1.


Die nächsten Tage waren für Hunt und Beth gleichermaßen anstrengend, und am Mittwochabend beschlossen sie, früh ins Bett zu gehen und ein wenig dringend benötigten Schlaf nachzuholen. Hunt döste als Erster ein. Beth blieb noch ein Weilchen wach und las ein paar Horror-Geschichten von Barry Welch, doch es war noch keine zehn Uhr, als beide fest eingeschlafen waren.

Sie wurden geweckt, als die Polizei gegen ihre Haustür hämmerte.

Die Polizisten hatten nicht geklingelt, nur angeklopft, und als Hunt später dazu kam, darüber nachzudenken, fand er es äußerst merkwürdig. Sollte es allerdings das Ziel der Polizei gewesen sein, sie beide einzuschüchtern, hatte diese Taktik sehr wohl Erfolg. Das ständige Hämmern von Fäusten auf das Holz und die Rufe »Aufmachen! Polizei!« reichten aus, um Beth und Hunt gleichermaßen zu verschrecken; hastig streiften sie Bademäntel und Hosen über und gingen zur Tür.

»Und wenn das gar keine Polizisten sind?«, flüsterte Beth, als sie der Tür näher kamen. »Ich habe das mal in den Nachrichten gesehen. Es waren Einbrecher, die sich da als Polizisten ausgegeben hatten, um in ein Haus zu kommen. Und dann haben sie die Familie vergewaltigt und umgebracht.«

Hunt spähte durch den Türspion. »Sehen aus wie Polizisten.«

»Machen Sie auf, oder wir müssen die Tür aufbrechen!«

Hunt machte sich daran, den Riegel zurückzuschieben.

»Was tust du da?«

»Die werden die Tür einschlagen und sowieso reinkommen. Und wenn es wirklich Polizisten sind, sollten wir uns kooperativ zeigen.«

»Und wenn nicht?«

Hunt schloss die Tür auf. In dem Augenblick, da er sie nur einen Spalt geöffnet hatte, pressten zwei Polizisten ihn gegen die Wand, rissen ihm die Arme auf den Rücken und legten ihm Handschellen an. Ein Schlag in die Rippen und ein Tritt zwischen die Beine ließen ihn nach Luft schnappen. Dann wurde eine sehr derbe Leibesvisitation vorgenommen. Schreiend trat Beth ein paar Schritte zurück. Hunt wusste nicht, ob es Angst war oder der Versuch, die Nachbarn zu alarmieren, dass Beths Stimme so schrill klang. Er vermeinte zu hören, dass sie irgendetwas sagte und nicht nur wortlos schrie, doch der Schmerz in Hoden und Rippen machte es ihm fast unmöglich, sich zu konzentrieren.

Hunt wurde herumgewirbelt, sodass er die Polizisten jetzt anschauen konnte. Er sah, dass sie zu zweit waren: ein ungestümer junger Mann mit fleischigem, dümmlich wirkendem Gesicht und sein älterer Kollege, der zwar abgestumpft war von jahrelangem Dienst, der es aber immer noch faustdick hinter den Ohren zu haben schien, fast wie ein alter, müder Lee Van Cleef. Beide wirkten, als wollten sie Hunt am liebsten zu Brei schlagen.

Hunt versuchte, Luft in die Lunge zu saugen. »Was wird mir vorgeworfen?«

Der jüngere der beiden presste seine Stirn fest gegen die von Hunt. »Du wirst wegen sexueller Belästigung von Kindern festgenommen, wegen Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen, wegen Beihilfe zur Jugendkriminalität und wegen jeder anderen Straftat, die dem Staatsanwalt noch so einfällt, du widerliches Stück Scheiße!«

»Hank«, warnte der ältere Officer seinen jüngeren Kollegen.

»Ja, ja, ich weiß.«

»Wir wollen doch nicht, dass der Typ uns wegen eines Verfahrensfehlers durch die Lappen geht.«

»Was immer es ist, ich war es nicht!«, sagte Hunt. »Das ist ein Irrtum! Sie haben den Falschen erwischt!«

»Sag kein Wort!«, wies Beth ihn an. »Warte, bis ein Anwalt hier ist.« Sie wandte sich an den jüngeren der beiden Polizisten. »Und das mit dem ›Stück Scheiße‹ habe ich gehört, Sie Stück Scheiße! Wenn das Ganze hier ausgestanden ist, werden Sie dafür bezahlen, bis Sie grün und blau sind! Wir werden Sie persönlich verklagen, Ihre Dienststelle und die Stadt, und Sie werden im Park die Klohäuschen schrubben können, während Ihnen der Mindestlohn unterm Hintern weggepfändet wird, Sie inkompetentes, blödes Arschloch!«

»Na, das ist ja mal 'ne Klassebraut, die du da hast«, sagte der Polizist zu Hunt.

