2.


Ich schlitz dir die Kehle auf, du miese alte Schlampe!

Beth las den Brief, dann zerriss sie ihn und warf ihn fort. Sie war wütend und verängstigt zugleich. Schon seit einigen Wochen erhielten sie Drohbriefe, auch wenn sie Hunt bis jetzt noch nichts davon gesagt hatte, dass sie derartige Briefe mittlerweile auch auf der Arbeit erhielt. Und die waren noch erschreckender, noch bösartiger. In einem dieser Schreiben hatte man ihr angedroht, sie mit einer Gurke zu vergewaltigen und sie diese Gurke dann essen zu lassen, »damit du mal zu schmecken kriegst, wie es ist, vergewaltigt zu werden«. In einem anderen Brief hatte man ihr versprochen, sie auszuweiden und ihre Eingeweide den Schweinen zum Fraß vorwerfen.

Sie dachte an den Brief, den sie gerade eben zerrissen hatte. Er war per Post gekommen, natürlich ohne Absender; er war nicht über die Hauspost zugestellt worden. Dass das Wort »Schlampe« falsch geschrieben war, erschien Beth allerdings sonderbar, und auch wenn sie keine Profilerin war, sondern nur im Fernsehen solche Fälle verfolgte, glaubte sie, dass dieser Fehler ein bewusster Versuch des Briefeschreibers war, sie zu der Vermutung zu verleiten, den Drohbrief habe jemand abgefasst, der weniger gebildet sei.

Und das bedeutete, dass es wahrscheinlich einer ihrer Kollegen hier war.

All den Briefen lag die Annahme zugrunde, Beth würde Kindesmissbrauch gutheißen und ihm Vorschub leisten, weil sie zu ihrem Ehemann stand. Die Schreiben, die sie zu Hause erreichten, richteten sich fast alle gegen Hunt: In der Mehrzahl waren es Morddrohungen, teilweise mit ziemlich bildhaften Beschreibungen von Folterungen und sexuellen Verstümmelungen. Weder Hunt noch Beth hatten eine Vorstellung, warum diese Briefe jetzt plötzlich eintrafen, doch sie waren sich ziemlich sicher, dass radikale Kinderschutzgruppen sie zum Ziel einer Brief- und E-Mail-Kampagne erkoren hatten.

Es würde sie nicht überraschen, wenn sie herausfänden, dass der Versicherungsvertreter oder seine Gesellschaft dahintersteckten.

Vielleicht würde man ihnen ja bald eine Postversicherung anbieten ...

Und eine E-Mail-Versicherung.

Es war erstaunlich, wie rasch ihre Wahrnehmung der Welt sich geändert hatte, wie schnell Hunt und sie sich daran gewöhnt hatten, dass es darin Platz gab für eine allmächtige Versicherungsgesellschaft. Derzeit gab es nur wenig in ihrem Leben, das nicht irgendwie mit Versicherungen zu tun hatte.

Edward hatte Hunt gegenüber die Theorie geäußert, ihre derzeitige Technik, immer schneller seltsame und eigentlich ungewollte Versicherungen abzuschließen, hinge mit ihren bisherigen Versicherungsproblemen zusammen. Eine derartige Schlussfolgerung war unvermeidlich, ließ aber eine noch viel ausgedehntere Verschwörung vermuten: nicht nur eine Tretmühle, in die sie aus Versehen hineingeraten waren, sondern eine alles durchdringende Verschwörergruppe von Versicherungen, die sie aufs Korn genommen hatte und versuchte, sie zu rekrutieren. Hunt und Beth hatten die möglichen Implikationen immer wieder durchgekaut - und immer wieder waren sie genau dort geendet, wo sie angefangen hatten: in einem Zustand des Trübsinns und der Hoffnungslosigkeit und unfähig, sich eine Möglichkeit zu überlegen, sich aus dieser Falle zu befreien.

