3.


Das Haus wirkte leer, jetzt, wo Hunt fort ...

im Gefängnis

... war. Stacy hatte angerufen, um ihr zu sagen, wie leid ihr alles tat, und das hatte Beth ein wenig aufgeheitert. Aber sie hatte keine ihrer anderen Freunde angerufen, weil sie nicht wusste, was sie hätte sagen sollen. Hallo, ich bin ziemlich niedergeschlagen, weil mein Mann wegen Kindesmissbrauchs festgenommen worden ist? Noch nie im Leben hatte Beth sich so einsam gefühlt, und als sie ihre Mutter in Las Vegas angerufen hatte - einfach nur, um sich noch bei jemandem ausweinen zu können -, bekam sie bloß ein scharfzüngiges »Wie gut kennst du ihn denn nun wirklich?« zu hören.

»Gut genug, um zu wissen, dass er das nicht getan hat«, antwortete Beth, bevor sie auflegte - und das stimmte auch. Der einzige Trost an diesem entsetzlichen, höllischen Tag bestand darin, dass sie von Hunts Unschuld absolut überzeugt war. Sie verspürte nicht den Hauch eines Zweifels.

Und ebenso sicher war sie sich, dass dieser Versicherungsvertreter irgendetwas mit diesen erlogenen Anschuldigungen zu tun hatte. So verrückt es für einen Außenstehenden auch klingen mochte: Sie beide zweifelten nicht einen Augenblick daran, dass man ihnen hier nur einen Denkzettel verpassen wollte, dass sie dafür bestraft wurden, eine Versicherung nicht abgeschlossen zu haben, die sie nicht wollten und an deren Wirksamkeit sie nicht geglaubt hatten.

Das war ihr eigentliches Vergehen. Sie hatten nicht geglaubt. Deshalb mussten sie nun diese Tortur durchstehen; deshalb wurden sie drangsaliert.

Warum hatte sie nicht von Anfang an auf Hunt gehört? Warum hatte sie diesen Vertreter überhaupt ins Haus gelassen? Warum hatte sie darauf bestanden, unbedingt eine Versicherung bei ihm abzuschließen?

Beth kuschelte sich auf dem Sofa an Courtney. Die Katze schnurrte und drückte Beth die feuchte Schnauze gegen die Hand.

Ob nun aus Verlegenheit oder aus dem Bedürfnis heraus, seine Familie nicht mit derartigen Problemen zu belasten, hatte Hunt Beth ausdrücklich verboten, seine Eltern anzurufen. Und auch, wenn Beth es ihnen unbedingt erzählen wollte und genau wusste, dass die beiden sofort gekommen wären, um für ihren Sohn da zu sein - und wahrscheinlich jede Menge dringend benötigte Erfahrung in dieses Gefecht hätten einbringen können -, achtete Beth seine Wünsche und unterließ es, sie zu informieren, auch wenn sie wusste, dass es falsch war.

Und so war sie jetzt ganz alleine im Haus.

Nur sie und Courtney.

Und das Gästezimmer.

Das Gästezimmer hatte in den letzten beiden Nächten eine geradezu mystische Bedeutung erhalten. Beth machte es nicht direkt für das verantwortlich, was hier geschah, doch es war ein Symbol für alles, was passieren konnte - ein Symbol dieses widernatürlichen, paranormalen Reiches, das den Versicherungsvertreter und alles umfasste, was er mitgebracht hatte.

Weil es in diesem Zimmer spukte.

Das hatte Beth nie aus den Augen verloren. Tag und Nacht war sie sich dessen bewusst, besonders in den letzten beiden Nächten, die sie alleine im Haus verbracht hatte. Einen Großteil der Zeit hatte sie in der Küche verbracht, so weit vom Gästezimmer entfernt wie nur möglich; und wenn sie abends zu Bett ging, ließ sie im Bad das Licht brennen, den Fernseher im Wohnzimmer laufen und die Tür zum Gästezimmer geschlossen und verriegelt. Auch jetzt hielt Beth sich nur deshalb im Wohnzimmer auf, weil Courtney dort war, und sie war so nervös, dass sie immer wieder zum Flur hinüberschaute und sich wünschte, sie hätte dort das Licht eingeschaltet, ehe die Sonne untergegangen war.