Wäre Hunt ein zäherer Bursche gewesen, wäre er cooler gewesen, hätte er etwas geantwortet wie: »Sie hat dich am Wickel, du Drecksack.« Aber Hunt war verängstigt und verwirrt, die Handschellen taten höllisch weh, und er wollte diese Trottel nicht noch mehr gegen sich aufbringen. Offensichtlich lag hier ein gewaltiger Irrtum vor, und je schneller sie aufs Polizeirevier kamen, desto schneller würde er die Lage jemandem erklären können, der etwas zu sagen hatte - und umso schneller wäre das Ganze erledigt.

»Wie heißen Sie?«, fragte Beth. »Wie lautet Ihre Dienstnummer? Wer ist Ihr Vorgesetzter? Ich will diese Informationen haben, ehe Sie das Haus verlassen.«

»Ihr Mann ist ein Kinderschänder, und Sie sind sauer auf uns? Was für eine Frau sind Sie eigentlich?«

»Er ist kein Kinderschänder! Ihr Blödmänner habt einen Riesenfehler gemacht! Und ich will Ihnen sagen, was für eine Frau ich bin: Ich bin die Frau, die nicht eher ruhen wird, bis solche Schlägertypen wie Sie aus dem Polizeidienst entfernt werden!«

Hank war offensichtlich bereit, es auf einen echten Streit ankommen zu lassen, sich richtig mit Beth anzulegen, doch der ältere Officer legte ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. »Komm, wir müssen ihn mitnehmen.«

»Und warum mussten Sie mitten in der Nacht kommen? Sie mussten 'ne Szene machen, ja? Eine richtige Show abziehen! Warum haben Sie ihn nicht am Nachmittag festgenommen? Diese falschen Beschuldigungen werden Ihnen ja nicht erst seit ein paar Minuten vorliegen, oder? Warum haben Sie bis jetzt gewartet?«

Beths Furchtlosigkeit und ihr gerechter Zorn stärkten auch Hunts Selbstvertrauen wieder ein wenig, vertrieben etwas von der Einschüchterung und Willfährigkeit, die ihn zuerst erfasst hatten. Er trug nichts als eine Jeans und einen Bademantel, der offen stand, und nun hob er das Kinn und blickte dem älteren Polizisten fest in die Augen. »Ich will mir ein Hemd anziehen«, sagte er. »Ich werde nicht in dieser Aufmachung aufs Revier gehen.«

»Oh doch, das wirst du«, widersprach Hank.

Der ältere Polizist nickte. »Wir haben reichlich orangefarbene Overalls, die Ihnen passen.« Er drehte Hunt herum und schob ihn zur Tür. »Kommen Sie schon, machen Sie hin!«

»Ich komme mit«, versprach Beth. »Ich fahre mit dem Wagen nach.«

Mehr als alles andere auf der Welt wollte Hunt, dass Beth mit ihm käme. Er wollte einen Zeugen für diesen verrückten Albtraum - auch für den Fall, dass sie ihm noch etwas anderes vorwarfen als Kindesmissbrauch. Doch er wusste, dass die beiden Kerle Beth nicht weiter als bis zur Lobby der Polizeiwache vorlassen würden. Sie würde nicht bei ihm sein können, wenn man seine Fingerabdrücke nahm und die Fotos schoss. Sie würde die ganze Zeit auf einer Bank sitzen, wütend und frustriert, und würde nicht das Geringste für ihn tun können.

Hunt schüttelte den Kopf. »Such einen Anwalt«, sagte er und blickte sie über die Schulter hinweg an. »Such irgendwen, der mich da rausholt.«

Jetzt weinte Beth, und Hunt sah, dass der jüngere Polizist grinste. Er hätte dem Dreckskerl am liebsten die Zähne eingetreten, nur um dieses dämliche Grinsen aus seinem Gesicht zu vertreiben. Doch irgendwie gelang es Beth, eine unglaubliche innere Reserve anzuzapfen, und so riss sie sich zusammen. »Ich werde jemand finden. Und ich kriege auch raus, wie man eine Kaution stellt.« Dann warf sie dem jüngeren Polizisten einen finsteren Blick zu. »Und Hank Dingsbums? Dienstnummer Sieben-Sieben-Drei? Ich werde dem Anwalt alles über Sie erzählen. Und dann sehen wir uns vor Gericht wieder!«

Die Polizisten schoben Hunt hinaus und drückten seinen Kopf herunter, als sie ihn auf die Rückbank ihres Streifenwagens verfrachteten. Die Warnlichter auf dem Dach des Wagen blinkten - rot, blau, rot, blau, rot, blau - und schienen die ganze Straße zu erhellen. Durch die Fensterscheibe des Streifenwagens sah Hunt die Gesichter der Nachbarn, die ihn zwischen den Vorhängen in ihren Wohnzimmern hindurch anstarrten.

Großartig.

In der ersten Nacht war Hunt völlig verängstigt, so voller Furcht, dass er sich nicht einmal gestattete, vor Erschöpfung einzuschlafen. Er hatte genug Bücher gelesen und genug Filme gesehen, um zu wissen, wie Kinderschänder im Gefängnis behandelt wurden. Und auch wenn er genau genommen noch gar nicht im Gefängnis saß, sondern in der Arrestzelle des County, wurde er doch zusammen mit den anderen Insassen in eine große Gemeinschaftszelle geworfen, und dann lag es an ihm alleine, sich zu verteidigen.

