SIEBEN


Der Versicherungsvertreter stand vor dem Tresen; in seiner hoch zugeknöpften Weste mit der goldenen Taschenuhr sah er wie ein Schaffner in einem Zug aus dem Viktorianischen Zeitalter aus. Dolores Bessett tat so, als würde sie weiterhin die Kassenbons des Tages zusammenzählen. Sie wollte den Versicherungsvertreter nicht anschauen, wollte nicht einmal daran denken, dass er ihr zuhörte.

Sie hatte Angst vor ihm.

Es stimmte, auch wenn Dolores selbst nicht wusste, warum. In den zehn Jahren, seit sie ihr eigenes Geschäft eröffnet hatte - wenn man die winzige Buchhandlung, deren Geschäftsräume kaum mehr als ein Loch in einer Wand waren, als »Geschäft« bezeichnen konnte -, hatte sie täglich mit echten Problemfällen zu tun gehabt: obdachlose Schnorrer, aufdringliche Verkäufer, Pädophile, die Kinderfotos aus alten Bildbänden ausschnitten, Spinner, die sich in ihrer Kundentoilette einen runterholten. Aber keiner von denen hatte Dolores jemals verängstigt oder eingeschüchtert.

Nur dieser Versicherungsvertreter.

Einen erkennbaren Grund dafür gab es eigentlich nicht. Trotz seiner etwas ungewöhnlichen Bekleidung sah der Mann genau nach dem aus, was er war: Versicherungsvertreter. Er hatte dieses weiche, teigige, blasse Gesicht, das so typisch war für Männer mittleren Alters im Dienstleistungsgewerbe, und seine Stimme und sein Auftreten waren verbindlich und freundlich und ließen darauf schließen, dass er ein uninteressantes, nüchternes Leben führte. Dennoch: Immer, wenn er hereinkam, bekam Dolores eine Gänsehaut. Sie wünschte sich, es würde noch ein Kunde kommen, der auf die letzte Minute schnell noch etwas kaufen wollte, oder ein Junge von der High School, der einen Job suchte, oder der Mann vom UPS oder ... irgendwer.

Doch Dolores blieb mit dem Versicherungsvertreter alleine im Geschäft und tat weiterhin so, als wäre sie mit Feinheiten der Buchhaltung beschäftigt, während der Vertreter sie zu überreden versuchte, ihre Versicherung aufzustocken.

»Was Sie brauchen, ist eine Betriebsversicherung«, erklärte er gerade. »Eine Versicherung für einen Kleinbetrieb. Das schließt Haftung ein, Besitz, Unfallentschädigungen für Angestellte, Krankenversicherung, Lebensversicherung, Arbeitsunfähigkeit und alles, was noch so dazugehört. Wahrscheinlich haben Sie jeden Cent Ihres Ersparten in diesen Laden gesteckt, und ein einziges Streichholz an der falschen Stelle oder eine Meute Jugendlicher, die mutwillig alles zerstören, und schon könnten Sie Konkurs anmelden und sich bei Wal-Mart um einen Job bemühen. Das alles lässt sich vermeiden ...«

Dolores faltete den Kassenabschluss-Ausdruck zusammen und legte ihn in die Stahlkassette, die zu ihren Füßen stand; dann drehte sie das Schild im Fenster herum, sodass es jetzt nicht mehr GEÖFFNET, sondern GESCHLOSSEN zeigte. Als Dolores den Versicherungsvertreter dann zum ersten Mal anblickte, seit er angefangen hatte, seine Sprüche herunterzubeten, versuchte sie so geschäftsmäßig zu wirken wie nur möglich. »Wir haben jetzt geschlossen. Ich fürchte, wir müssen jetzt gehen.«

Er lächelte sie an. »Wir?«

Dolores schoss das Blut ins Gesicht. Ihre Stimme hatte nicht nervös geklungen, sondern fest und selbstbewusst, doch dieser Versprecher hatte sie verraten. Nie zuvor hatte sie versucht, in den Gesprächen mit diesem Versicherungsvertreter die Oberhand zu gewinnen; stets hatte sie sich beinahe unterwürfig gezeigt und war immer auf ihn eingegangen. Nun war gleich der erste Versuch gescheitert, sich offen gegen ihn aufzulehnen. »Sie«, verbesserte sie sich und hoffte, diesen Lapsus ausmerzen zu können. »Sie werden gehen müssen.«

Sein Lächeln wurde noch breiter, und vielleicht war es doch nicht so verbindlich, doch nicht so freundlich. »Sie werden eine Kleinbetriebsversicherung abschließen müssen.«

»Hören Sie mal«, versuchte Dolores an seinen gesunden Menschenverstand zu appellieren. »Ich habe keinen einzigen Angestellten. Also brauche ich auch keine Versicherung für die Unfallentschädigungen von Angestellten und all die anderen Dinge, die Sie aufgezählt haben. Ich bin wirklich ausreichend versichert. Sie haben mir all diese Versicherungen doch verkauft.«

»Ja. Und nachdem ich noch einmal analysiert habe, was Sie alles benötigen, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Sie eine Kleinbetriebsversicherung brauchen.«

Dolores' Herz hämmerte, doch sie ging um die Theke herum und an ihm vorbei, öffnete die Eingangstür und klimperte mit dem Schlüssel, den sie bereits in der Hand hielt. »Die kann ich mir im Augenblick nicht leisten.«

»Sie können es sich nicht leisten, diese Versicherung nicht abzuschließen.«

»Ich kann es mir nicht leisten«, wiederholte Dolores, diesmal mit festerer Stimme. »Und der Laden ist jetzt geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«

Er nickte ihr zu, auf eine Art und Weise, die respektvoll sein mochte, aber genauso gut auch herablassend. »Also gut«, sagte er. »Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.« Er lächelte ihr zu, nickte und trat auf den Bürgersteig hinaus.

