Hunt den Tank füllte, schaute er hinüber und fragte sich, wer wohl um diese Uhrzeit Waffeln essen mochte. Leute auf Nachtschicht, vermutete er. Lastwagenfahrer und Lokführer. Dann schaute er zu dem Obdachlosen hinüber, der Zeitungen auf der Verkehrsinsel verkaufte, mit der die beiden Fahrbahnen der Nord-Süd-Straße geteilt wurden, und dann zur Bushaltestelle vor dem Circle K. Er runzelte die Stirn. Zwei Frauen saßen auf der Bank und warteten auf den Bus; eine der beiden kam ihm sehr bekannt vor. Hunt erkannte weder die Kleidung noch die Frisur, doch etwas an der Art und Weise, wie sie die Schultern hielt, die Kopfhaltung ...
Die Frau drehte sich nach links und zeigte ihm ihr Profil.
Es war Eileen.
Seit der Scheidung hatte Hunt sie nicht mehr gesehen, hatte nicht einmal in Erwägung gezogen, dass auch sie nach Tucson würde zurückkehren können. Doch da war sie, in einer der ärmlicheren Gegenden der Stadt, und schien auf den Bus zu warten.
Eileen wirkte alt und unglücklich, und das verschlechterte Hunts eigene Stimmung. Vermutlich hätte es seine Stimmung auch gedrückt, hätte sie blendend ausgesehen, mit einem neuen Mann und einem Baby im Schlepptau ... doch aus irgendeinem Grund war das hier noch schlimmer. Hunt hatte nicht gedacht, dass er sich noch um Eileen würde sorgen können, nicht nach dieser unschönen, erbitterten Trennungsgeschichte, doch offensichtlich war das sehr wohl der Fall. Einmal vertraut, immer vertraut, vermutete er, und unwillkürlich musste er daran denken, wie es mit ihnen beiden angefangen hatte, in diesem letzten Jahr an der High School. Sie waren zum »Paar, das wahrscheinlich am längsten zusammen bleibt« gewählt worden, und tatsächlich hatten sie jeden Augenblick gemeinsam verbracht. Eileen war schön und intelligent gewesen, Hunt beliebt und ehrgeizig, und sie beide waren jung. Die ganze Zukunft lag noch vor ihnen.
Jetzt war Eileen eine Frau mittleren Alters, und sie war allein. Hunt wurde die Frage nicht los, ob ihr Leben heute wohl anders aussehen würde, wenn sie zusammengeblieben wären. Oder wenn sie einander nie kennen gelernt hätten. Es war unmöglich zu sagen, wie viel Einfluss eine Person auf eine andere hatte; vielleicht wäre alles so oder so gekommen, wie es war. Doch Hunt hatte seine Zweifel. Vor seinem inneren Auge sah er das kluge, hübsche junge Mädchen vor sich, und es schmerzte ihn so sehr, dass er beinahe in Tränen ausgebrochen wäre.
Der Bus kam, gerade als der Tank seines Wagens voll war und die Automatik der Zapfsäule den Benzinfluss unterbrach. Hunt schaute zu, wie Eileen aufstand, ruhelos die Stufen hinaufstieg und im Bus verschwand; regungslos blieb er stehen, als der Bus sich wieder in den Verkehr einordnete und nach Osten fuhr. Erst als Hunt den Bus aus den Augen verloren hatte, hängte er die Zapfpistole ein, schraubte den Tankdeckel zu und ging bezahlen.
Dann fuhr er nach Hause zu Beth.
Und hielt sie ganz fest.
Rollender Donner und das Tropfen von Wasser im Schlafzimmer weckten sie.
Das Dach war undicht! Hunt setzte sich im Bett auf, blickte zum Digitalwecker auf der Kommode und versuchte, die Uhrzeit abzulesen. Halb drei? Halb vier? Neben ihm schaltete Beth die Lampe auf ihrem Nachttisch ein. Hunt stand auf, um den Lichtschalter umzulegen ... und rutschte fast in der Wasserlache aus, die sich auf dem Hartholzboden gesammelt hatte.
»Ach du Schande!«, rief er und umklammerte gerade noch rechtzeitig einen Bettpfosten. Dann stieg er auf Zehenspitzen durch die Wasserlache, die erstaunlich tief war - das musste schon eine ganze Weile so gehen -, und wollte gerade die Deckenlampe einschalten, als Beth ihm sagte, er solle das bloß lassen. Hunt drehte sich um und schaute zu der Stelle, auf die Beth deutete. Selbst im matten Schein ihrer Nachttischlampe konnte er erkennen, dass der Regen an zwei Stellen durchs Dach kam: über dem Lehnsessel in der Ecke des Zimmers und neben Hunts Seite des Bettes.
»Das bedeutet, der Dachboden ist nass«, erklärte sie. »Ich weiß ja nicht, ob sich das irgendwie auf die Stromleitungen auswirkt, aber ich möchte nicht, dass du 'ne Sicherung durchbrennen lässt oder dir einen Schlag einfängst.«
Hunt kannte sich mit elektrischen Leitungen nicht gut genug aus, als dass er gewusst hätte, ob diese Gefahr tatsächlich bestand, aber er wollte es nicht aus erster Hand herausfinden, also bewegte er sich vom Lichtschalter weg.