Die Arrestzelle des County.

Hunt arbeitete für das County, und er glaubte nicht, dass es eine Möglichkeit gab, diese Sache hier vor seinen Kollegen geheim zu halten ... oder vor seinen Vorgesetzten. Selbst in einer so großen und weitverzweigten Organisation wie der Bezirksverwaltung machten Neuigkeiten und Gerüchte schnell die Runde, und so würde es jeder herausfinden. Auch Steve würde davon erfahren. Wahrscheinlich würde Hunt seinen Job verlieren, und dann wäre er arbeitslos und nicht mehr zu vermitteln.

Nein. Er musste mit dem Betriebsrat reden, musste herausfinden, wie es um seine Rechte bestellt war. Er war dieses Vergehens nur beschuldigt worden, nicht aber verurteilt. Und er war unschuldig! Ganz ehrlich unschuldig. Dafür konnten die ihn nicht feuern. Und wenn sie es doch versuchten, würde Hunt sie verklagen, dass ihnen Hören und Sehen verging.

Aber vielleicht war das hier ein weiterer Sargnagel für den Arbeitstrupp: der Tropfen, der das Fass schließlich zum Überlaufen brachte und den Herren auf der Chefetage eine Möglichkeit bot, den Baumbeschnitt an Fremdfirmen zu vergeben. Und es würde keinerlei Möglichkeit geben, das zu beweisen. Hunt mochte ja in der Lage sein, eine betriebliche Entlassung anzufechten, die aufgrund falscher Anschuldigungen erfolgt war, aber gegen eine Entlassung aufgrund von Sparmaßnahmen konnte er nicht vorgehen.

Hunt hatte beinahe damit gerechnet, dass eine Wache auftauchte, seinen Namen aufrief und ihm verkündete, er könne nach Hause gehen, doch offensichtlich hatte Beth es nicht geschafft, um diese Uhrzeit einen Anwalt aufzutreiben. Und ebenso wenig war es ihr gelungen, die Polizisten davon zu überzeugen, dass das Ganze ein entsetzlicher Irrtum war. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit hatte Hunt versucht, die Polizisten zur Vernunft zu bringen, doch die Burschen, die ihn abgeführt hatten, hielten ihn für einen Verbrecher und ignorierten alles, was er sagte. Den Beamten, die später seine Fingerabdrücke nahmen und die Fotos für den Erkennungsdienst machten, war das alles egal. Und die Wache, die ihn zur Gemeinschaftszelle führte, durfte sich vermutlich von jedem Insassen genau die gleiche Geschichte anhören.

Am schlimmsten war, dass Hunt nicht mit Beth reden konnte. Er wusste ja überhaupt nichts! Genauso gut war es möglich, dass sie auf der Suche nach einem gewerblichen Kautionssteller aus einem fahrenden Auto heraus erschossen worden war, oder sie war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als sie nach Hause fuhr ... oder sie war auf dem Weg zu ihrem Auto in eine dunkle Seitengasse gezerrt und vergewaltigt worden. Hunt wusste, dass sein Verstand dazu neigte, sich solch extreme Szenarien auszumalen, doch die Situation, in der er sich momentan befand, war extrem, und daraus hatte er gelernt, dass alles, wirklich alles, möglich war.

Noch ernüchternder war die Tatsache, dass er noch nicht einmal genau wusste, welches Verbrechen er überhaupt begangen haben sollte. Er wusste nur, dass man ihm sexuellen Missbrauch von Kindern vorwarf, dass er angeblich Sex mit einem kleinen Mädchen gehabt hatte - doch mit wem und wo und wann, das wusste er nicht. Die Polizei ging nicht weiter darauf ein. Hunt würde warten müssen, bis sein Anwalt eintraf, was - hoffentlich - am Morgen geschehen würde.

Irgendwie gelang es Hunt, die Nacht unbeschadet zu überstehen. Alle anderen ignorierten ihn und ließen ihn in Ruhe, und während er sich unter seinen Zellengenossen umschaute, fragte er sich, ob Verbrecher sich untereinander erkennten, ob sie eine Art sechsten Sinn hatten, der sie spüren ließ, wenn sich ein Unschuldiger unter ihnen befand und wer dieser Unschuldige war.

Wem wollte er hier eigentlich etwas vormachen? Die anderen Knackis hatten ihn bloß noch nicht zu Klump geschlagen, weil sie nicht wussten, weswegen er hier war. So einfach war das.