Fünf Briefe ohne Absender, mit absichtlich nichtssagenden Druckbuchstaben beschriftet, lagen im Briefkasten, als Beth nach Hause kam. Nur Augenblicke später erreichte auch Hunts Wagen die Auffahrt, und gemeinsam schauten sie die E-Mails durch. Fünfundfünfzig Mails, alle mit so hübschen Betreffzeilen wie »Verrecke!« und »Kinderschänder schmoren in der Hölle«.

Hunt löschte die Mails ungeöffnet.


Am nächsten Tag wurde Beth gefeuert.

Sie hatte damit gerechnet, den Job zu verlieren, seit sie die Arbeitsplatzversicherung abgelehnt hatte, doch das Timing überraschte sie nun doch. An einem Donnerstag? Hätte man sie gefragt - Beth hätte vermutet, es werde an einem Montag oder einem Freitag geschehen.

Und auch die Art und Weise der Kündigung war überraschend. Beth betrat ihr Büro und musste feststellen, dass ihr gesamter Privatbesitz aus den Regalen und dem Schreibtisch genommen und in Kisten verpackt worden war, die jetzt fein säuberlich auf ihrem Schreibtisch aufgestapelt waren. Neben den Kisten lag ein versiegelter Briefumschlag, auf den ihr Name aufgedruckt war; darin fand sie ein Kündigungsschreiben und ihren letzten Gehaltsscheck.

Das Kündigungsschreiben war von Earl Peters unterschrieben, dem Personalchef von Thompson Industries. Beth beschloss, ihn in seinem Büro aufzusuchen und zu zwingen, ihr die Kündigung geradewegs und persönlich ins Gesicht zu sagen, statt diesen feigen Ausweg zu wählen. Zu verlieren hatte Beth ja nichts. Sie hatte keine Arbeitsplatzversicherung abgeschlossen, also bezweifelte sie, dass irgendeine andere Firma oder irgendein anderes Institut sie einstellen würde, vor allem mit dem schlechten Empfehlungsschreiben, das sie - das wusste Beth genau - von Thompson Industries erhalten würde, trotz jahrelanger Verdienste und ausgezeichneter Arbeit. Ob Beth sich jetzt leise verzog oder mit Glanz und Gloria das Haus verließ: Sie würde sowieso nie wieder einen Job finden, bis sie diese Versicherungsgesellschaft besiegt und dieser ganze Wahnsinn endlich ein Ende hatte.

Bis sie diese Versicherungsgesellschaft besiegt hatte?

Ja. Beth wusste nicht wie, sie wusste nicht wann, aber ihr wurde klar, dass ihr unausgesprochenes Ziel die Zerstörung dieser Versicherung war. Das war das Ende, das Beth sich vorstellte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie dabei vorgehen sollte - sie war schließlich keine schneidige Heldin in einem Roman -, doch genau das würde letztendlich geschehen, davon war Beth überzeugt. Wenn die Zeit kam und sich eine Gelegenheit bot, würden Hunt und sie handeln, ohne zu zögern.

Erneut betrachtete sie das Kündigungsschreiben, sah die hastig dahingeschmierte Unterschrift von Earl J. Peters und sagte sich, dass das jetzt ein guter Zeitpunkt war, ein wenig an ihren Kampftechniken zu feilen. Den Brief in der Hand, verließ sie mit festen Schritten entschlossen ihr Büro.

Offensichtlich war die Nachricht bereits allgemein bekannt. Auf dem Flur begegneten ihr kaum unterdrücktes Hohnlächeln und belustigtes Geflüster. Sie hörte, wie irgendein Mann das Wort »Hexe« aussprach; dann hörte sie: »Hure!« Kurz bevor sie den Fahrstuhl erreicht hatte, kam Stacy auf sie zugelaufen. In Tränen aufgelöst, schloss sie Beth in die Arme. »Wie können die das tun? Ich weiß überhaupt nicht, wie ich ohne dich weitermachen soll!«

Beth spürte plötzlich, dass auch ihr die Tränen in die Augen zu steigen drohten. Sie löste sich aus der Umarmung ihrer Freundin, wollte nicht weinen, musste ihre Anspannung, ihre Wut aufrechterhalten. »Ich ruf dich nachher an«, sagte sie. »Wir reden heute Abend drüber.«

»Aber ...«

»Ich kann jetzt nicht.« Beth strich sich vorsichtig mit einem Fingernagel über das Auge. »Ich kann es einfach nicht.«

Stacy nickte. Sie verstand. »Wohin gehst du?«

»Zum Fettsack rauf.«

Ihre Freundin nickte und versuchte, trotz ihrer Tränen ein Lächeln zustande zu bringen. »Mach ihn fertig.«

Das tue ich, schwor sich Beth. Das tue ich.