Rasch schloss Dolores die Tür hinter ihm ab. Ihre Handflächen waren schweißnass, ihr zitterten die Hände. Sie musste mehrmals tief durchatmen, um genügend Luft in die Lunge zu saugen, als hätte sie mehrere Minuten lang den Atem angehalten. Auf dem Tresen, das bemerkte sie erst jetzt, hatte der Vertreter eine Broschüre liegen lassen, in der für »Betriebsversicherungen für Kleinstbetriebe« geworben wurde. Dolores knüllte sie zusammen und warf sie in den Papierkorb.

Dann nahm sie wieder den Kassenabschluss-Ausdruck aus der Stahlkassette und rechnete die Beträge dieses Mal wirklich zusammen - nicht, dass es viel zusammenzurechnen gegeben hätte. Dann überprüfte sie noch einmal das Bargeld, ehe sie alles wieder in die Kassette legte, das Licht ausschaltete und durch den Hintereingang des Ladens hinausging. Die Kassette und ihre Handtasche legte sie in ihren Wagen, überprüfte jeweils zweimal die Vorder- und die Hintertür, um sicherzugehen, dass wirklich alles abgeschlossen war. Dann machte sie sich auf den Heimweg.

Erst als sie die Auffahrt zu ihrem Apartmentkomplex erreicht hatte, begriff Dolores, dass sie die Kiste mit den Fawcett-Taschenbüchern aus der »Gold-Medal«-Ausgabe vergessen hatte, die sie einem Stammkunden zu einem geradezu unverschämt günstigen Preis abgekauft hatte. Dolores hatte Hunger und war müde und wollte sich eigentlich eine Lasagne aufwärmen, sich vor den Fernseher setzen und die Wiederholung von Friends anschauen. Aber wenn Dolores die Bücher nicht an diesem Abend mitnahm, würde sie sie frühestens morgen Abend bei eBay einstellen können, und sie benötigte so schnell wie möglich eine Finanzspritze.

Das Internet war wirklich ein Gottesgeschenk, wenn es darum ging, Bücher mit Sammlerwert loszuwerden. Bücher, die Monate, vielleicht sogar Jahre in ihrem Laden gestanden hätten, ehe sie einen Käufer fänden, ließen sich jetzt innerhalb von Wochen, manchmal sogar Tagen verkaufen.

Die Sonne ging nun rasch unter; die Rincons im Osten waren bereits im Dunkel der Nacht verschwunden, und die Tucson Mountains waren kaum mehr als ein schwarzer Schatten vor dem orange gefärbten Abendhimmel. Als Dolores zum Laden zurückkam, war es fast dunkel. Sie stellte den Wagen gleich am Bürgersteig ab, weil sie keine Lust hatte, bei Nacht durch die Nebenstraße zu fahren und das Auto auf den kleinen Parkplatz dahinter zu setzen.

Sie stieg aus und schloss die Tür ab. Erst da sah sie die Bewegung im Laden.

Wie angewurzelt blieb sie stehen und starrte vom Bordstein aus in ihr Geschäft hinein, durch das Schaufenster hindurch ... und plötzlich klopfte ihr Herz so heftig, dass sie spürte, wie ihr das Blut in den Ohrmuscheln pulsierte. In ihrem Laden wütete eine Bande von vier Jugendlichen. Ganz offen, sodass jeder, der vorbeiging, es hätte sehen können, warfen sie sich quer durch den Laden Bücher zu, rissen Seiten heraus und stießen den Inhalt ganzer Regalbretter auf den Fußboden. Nur dass es gar nicht alles Jugendliche waren: An der Wand dem Eingang gegenüber stand ein stämmiger Mann mit auffallend schlechter Haltung und einem altmodischen Hut mit breiter Krempe. Über die Entfernung konnte Dolores sein Gesicht nicht erkennen - sie sah kaum mehr als seine Silhouette -, doch sie wusste, dass dieser Mann älter war als der Rest der Bande und dass er diese Zerstörungsorgie initiiert hatte.

Dolores wollte in den Laden stürzen, sich den Baseballschläger schnappen, der stets hinter dem Tresen lag, wollte auf die Mistkerle einprügeln und sie anschreien, sie sollten auf der Stelle ihren Laden verlassen.

Wahrscheinlich hätte sie genau das auch getan.

Doch der Mann mit dem Hut machte ihr Angst.

Er ängstigte sie auf die gleiche Art und Weise wie der Versicherungsvertreter, tief in ihrem Innersten, und so ertappte Dolores sich dabei, wie sie sich lautlos zurückzog, vom Bürgersteig herunter auf die Straße, und sich dabei immer im Schatten hielt, während sie zu ihrem Wagen zurückschlich.

Die Mistkerle fingen jetzt an, die Regale umzureißen. Das erste brachte zwei weitere zum Umsturz wie riesige Dominosteine.

Ich glaube, ich hätte doch diese Versicherung abschließen sollen, dachte Dolores verzweifelt.

Der Mann an der Rückwand des Ladens rührte sich immer noch nicht.

Dolores startete den Wagen und ließ ihn, ohne die Scheinwerfer einzuschalten, auf die Fahrbahn rollen. Sie wollte nicht gesehen werden. Erst als sie das andere Ende des Häuserblocks erreicht hatte, ließ sie die Scheinwerfer aufflammen.

Dann bog sie nach rechts ab und fuhr geradewegs zur Polizeiwache.

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