Das Telefon klingelte, und sie zuckte heftig zusammen. Mit zitternder Hand griff sie nach dem Hörer und wollte schon »Hallo« sagen, als sie am anderen Ende der Leitung etwas hörte, und das war keine Stimme. Es war noch nicht einmal menschlich. Es war ein leises Pfeifen, wie ein fast leerer Teekessel. Beth stand auf und ließ den Hörer fallen, zog sich langsam vom Telefon zurück.

Aus dem Gästezimmer rief jemand an.

Aber im Gästezimmer gab es kein Telefon.

Aus dem hin- und herbaumelnden Hörer und vom anderen Ende des Flures - in Stereo - hörte sie, wie der pfeifende Laut sich langsam zu immer schrilleren Tonhöhen aufschwang. Vor dem geistigen Auge sah Beth das Gesicht, das sie aus dem Spiegel kannte: das Gesicht eines stämmigen Mannes mit schlechter Haltung, der einen altmodischen Hut mit breiter Krempe trug. Beth zweifelte nicht daran, dass sie genau diese Gestalt im Spiegel sehen würde, wenn sie sich jetzt ein Herz fasste und ins Gästezimmer spähte.

Die Gestalt würde hinter ihr im Türrahmen stehen, so wie immer.

Die Gestalt lebte in ihrem Haus.

Wen sollte Beth anrufen? Was konnte sie tun?

Plötzlich hörte sie ein Klopfen an der Haustür, und dieses Mal zuckte sie nicht nur zusammen, sie schrie auf.

»Ich bin es nur«, verkündete die Stimme von der anderen Seite der Tür. »Ihr Versicherungsvertreter! Darf ich hereinkommen und mit Ihnen sprechen?«

Wie groß ist die Möse Ihrer Frau?

Sie dachte über das nach, was Hunt ihr erzählt hatte, und ihre Furcht steigerte sich noch. »Nein! Gehen Sie weg!«

»Ich dachte, das wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, um über Ihren Bedarf an weiteren Versicherungen zu sprechen.«

Ein guter Zeitpunkt?

Beth ignorierte ihn, antwortete nicht, hoffte, er würde einfach verschwinden. Sie spürte, wie die Gänsehaut sie überlief. Der Versicherungsvertreter erschien ihr im Augenblick so erschreckend wie die Geräusche im Haus und dieses Etwas im Gästezimmer. Wenn der Vertreter dafür gesorgt hatte, dass mit Hunt dieses abgekartete Spiel gespielt und er festgenommen wurde, wofür konnte er dann noch alles sorgen? Was mochte er noch geplant haben?

»Ich dachte mir, Sie hätten vielleicht Interesse an der Arbeitsplatzversicherung, über die wir schon gesprochen haben.«

Beth erinnerte sich, was der Vertreter gesagt hatte, als er ihnen die Police hatte verkaufen wollen - dass sie dank dieser »Arbeitsplatzversicherung« weder ihren Job verlieren würden noch den Spaß an ihrer Arbeit »aufgrund von Fremdfaktoren«. Er hatte sie angelächelt, als er diesen letzten Punkt angesprochen hatte - und an dieses Lächeln erinnerte Beth sich jetzt wieder deutlich, und sie spürte, wie sich ihr dabei die Härchen im Nacken aufstellten.

»Kann ich hereinkommen?«

Wieder gab Beth keine Antwort.

»Sie sind beschäftigt«, rief der Vertreter durch die geschlossene Tür. »Das verstehe ich. Ich komme später noch einmal, wenn Ihr Mann wieder da ist. Er kommt bald zurück, und dann können wir Ihre Optionen durchgehen.«

Er kommt bald zurück? Wusste der Vertreter irgendetwas, das sie nicht wusste? Unvernünftigerweise, irrationalerweise, spürte Beth Hoffnung in sich aufkeimen.