Beth war bereits aus dem Bett gestiegen und zog den Sessel ein Stück vor, sodass er nicht mehr unter der undichten Stelle stand. »Sieh mal im Wohnzimmer nach«, wies sie ihn an. »Nicht dass da auch noch was undicht ist.«
Hunt machte sich auf den Weg, schaltete im Wohnzimmer eine der Stehlampen ein und fand auch hier zwei undichte Stellen an der Decke: Von beiden tropfte es gleichmäßig, einmal auf den Couchtisch, einmal auf die Couch. Beth kam ihm hinterher. »Wir müssen das schnellstens reparieren!«, rief sie, um das Krachen des Donners zu übertönen. »Sonst sind unsere ganzen Möbel hin!«
»Das machen wir dann schon ...«
»Jetzt sofort!«
»Wir können doch jetzt niemanden hierherrufen!«, fauchte er sie an. »Es ist mitten in der Nacht! Wir müssen bis morgen früh warten.«
Beth drängte sich an ihm vorbei. »Das weiß ich auch, du Blödmann! Aber wir müssen die Möbel verrücken und Schüsseln aufstellen. Wir können doch nicht einfach wieder ins Bett gehen und alles so lassen!«
»Du hast gesagt, wir müssen es sofort reparieren!«, schimpfte Hunt.
Beth schob den Couchtisch zur Seite. »Entschuldige, dass ich mich nicht so präzise ausgedrückt habe, wie ich es hätte tun sollen. Aber mir ging es mehr um meine Möbel, die hier kaputtgehen, als um die richtige Wortwahl.«
Eine Sekunde lang warfen sie einander böse Blicke zu; dann eilten sie zu den beiden Seiten des Sofas und zogen es aus der Gefahrenzone. Gemeinsam eilten sie in die Küche und suchten nach Behältern, mit denen sie das tropfende Wasser auffangen konnten. Das war ihr erster Ehekrach gewesen, und Hunt sah an Beths Gesichtsausdruck, dass es ihr genau so leidtat wie ihm. Bevor sie sich hinkniete, um den Schrank nach Töpfen und Pfannen zu durchwühlen, nahm er sie rasch in den Arm.
»Tut mir leid«, sagte er.
»Mir auch.«
Beth fand einen Schmortopf und eine Alupfanne, die eigentlich für Truthähne gedacht war. Hunt holte währenddessen unter der Küchenspüle den Plastikeimer hervor, den Beth immer benutzte, wenn sie den Boden wischte. Damit blieb aber noch eine undichte Stelle, für die sie noch keinen Auffangbehälter gefunden hatten, also eilte Hunt zurück ins Schlafzimmer, stellte den Eimer dorthin, wo vorher der Sessel gestanden hatte, und holte den Papierkorb aus dem Bad, den er auf seiner Seite des Bettes auf den Boden stellte.
Im Wohnzimmer trafen sie wieder zusammen. In der Küche und im Badezimmer hielt das Dach, und auch im Flur sickerte nirgends Wasser durch. Die Waschküche, das Arbeitszimmer und die Gästetoilette waren ebenfalls trocken. Damit blieb nur noch ...
Beth sprach es aus: »Was ist mit dem Gästezimmer?«
»Wir sollten nachschauen«, sagte Hunt, auch wenn es das Letzte war, was er jetzt tun wollte. Draußen tobte immer noch das Gewitter, und der Flur kam Hunt mit einem Mal viel dunkler vor als gerade eben noch. Blitz und Donner vermochten jedes Haus wie ein Spukhaus aussehen zu lassen, und sie unterstrichen die ohnehin unheimliche Atmosphäre des Gästezimmers.
Die Tür stand offen ...
Hatten sie die nicht geschlossen?
... und schon von der Stelle aus, an der Hunt stand, konnte er erkennen, dass das Bett schon wieder zerwühlt war. Die Tagesdecke und das Laken lagen zusammengeknautscht am Fuße der Matratze, und so, wie beides dalag, wirkte es beängstigend, ja erschreckend. Irgendetwas stimmte da nicht. Laken und Decke lagen so, als wäre eine Gestalt darunter, die Hunt irgendwie bekannt vorkam, ohne dass er sie einordnen konnte. Es jagte ihm ein Schauder über den Rücken, und ihm stockte der Atem. Beths Hand schloss sich um die seine, und allein schon daran, wie ihre Muskeln sich verkrampften, spürte Hunt, dass Beth sich fürchtete.
Ein Blitz zuckte auf. Hunt blieb stehen und wartete - und da begriff er, dass er grauenhafte Angst vor dem hatte, was er würde sehen müssen, wenn der Blitz den Spiegel über der Kommode erhellte.
Der Blitz verlosch, der Donner rollte, und noch ehe der nächste Blitz aufzucken konnte, sprang Hunt in das Zimmer und stolperte durch die Dunkelheit, um zum Schreibtisch zu gelangen und die Lampe dort einzuschalten.