Am nächsten Morgen kurz nach zehn kam tatsächlich der Anwalt. Sein Name war Raymond Jennings, und er sah aus wie eine etwas weniger wichtigtuerische Ausgabe von Francis Lee Bailey. Hunt wusste nicht, wie Beth den Mann gefunden oder warum sie gerade ihn ausgewählt hatte. Hatte sie Erkundigungen eingezogen, oder war Jennings ihr von jemandem empfohlen worden? Oder hatte sie einfach nur die erstbeste Nummer in den Gelben Seiten angerufen? Doch Jennings machte einen guten Eindruck, er wirkte kompetent und vertrauenswürdig, und Hunt zog es vor, einfach davon auszugehen, dass dieser Anwalt zu den besten gehörte, die in ganz Tucson aufzutreiben waren - und dass er mit Hilfe dieses Anwalts keine Schwierigkeiten haben würde, aus diesem Schlamassel herauszukommen.

Hunts gesamte Erfahrung mit dem Strafrechtssystem beschränkte sich auf Fernseh- und Kinofilme, und er hatte damit gerechnet, seinem Anwalt entweder in einem großen, cafeteriaartigen Raum zu begegnen, in dem zahlreiche Insassen mit ihren Angehörigen und ihrem Rechtsbeistand sprachen, oder in einer engen, geschlossenen Kabine, sodass sie nur über einen Telefonhörer miteinander würden reden und einander nur durch Panzerglas würden anschauen können. Die Wirklichkeit jedoch sah so aus, dass sie sich in einem Raum trafen, der nicht viel anders wirkte als ein Konferenzzimmer: In der Mitte des Raumes standen ein schwerer Tisch und vier Sessel; vor einer Tafel, die fast die gesamte Breite der Wand ausfüllte, waren ein Fernseher und ein Videorekorder aufgestellt. Jennings saß bereits am Kopfende des Tisches, als eine Wache Hunt hereinführte und ihm die Handschellen löste; vor dem Anwalt lag ein ganzer Stapel Papiere. Er erhob sich, als Hunt eintrat, und streckte ihm die Hand entgegen. »Mein Name ist Raymond Jennings. Ich bin Ihr Rechtsanwalt.«

»Gott sei Dank.« Hunt schüttelte die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde; dann ließ er sich in einen Sessel dem Anwalt gegenüber fallen. »Was wirft man mir eigentlich vor?«, fragte er dann. »Die haben mir keinerlei Einzelheiten gesagt. Und weil ich völlig unschuldig bin, habe ich noch nicht mal eine Vermutung, was ich vielleicht getan habe, das als Verbrechen ausgelegt werden könnte. Als Einziges fällt mir ein, dass man mich mit jemandem verwechselt und aufgrund eines Versehens den Falschen festgenommen hat.«

Jennings zog einen Polizeibericht aus dem Stapel Dokumente und Formulare hervor, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Das mutmaßliche Opfer ist ein neunjähriges Mädchen namens Kate Gifford ...«

Kate?

Lillys Freundin?

Hunt fühlte sich, als hätte ihm jemand brutal in den Magen geboxt. »Großer Gott«, stieß er nur hervor. Dann sank er vornüber und ließ die Arme auf die Tischplatte fallen. So etwas hatte er nun wirklich nicht erwartet. Das gehörte noch nicht einmal zu den immer unwahrscheinlicheren Szenarien, die Hunt sich gegen Ende dieser langen Nacht in der Zelle ausgemalt hatte.

»Die Eltern des Mädchens behaupten, dass es während eines längeren, nicht genauer spezifizierten Zeitraums zu unsittlichen Kontakten mit dem Kind gekommen sei und dass Sie gestern Morgen auf einer Decke hinter einem Strauch im Webster Park mit diesem Mädchen Oralverkehr gehabt hätten.«

Ihre Eltern.

Auf Joels Silvesterparty hatte er Greg und Lana Gifford kennen gelernt. Beide arbeiteten bei Automated Interface, und sie waren nicht nur nette Leute, sondern hatten auch einen ähnlichen beruflichen Hintergrund wie er selbst. Hunt hatte früher zwar als IT-Experte gearbeitet, während die Giffords Programmierer waren, aber sie hatten dennoch viele Gemeinsamkeiten, und Hunt hatte es als sehr anregend empfunden, sich wieder mal mit Leuten zu unterhalten, die etwas von moderner Technik verstanden, auch auf einem ganz anderen Tätigkeitsfeld. Hunt mochte die Giffords, und er hatte gehofft, sie beizeiten wiederzusehen.

Ihre Eltern behaupten.

Das bedeutete, dass Greg und Lana ihn angezeigt hatten. Am liebsten hätte Hunt auf der Stelle mit Greg gesprochen, von Mann zu Mann, und dieses Missverständnis aus der Welt geschafft - wie immer es nun eigentlich aussehen mochte. Dieses Missverständnis, das zu dieser völlig falschen und ungeheuerlichen Schlussfolgerung geführt hatte. Hunt hätte niemals etwas derart Abscheuliches getan; er hatte niemals, nicht in seinen perversesten sexuellen Phantasien, etwas so Widerliches auch nur in Erwägung gezogen. Irgendjemand hatte die Giffords belogen. Es war ein Scherz, der schrecklich danebengegangen war - oder ein ausgewachsenes Komplott eines ihm völlig unbekannten Feindes, der sein Leben zerstören wollte. Irgendwie hatte man ihm etwas anhängen wollen, und nun musste Hunt beweisen, dass nichts dergleichen jemals geschehen war.