»Ich komme nächste Woche wieder!«

Sie spähte durch den Türspion und sah, wie der Vertreter sich von den Treppenstufen entfernte und dann grüßend mit einem Finger an seine Hutkrempe tippte - als wüsste er ganz genau, dass sie ihn beobachtete. Dann drehte er sich um und ging munter die Auffahrt hinunter, zwischen den beiden Ocatillas hindurch, die als Eingangstor zum Vorgarten dienten, bog nach rechts auf den Bürgersteig ab und verschwand um die nächste Ecke des Häuserblocks.

Erst als er außer Sichtweite war, begriff Beth, dass aus dem Gästezimmer immer noch das Pfeifen zu hören war.


Beth, die sich den Wecker gestellt hatte, wachte früh auf. Nach einer Stunde, in der unablässig das sonderbare, leise Pfeifen zu hören gewesen war, hatte das Gästezimmer sich anscheinend beruhigt. Beth hatte den Telefonhörer wieder auf die Gabel gelegt, und es hatte nicht erneut geklingelt. Doch die Geräusche aus dem Zimmer waren bis nach zehn Uhr zu vernehmen gewesen. Erst als sie endlich verklungen waren und auch nach fünfundvierzig Minuten nicht wieder eingesetzt hatten, brachte Beth den Mut auf, ins Bett zu gehen. Sie wagte es nicht, einen Blick ins Gästezimmer zu werfen, doch sie stellte erleichtert fest, dass die Tür immer noch geschlossen war. Und so schloss sie auch die Tür zum Schlafzimmer, schloss ab und schlief die ganze Nacht bei eingeschaltetem Licht.

Am nächsten Morgen ging sie in die Küche, setzte Kaffee auf, gab Courtney seine Frühstücks-Friskies und schob einen Bagel in den Toaster. Den gestrigen Tag hatte sie sich freigenommen, um Hunt zu besuchen und ihm einen Anwalt zu besorgen, und auch für diesen Tag hätte sie gerne Urlaub eingereicht. Aber es waren nur noch wenige Urlaubstage übrig, und sie hatte das Gefühl, als würde sie die später noch brauchen, wenn der Prozess begonnen hatte. Außerdem hätte sie an diesem Tag sowieso nichts tun können, das Hunt geholfen hätte, und da ihre Besuchszeit auf eine halbe Stunde beschränkt war - siebzehn Uhr dreißig -, war es wohl besser, wenn sie zur Arbeit ging. Vielleicht lenkte die Arbeit sie ja ab. Und sie würde den Tag bestimmt schneller hinter sich bringen können, als wenn sie alleine war, unruhig im Haus auf und ab lief, sich immer wieder alles durch den Kopf gehen ließ und sich dadurch selbst an den Rand des Wahnsinns trieb.

Beth fragte sich, ob über diese Sache etwas in den Nachrichten gebracht worden war. Die Medien waren schließlich versessen darauf, sich auf jeden Fall von Kindesmissbrauch zu stürzen. Beth wusste, dass Hunt unschuldig war, dass sämtliche Anschuldigungen jeglicher Grundlage entbehrten ... doch sie wusste auch, wie schlecht es für Hunt in der Presse aussehen würde, und sie betete, dass nirgends etwas auftauchte, was dazu führte, dass die Geschworenen voreingenommen gegenüber Hunt sein würden.