Schwungvoll machte Edward seine Übungen. Er lächelte, unterhielt sich und tat sein Bestes, die hübsche kleine Physiotherapeutin zu beeindrucken, die das Krankenhaus zu ihm geschickt hatte. Doch kaum hatte sie ihm wieder ins Bett geholfen, ihm die Spritze verpasst und das Haus verlassen, sank er elendiglich und besiegt auf dem Kissen in sich zusammen.

»Erschießt mich doch einfach«, sagte er laut.

Er lag auf dem Bett, zu müde, um auch nur den Fernseher anzumachen. Er konnte die unerträglichen Schmerzen seiner zahlreichen Verletzungen spüren, und die ihm verbliebenen Muskeln waren völlig überanstrengt und wund. Einige Sekunden lang schloss Edward die Augen und hoffte, einschlafen zu können, doch es ging ihm zu schlecht, um auch nur zu dösen, und so schlug er die Augen wieder auf. Mit einem tiefen Seufzen spürte er den stechenden Schmerz im Brustkorb.

Das würde ein verdammt langer Nachmittag werden.

Ungefähr zum millionsten Mal blickte er sich in seinem umfunktionierten Wohnzimmer um. Er war diesen Raum leid, er war seine Möbel leid, er war seine ganze Einrichtung leid! Sobald er wieder auf den Beinen war, würde er das ganze verdammte Haus von Kopf bis Fuß renovieren.

Die Dinge sind nicht, was sie zu sein scheinen.

Er schloss die Augen wieder. Nein, nicht das jetzt.

Die Dinge sind nicht, was sie zu sein scheinen.

Dieser Gedanke war ihm in den letzten Wochen immer wieder durch den Kopf gegangen ... und jedes Mal schien er an Gültigkeit zu gewinnen.

Die Dinge sind nicht, was sie zu sein scheinen.

Edward wusste, dass dieser Gedanke verrückt war, paranoid, und doch wurde er das Gefühl nicht los, etwas an seinem Haus sei anders als früher. Irgendetwas stimmte einfach nicht. Er erinnerte sich daran, einmal eine Geschichte gelesen zu haben, in der mitten in der Nacht sämtliche Besitztümer einer Familie gegen vollkommen identische Gegenstände ausgetauscht worden waren - und genau so fühlte es sich an.

Nur ...

Nur dass es nicht ganz stimmte. Das hier waren seine Besitztümer, das wusste er, nur kam es ihm so vor, als wären sie irgendwie ... verdorben.

Ja. Genau das war es. Natürlich hatte Edward keinen sechsten Sinn, konnte keine Flecken sehen oder riechen oder fühlen, die diese Hut tragenden Schreckgespenster auf seinen Möbeln hinterlassen hätten - auf seiner ganzen Einrichtung. Doch das Filmplakat zu Teufelskerle auf heißen Feuerstühlen an der Wand erschien ihm jetzt regelrecht bösartig, und Edward war überzeugt, dass die Schubladen in seiner Kommode mehr enthielten als nur Kleidung.

Er dachte an die Männer, die er im Baum und rings um die Leiter gesehen hatte.

Die Zähne.

Er erinnerte sich an die Zähne.

Edward war dankbar, als Hunt und Joel ihn besuchen kamen.