»Das ist eine Lüge«, sagte er zornig. »Das Ganze ist eine einzige große Lüge. Ich war tatsächlich gestern Morgen im Webster Park - so weit stimmt es -, aber ich habe da gearbeitet. Ich habe dort Bäume beschnitten, und ich habe zwei Zeugen, die bestätigen können, dass etwas Derartiges niemals geschehen ist. Wir drei haben zusammengearbeitet, und wir waren nie außer Sichtweite voneinander. Um die Mittagszeit sind wir wieder gefahren. Wer etwas anderes behauptet, lügt! Außerdem ist der Park fünfzehn Meilen von dem Haus entfernt, in dem Kate wohnt. Wie soll sie denn da hingekommen sein?«

»Also kennen Sie das Mädchen?«

»Sie ist die beste Freundin der Tochter meines besten Freundes.« Aufgebracht fuhr Hunt sich durch die Haare. »Ich weiß nicht, was hier gespielt wird. Nichts davon ergibt einen Sinn!«

»Nun, wenn Sie zwei Zeugen haben, die für den gesamten Morgen Aussagen über Ihren Aufenthaltsort machen können - und ich meine den gesamten Zeitraum, ohne dass auch nur eine einzige Sekunde fehlt -, wäre das schon sehr hilfreich. Aber gegen Sie werden schwere Anschuldigungen erhoben, und ich muss sagen, dass die Fakten im Augenblick sehr gegen Sie sprechen.«

»Wie ist das möglich? Es gibt doch keinerlei Beweise. Die kann es gar nicht geben! Was immer die haben, ist vollständig aus der Luft gegriffen.«

»Die haben die Aussage des Mädchens. Auf Band. Ich habe es mir gerade eben angesehen, und es ist ziemlich erdrückend.«

»Kate sagt, so etwas sei passiert?« Hunt war wie betäubt. »Sie sagt, ich hätte so etwas getan?«

Jennings nickte. »Ja. Darauf stützt sich die Anklage.«

Hunt fragte sich, warum dieses Mädchen derartige Lügen erzählen sollte und was es dazu bringen könnte, etwas so völlig Verrücktes zu erfinden. Hunt war davon ausgegangen, dass die Anschuldigung von jemand anderem stammte und dass Kate sein Haupt-Alibi sein würde, indem sie aussagte, dass nichts dergleichen geschehen sei - und damit wäre die Welt wieder in Ordnung gewesen. Doch offensichtlich hatte das Mädchen ihn belastet. Vielleicht hatte Kate ihren Eltern diese Lügengeschichte aufgetischt, und diese waren dann sofort zur Polizei gegangen.

Aber warum?

»Darf ich dieses Band sehen?«, fragte Hunt.

»Selbstverständlich.« Jennings stand auf und zog eine Videokassette aus ihrer Hülle. »Aber es sieht wirklich nicht gut für Sie aus.« Der Anwalt ging zur gegenüberliegenden Wand des Raumes, schaltete den Fernseher ein und schob die Kassette in den Videorekorder.

Die Aufnahmen waren fast schwarzweiß, so ausgeblichen wirkten die Farben, doch das Bild war sehr klar, der Ton deutlich, und in der unteren rechten Ecke des Bildes war das gestrige Datum zu lesen. Kate saß an einem niedrigen, blauen Plastiktisch in einem gut ausgeleuchteten Raum. Vor ihr lagen ein großer Schreibblock und mehrere Stifte, doch sie rührte nichts davon an. Auf der anderen Seite des niedrigen Tisches, in einen ebenso kleinen Stuhl gezwängt, saß eine Erwachsene in einem knielangen Rock. Im Bild war nur die untere Hälfte dieser Frau zu erkennen. Die Kamera blieb die ganze Zeit auf Kate gerichtet. Das Mädchen wirkte sehr ernst - traumatisiert, würde Beth vermutlich sagen -, und plötzlich hatte Hunt ein sehr mieses Gefühl bei der ganzen Sache.

Es gab keine einleitenden Worte, keine Erläuterungen. Die beiden unterhielten sich ganz ungezwungen, streiften immer wieder Themen, die sie zweifellos schon vor Beginn dieser Aufnahme angesprochen hatten. Anscheinend sah Hunt hier den Mittelteil eines viel längeren Gesprächs, und das Band war an diese Stelle vorgespult worden, weil hier die wichtigen Informationen zu finden waren.

Hunt begriff, dass die Frau und das Mädchen über ein Basketball-Spiel sprachen, bei dem Joel und er zusammen mit Lilly und Kate gespielt hatten. Geschickt wechselte die Frau das Thema. »Und was war das andere Spiel, das Mr. Jackson gerne mit dir gespielt hat?«

»Das ich mit ihm spielen musste.«

»Das du mit ihm spielen musstest.«

Kate zuckte mit den Schultern.