Beth stieß ein kurzes, schnaubendes Lachen aus, ein plötzlicher Ausbruch von Frustration, der sogar sie selbst schockierte. Galgenhumor. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie ihren Freunden und Kollegen erklärte, dass die Vorwürfe gegen Hunt bloß die üble Intrige eines boshaften Versicherungsvertreters seien. Wie glaubhaft klang das denn bitte? Ein Versicherungsvertreter mit übernatürlichen Kräften hatte ihnen eine Kranken- und eine Zahnfürsorgeversicherung verkauft und ihnen dann eine Rechtsversicherung angeboten, und als sie diese abgelehnt hatten, hatte er sie bestraft, indem er auf wundersame Weise Lillys Freundin dazu gebracht hatte, fest davon überzeugt zu sein, Hunt habe sie zu Oralverkehr gezwungen?! Als Beth dies alles durch den Kopf ging, erkannt sie mit schrecklicher Deutlichkeit, wie lächerlich das alles klang - obwohl sie genau wusste, dass es die Wahrheit war.

Beth frühstückte, zog sich an, schminkte sich und trug den Lippenstift auf. Als sie sich dann im Badezimmerspiegel betrachtete, bemerkte sie, dass sie sich unglaublicherweise schon an ihre silbernen Zähne gewöhnt hatte. Sie gefielen ihr nicht, und sie wäre überglücklich gewesen, hätte sie wieder ihr normales Lächeln und perlweiße Zähne gehabt, doch sie war deswegen nicht mehr so gehemmt wie bisher: Es graute ihr nicht mehr so sehr davor, zur Arbeit zu gehen oder auf die Straße, weil ihre Zähne wie der Wunschtraum eines jeden Rap-Stars aussahen.

Im Augenblick gab es wichtigere Dinge, um die sie sich Sorgen machen konnte.

Der gläserne Wolkenkratzer, in dem sich die Geschäftsräume von Thompson Industries befanden, das höchste Gebäude von Tucson, wirkte bedrohlich, als Beth darauf zufuhr. Dann steuerte sie die darunter liegende Tiefgarage an und stellte ihren Wagen auf dem Parkplatz ab, der für die Angestellten reserviert war. Mehrere Minuten lang blieb sie im Wagen sitzen, atmete tief durch und mobilisierte ihren Mut, auszusteigen und in ihr Büro zu gehen. Durch die Windschutzscheibe sah sie, dass sich Amy aus der Buchhaltung und Gary Barnes unterhielten und fröhlich lachten, als sie an den parkenden Wagen vorbei zum Aufzug gingen.

Beth wischte sich die schweißnassen Hände am Rock ab und wartete, bis die Fahrstuhltüren sich geschlossen hatten, ehe sie ausstieg. Innerlich bereitete sie sich auf mögliche Konfrontationen vor. Sie sagte sich immer wieder, dass jegliche Feindseligkeit ihrer Kollegen nicht gegen sie persönlich gerichtet war, sondern eine weitere Folge der widerlichen Intrigen des Versicherungsvertreters. Endlich betrat sie den Aufzug, drückte den Knopf für das zwölfte Stockwerk und wartete, starrte auf die Zahlen, die nacheinander aufleuchteten. Mit einem Ping! öffnete sich die Fahrstuhltür, und Beth trat in das Chaos ihrer Arbeitsstätte in der Public-Relations-Abteilung.

Alle wussten es.

Beth hätte nicht sagen können, woher sie es wussten, doch es war offensichtlich, und Beth fühlte sich wie eine Aussätzige, als sich die Menschenmassen vor ihr teilten, als alle Gespräche verstummten, sobald Beth vorbeiging. Sie ging weiter, bewegte sich durchs Labyrinth der durch halbhohe Wände abgeteilten Arbeitsplätze, am Kopierraum und am Fotolabor vorbei. Sie versuchte stur nach vorn zu blicken, sich auf den Weg zu konzentrieren, der vor ihr lag, und nicht auf die feindseligen Blicke zu achten, die ihr zugeworfen wurden, nicht zu spüren, wie ihre Kollegen sie im Vorbeigehen anstarrten, nicht die verletzenden Worte zu hören, die hinter ihrem Rücken geflüstert wurden.

Beth erreichte ihr Büro.

Schloss die Tür.

Drehte den Schlüssel im Schloss.

Und brach in Tränen aus.

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