Wieder zuckte ein Blitz auf, stand als gezackte Linie am Himmel - so grell, dass er sich durch die vorgezogenen Vorhänge abzeichnete. Hunt hatte den Blick schon in Richtung Kommode gedreht, und in dem Sekundenbruchteil, ehe die Lampe aufleuchtete, sah er im Spiegel genau das, was Beth ihm beschrieben hatte: einen stämmigen Mann mit schlechter Haltung, der einen altmodischen Hut mit breiter Krempe trug. Beth sah ihn ebenfalls und schrie so schrill auf, dass Hunt zurückzuckte und beinahe die Lampe vom Schreibtisch gerissen hätte. Dann wurde das Zimmer endlich von elektrischem Licht erhellt. Im Spiegel sahen sie nur noch die Möbel und sich selbst - und was immer es gewesen sein mochte, war jetzt verschwunden.
Abrupt verstummte Beths Schrei. Sie blickte sich hastig um, als wollte sie ganz sichergehen, jetzt mit ihrem Mann allein zu sein, als wollte sie sich vergewissern, dass die Gestalt, die sie im Spiegel gesehen hatte, tatsächlich fort war. Mit weit aufgerissenen Augen schaute sie Hunt an. »Du hast es auch gesehen, oder? Im Spiegel?«
Hunt nickte bloß. Auf seine Stimme wollte er sich im Augenblick nicht verlassen.
»Ein Mann mit Hut.«
»Ja.«
Ein Blitz flackerte, Donner krachte. Lautstark prasselte der Regen gegen das Fenster. Durch Hunts Anwesenheit und den Schein der Lampe ermutigt, ging Beth zur Kommode und besah sich ausgiebig den Spiegel. Hunt nutzte derweil die Gelegenheit, die Decke zurechtzuziehen und den beängstigenden Eindruck zu beseitigen, es läge jemand darunter.
Beide gingen in unterschiedlichen Richtungen durchs Zimmer. Eine undichte Stelle gab es nicht mehr, aber ...
Aber da war immer noch irgendetwas.
Ein Geräusch, dachte Hunt. Wie ein Pfeifen.
»Hörst du das?«, fragte er. »War es das, was du gehört hast? Dieses Pfeifen?«
»Ich höre nichts ...« Dann aber verriet Beths entsetzte Miene, dass sie das Geräusch wiedererkannte: »Ja! Nur war es beim letzten Mal lauter.«
Wieder zuckte ein Blitz auf. Donner krachte.
Und das Pfeifen war verstummt.
Sie warteten, doch das Geräusch kehrte nicht zurück, und so durchsuchten sie weitere fünf Minuten lang das Zimmer, schauten in den Schrank, zogen sämtliche Schubladen der Kommode auf, sahen im Schreibtisch nach, blickten unter das Bett. Sie wollten nichts finden, sie hatten Angst, etwas zu finden, doch irgendwie schien das Absuchen des Zimmers ihm das Bedrohliche, Geheimnisvolle zu nehmen und schwächte die düstere Macht, die der Raum auf sie beide ausübte.
Rasch machte Beth das Bett richtig; dann schalteten sie das Licht aus und schlossen die Tür, machten sich daran, das Wasser aufzuwischen und überprüften die Töpfe, Schüsseln und Eimer, dass diese nicht voll waren und womöglich überliefen. Entweder hatte der Regen nachgelassen, oder es war mit dem undichten Dach doch nicht so schlimm, wie sie zunächst gedacht hatten, denn jetzt tropfte es nur noch langsam und ungleichmäßig. Falls es bis zum Morgengrauen nicht deutlich schlimmer wurde, würden die Gefäße, die sie aufgestellt hatten, mit Leichtigkeit mit dem Problem fertig.
»Vielleicht sollten wir wach bleiben«, schlug Beth vor. »Uns einen Film anschauen oder so was. Aufpassen, dass nicht noch woanders etwas durchsickert.«
»Es ist drei Uhr nachts! Wenn wir nur drei Stunden schlafen, gehen wir morgen früh auf dem Zahnfleisch!«
»Und wenn es wieder schlimmer durchs Dach regnet?«
»Was willst du denn machen? Die ganze Nacht an die Decke starren? Dann wirst du schneller einschlafen als mit 'ner Tablette. Außerdem glaube ich, dass das Gewitter so ziemlich vorbei ist.«
Er hatte recht. Der Regen hatte fast aufgehört, und das letzte Grollen des Donners erklang bereits aus weiter Ferne.
»Ich weiß nicht ...« Beth gähnte.
»Siehst du?«, sagte Hunt. »Gehen wir wieder ins Bett.«
Doch er wälzte sich unruhig hin und her, wachte immer wieder auf, schlief vielleicht zwanzig Minuten am Stück. Und in dem einen Traum, an den er sich nach dem Aufstehen erinnerte, schaute ein großer Mann mit schlechter Haltung, der einen Hut trug, unter dessen Krempe sein Gesicht nicht zu erkennen war, auf die Uhr und sagte im Singsang der Südstaaten: »Halb Affenarsch, viertel vor Ho-den-sack.«