»Du hast es mir doch schon einmal erzählt.«

»Er hat mich Lolly spielen lassen«, erklärte Kate.

»Was ist denn Lolly?«

Unruhig rutschte sie hin und her. »Ich weiß nicht.«

»Du kannst es mir ruhig erzählen, Kate.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wir können nur dann dafür sorgen, dass es aufhört, wenn du ehrlich bist und uns die Wahrheit sagst.«

Sie richtete den Blick auf ihre Hände, die sie vor Unruhe nicht still halten konnte. »Er zieht seine Hose runter und sagt mir, ich soll so tun, als wäre sein Ding ein Lolly, und dass ich daran lutsche.«

»Das ist eine Lüge«, brüllte Hunt. »Das ist nie passiert!«

Er stieß einen Stuhl um, stampfte blindlings durch den Raum, schlug mit der Faust gegen die Wand. Er wusste jetzt, was es bedeutete, wenn es hieß, jemand hätte sich die Haare ausraufen mögen. Die Welt war verrückt geworden! Hunt fühlte sich schrecklich hilflos, verzweifelt und gedemütigt.

»... was Weißes rausgekommen«, sagte Kate gerade auf dem Band.

»Machen Sie das aus!«, herrschte Hunt den Rechtsanwalt an.

Der Anwalt schaltete den Fernseher aus und ließ die Videokassette auswerfen. »Jetzt sehen Sie, womit wir es hier zu tun haben.«

»Ich war noch nie mit dem Kind allein! Nicht ein einziges Mal!«

»Ich glaube Ihnen.«

Hunt holte tief Luft. »Kate ist ein gutes Kind. Ich weiß nicht, wer sie dazu gebracht hat, solche Lügen zu erzählen, oder wie man sie dazu gebracht hat, aber es ist nicht wahr!« Hunt setzte sich wieder. »Aber sie glaubt offenbar, dass es stimmt«, fuhr er dann leise fort. »Das sehe sogar ich. Die müssen Kate einer Art Gehirnwäsche unterzogen haben, und jetzt glaubt sie, das alles wäre wirklich passiert.«

»Ja.« Der Anwalt tätschelte Hunts Schulter. »Wenn Sie das verstehen, können wir weitermachen. Unser Problem liegt vor allem darin, wie die Sache für Außenstehende aussieht. Wir müssen uns über eine Strategie unterhalten. Also, ich werde jetzt eine Aussage von Ihnen aufnehmen, in der Sie jedem einzelnen Anklagepunkt deutlich widersprechen. Dann werde ich mit Ihren Zeugen reden und komme wieder zu Ihnen. Ich werde mir alles anschauen, was der Staatsanwaltschaft vorliegt, und alles, was uns vorliegt, und wir werden uns eine Strategie zurechtlegen. Ich hoffe, das Ganze muss gar nicht erst vor Gericht. Für heute Nachmittag ist eine Kautionsanhörung angesetzt, und ich glaube, ich werde die Kaution durchbekommen. Sobald wir diese Hürde genommen haben, werde ich mich mit dem Staatsanwalt zusammensetzen, und dann tauschen wir erst einmal Meinungen aus. Mit diesem Staatsanwalt hatte ich schon zu tun. Er ist ein anständiger Kerl. Wenn es wahr ist, was Sie sagen, und Ihre Alibis sich als wasserdicht erweisen, wird es uns vielleicht gelingen, dafür zu sorgen, dass die Klage abgewiesen wird.«

»Und wenn das nicht klappt?«

Jennings zog einen tragbaren Kassettenrekorder und einen großformatigen Schreibblock mit gelben Seiten hervor. »Darum kümmern wir uns, falls es erforderlich wird.«

Die nächste Dreiviertelstunde verbrachten sie damit, Hunts Sicht der Dinge aufzunehmen, seine Erinnerungen an alle Namen und Daten und seine Zurückweisung sämtlicher Vorwürfe. Endlich schaltete der Anwalt den Kassettenrekorder ab, verstaute seine Stifte wieder und schlug die Blätter auf dem Block auf die erste Seite zurück. »Ich denke, wir haben jetzt genug, um damit weitermachen zu können.« Er räumte den Tisch ab und verstaute seine Papiere. »Es ist schon fast Mittagszeit, also sollte ich mich jetzt an die Arbeit machen, wenn ich vor dieser Kautionsanhörung noch irgendetwas schaffen will. Gehen Sie in Gedanken noch einmal alles durch, und achten Sie darauf, ob Sie irgendwelche Widersprüche in den gegen Sie vorgebrachten Anschuldigungen finden, irgendetwas Wichtiges, das Sie mir vielleicht zu erzählen vergessen haben. Manchmal fallen einem Details ein, wenn man sie gerade braucht, und manchmal verscheucht der Druck, unter dem man in so einer Situation steht, sie ganz einfach.«