»Wie kommt es eigentlich, dass man in letzter Zeit immer wieder das Wort ›Pferderosshaar‹ hören muss?«, fragte er, als die beiden die Haustür aufschlossen und hereinkamen. »Die bewerben im Fernsehen Bürsten mit echtem ›Pferderosshaar‹! Es gibt Pferdehaar und Rosshaar, aber von Pferderössern habe ich noch nie gehört. Wie kommt man auf so einen Schwachsinn? Meinen die Werbefritzen, das würde besser klingen?«

Hunt lachte, während er den Haustürschlüssel wieder unter die Fußmatte schob. »Ich sehe, du nutzt deine Zeit zum Philosophieren.«

»Ich kann mir ja nicht den ganzen Tag bloß Daily Soaps ansehen.«

Joel ging in die Küche und holte ihnen allen Bier. Eines davon warf er Edward zu. »Wie läuft's mit den Übungen?«

Er zuckte mit den Schultern. Oder versuchte es zumindest. »Geht so.«

»Irgendwelche Fortschritte?«

»Diese ausgesucht hübsche Maus, die sie mir für die Physiotherapie vorbeischicken, behauptet Ja. Aber um ehrlich zu sein, ich merke keine.«

»Was meinst du, wie lange es noch dauert, bis du dich wieder alleine bewegen kannst?«, fragte Hunt nach.

»Viel zu lange«, seufzte Edward. »Viel zu lange.«

Sie sprachen über alles Mögliche. Hunt fasste die neuesten Gerüchte zusammen, die beim Landschaftspflegeamt kursierten, und Edward erzählte, am vorangegangenen Abend habe Jorge noch bei ihm vorbeigeschaut.

»Ich hab ihn auch gesehen«, sagte Hunt. »Ist kurz bei uns vorbeigekommen und hat gesagt, dass er nächste Woche wieder zur Arbeit kommt. Gott sei Dank. Ich glaube nicht, dass es gut für ihn ist, den ganzen Tag mit Ynez und dem Baby nur zu Hause zu sitzen und immer nur zu grübeln. Seien wir doch mal ehrlich: Es muss schon hart genug sein, so etwas durchmachen zu müssen, und dann kommen noch all das Gerede und die ganzen Verdächtigungen dazu, und zu guter Letzt droht sogar noch eine ganze Klageflut.«

Edward senkte die Stimme. »Habt ihr ... das Baby schon gesehen?«

»Nein.« Hunt schüttelte den Kopf. »Ich schätze, er wird ihn ... sie uns zeigen, wenn die beiden so weit sind.« Er zuckte mit den Schultern. »Oder vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht.«

»Wir wussten nicht mal, wie wir reagieren sollten«, gab Joel zu. »Sollte man ihm gratulieren oder sein Mitleid ausdrücken? Stacy ist dann auf die Idee gekommen, Hunt ein Paket Windeln für die beiden mitzugeben.«

Hunt und Joel blieben noch eine Stunde und versprachen, beim nächsten Mal ihre Frauen mitzubringen. »Bist du ansonsten ordentlich ausgestattet?«, fragte Hunt. »Soll ich mal einkaufen fahren oder so was?«

»Heute nicht. In ein paar Tagen vielleicht.«

»Na gut. Wir sehen uns später.«

»Bis später«, verabschiedete sich auch Joel.

Hunt wollte gerade aufbrechen, blieb dann aber stehen. Eine lange Pause folgte. Er schaute Edward an. »War er hier?«

Edward wusste genau, von wem sein Freund redete. »Nein«, antwortete er.

»Irgendwelche Angebote übers Telefon? Irgendwelche Flugblätter im Briefkasten?«

»Noch nicht ... klopf auf Holz!«

Hunt nickte, wollte gerade noch etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders und warf Edward ein fast normales Lächeln zu. »Bis später dann.«

»Wir sehen uns. Und danke, dass ihr vorbeigekommen seid. Euch beiden.«

Edward lauschte, wie sie die Haustür abschlossen, hörte ihre Schritte auf dem Betonboden, das Klappen von Hunts Autotüren, den Motor des Saab und leise Musik aus dem Autoradio. Dann waren seine Freunde fort.

Er war ganz allein.

Die Dinge sind nicht, was sie zu sein scheinen.

Nicht schon wieder. Edward griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein.

Und versuchte, nicht zu seinem Teufelskerle auf heißen Feuerstühlen-Poster zu blicken.

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