Jennings schloss seine Aktentasche. Dann streckte er Hunt die Hand entgegen. »Es hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen, Mr. Jackson. Wir werden in den nächsten Tagen viel zusammenarbeiten müssen, vielleicht sogar die nächsten Wochen, also seien Sie bitte so freundlich, und sagen Sie Ray zu mir. Ich werde mindestens zweimal am Tag nach Ihnen schauen und habe bereits einen Besuchsplan ausgehandelt. Ihre Frau wird zu Ihnen kommen, sobald ich hier weg bin, und sie wird auch heute Abend noch einmal herkommen. Ich werde zu Ihrer Kautionsanhörung erscheinen, und wahrscheinlich später noch einmal, sollte sich etwas ergeben. Falls Sie nichts von mir hören - bloß keine Panik. Ich habe Sie nicht vergessen. Ich werde mich immer noch mit Ihrem Fall beschäftigen. Gefängniszellen können mit dem menschlichen Verstand sonderbare Dinge anstellen, also denken Sie immer daran: Auch wenn Sie vielleicht einmal nichts von mir hören und nicht jedes Detail erfahren - es nimmt alles seinen Gang.«

Nachdem der Anwalt gegangen war, wurde Hunt von einer Wache in die Arrestzelle zurückgeführt. Dort angekommen, fühlte er sich deutlich besser. Er wusste, es gehörte zum Job eines Anwalts, seinen Mandanten Mut zu machen und ihr Selbstbewusstsein zu stärken, aber Jennings' Optimismus wirkte aufrichtig, seine Einschätzung der Lage realistisch. Nachdem Hunt mit ihm gesprochen hatte, war er überzeugt, dass der Anwalt intelligent und sehr kompetent war. Er hatte es geschafft, Hunt wieder aufzubauen, also bestand Hoffnung, dass er den Rest seiner Arbeit genauso gut machte.


Die Kautionsanhörung verlief nicht zu Hunts Gunsten. Wegen der Schwere der gegen ihn erhobenen Vorwürfe und der Tatsache, dass Hunt nicht sonderlich verwurzelt in dieser Gemeinde war, weigerte die Richterin sich, auch nur eines der Argumente zu berücksichtigen, die Jennings anführte. Sie behauptete, bei Hunt bestünde erhöhte Fluchtgefahr, und sie setzte nicht bloß eine immens hohe Kautionssumme fest, sondern weigerte sich kategorisch, ihn überhaupt auf Kaution auf freien Fuß zu lassen. Vielleicht zeigten sich hier ja seine eigenen Vorurteile, doch Hunt hatte das Gefühl, dass es anders gelaufen wäre, hätte er einen Richter vor sich gehabt und keine Richterin. Er war sich ziemlich sicher, dass er in den Augen der Richterin schuldig war, ein räuberischer Pädophiler, und er betete zu Gott, dass er einen anderen Richter bekäme, wenn er angeklagt wurde.

Falls er angeklagt wurde.

Wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern.

Wie konnte das sein? Ihm ging eine Zeile aus dem Albert-Brooks-Film Kopfüber in Amerika durch den Kopf: »Wir sind in der Hölle. Wann sind wir in die Hölle gekommen?«

Kurz darauf wurde Hunt aus der Arrestzelle in eine eigene Gefängniszelle verlegt. Eine Wache schloss die Tür mit dem vergitterten Fenster auf, befestigte ein Ende von Hunts Handschellen am eigenen Handgelenk und führte ihn dann, den Schlagstock in der Hand, in einen Besucherraum, der genauso aussah wie aus einem Film: Es gab tatsächlich die lang gezogene Panzerglasscheibe, vor der kleine Kabinen abgeteilt waren, in denen einzelne Insassen sich mit ihren Anwälten oder ihren Liebsten unterhalten konnten. Hunt wurde die gesamte Länge des Raumes hinuntergeführt, an besetzten und leer stehenden Kabinen vorbei, bis zu einer kleinen Kabine am Ende des Raumes.

»Sie haben Besuch«, verkündete der Wachmann.

Hunt setzte sich.

Es war der Versicherungsvertreter.

Er wartete in der Kabine auf der anderen Seite des Panzerglases, griff nun nach dem Telefonhörer und bedeutete Hunt mit einer Geste, es ihm gleichzutun. Der Mann sah anders aus als vorher, nicht mehr ganz so unscheinbar. Vielleicht lag es an der kalten, grellen Beleuchtung, vielleicht auch nur am Umfeld, doch er wirkte harscher als bisher, energischer; er war weniger der schmeichlerische Vertreter, mehr der knallharte Geschäftsmann. Seine Gesichtszüge wirkten kantiger, und Hunt fand, dass sein Hut ...

Fedora? Hamburg? Homburg?

... weniger albern wirkte, besser zu seiner ganzen Gestalt passte. Außerdem trug er etwas, das wie ein Trenchcoat aussah, obwohl der Tag recht sonnig und warm war. Zweifellos versuchte der Mann einem Image zu entsprechen, irgendetwas, was er für sehr eindrucksvoll hielt - doch Hunt vermutete auch, dass es einen weniger freundlichen Grund für diese Kleiderwahl gab. Und wieder ertappte Hunt sich bei dem Gedanken, der Versicherungsvertreter habe irgendetwas Altertümliches an sich, als gehöre er in eine andere Zeit.

Eine Sekunde lang blieb Hunt stehen und schaute die Reihe der Insassen und ihrer Besucher hinunter. Er sah Ehefrauen, Söhne, Eltern, Rechtsanwälte, aber keine Versicherungsvertreter. Natürlich nicht. Warum sollte ein Versicherungsvertreter jemanden im Gefängnis besuchen?

Hunt setzte sich und schaute den Mann auf der anderen Seite der Glasscheibe an.

Wider besseres Wissen griff er nach dem Telefonhörer.

»Wie geht es Ihnen heute, Mr. Jackson?«

»Was glauben Sie? Ich sitze im Knast. Ich werde eines Verbrechens beschuldigt, das ich nicht begangen habe.«

In gespieltem Mitleid schüttelte der Vertreter den Kopf. »Mr. Jackson, Mr. Jackson. Ich neige nicht dazu, etwas wie ›Ich habe es Ihnen ja gleich gesagt‹ zu äußern, aber ich möchte auf Folgendes hinweisen: Wenn Sie sich für unser Angebot der Personenschadensversicherung Deluxe mit zusätzlicher Rechtsversicherung entschieden hätten, wäre Ihnen dieser Zwischenfall hier wohl erspart geblieben.«

»Sind Sie deswegen hier?«

»Genau deswegen.«

Der Vertreter lächelte Hunt in einer Art und Weise an, die wohl mitfühlend sein sollte, was sie aber eindeutig nicht war - und plötzlich begriff Hunt, dass es sich hier nicht um einen Höflichkeitsbesuch handelte. Ihm wurde eine Botschaft überbracht. Dieser Vertreter steckte hinter den schrecklichen Anschuldigungen! Oder seine Versicherungsgesellschaft. Sie hatten das hier getan, um ihn zu erpressen und dazu zu bringen, diese Versicherungen abzuschließen. Sie hatten ihre Muskeln ein wenig spielen lassen, um ihm zu zeigen, dass es besser für ihn war, brav mitzuspielen. Welchen anderen Grund könnte es geben? Wenn der Vertreter überhaupt nichts mit der Sache zu tun hatte, konnte er ja gar nicht wissen, dass Hunt hier war.

Aber wie hatten sie das angestellt? Wie funktionierte die Logistik? Konnten sie die Giffords bestochen haben zu lügen? Kate konnten sie gewiss nicht bestechen oder einschüchtern. Nach allem, was Hunt über dieses Mädchen wusste, war sie geradezu verletzend offen und völlig unbestechlich. Außerdem hatte er die Videokassette gesehen. Kate glaubte wirklich, dass er diese Dinge getan hatte.

Also: Wie hatten sie die ganze Familie davon überzeugt, Hunt habe Kate zum Oralverkehr gezwungen?

Es gab keine vernünftige Erklärung, keine Begründung, die auch nur ansatzweise logisch gewesen wäre.

Der Vertreter lächelte immer noch, und dieser Anblick ließ Hunt das Blut in den Adern gefrieren. Was immer hier geschah - es war viel zu groß für ihn. Hunt dachte an das Gästezimmer, an die Geräusche, an die Gestalten, die Beth und er im Spiegel gesehen hatten. Es gab eine ganze Welt, von der Hunt bisher - Gott sei Dank - nicht das Geringste gewusst hatte. Eine Welt der Schatten, des Dämonischen, des abgrundtief Bösen. Und auch wenn Hunt bisher nicht an diesen abergläubischen Mumpitz geglaubt hatte - jetzt tat er es, und es erschreckte ihn zu Tode.

Doch Hunt weigerte sich, diese Angst zu zeigen, weigerte sich, diesem Versicherungsvertreter, der ihm hier gegenübersaß, diesen Triumph zu gönnen. Mit steinerner Miene saß Hunt dort, den Telefonhörer in der Hand, und rührte sich nicht. Als der Vertreter nichts mehr sagte, tat er so, als wollte er den Hörer zurückhängen.

»Warten Sie!«, rief der Vertreter. Hunt war dankbar, in der blechernen Stimme des Mannes einen Funken Verzweiflung zu hören.

Er drückte sich den Hörer ans Ohr.

»Ich bin hier, um Ihnen eine zweite Chance zu bieten«, sagte der Vertreter, und mit einem Mal war er wieder schmeichlerisch und aufdringlich.

»Wollen Sie, dass ich jetzt doch noch diese Versicherung unterschreibe?«, fragte Hunt.

»Ich bedaure, aber für eine Rechtsversicherung sind Sie nicht mehr antragsberechtigt. Nein, ich bin hier, um Ihnen einen Schutz vor einer Verurteilung zu verkaufen. Auch dafür werden Sie eine Personenschadensversicherung abschließen müssen. Und dann - für nominelle Zusatzkosten, die zu Ihrem Basis-Beitrag hinzukommen - werden Sie eine Zusatzversicherung erhalten, die Sie vor nachteiligen Gerichtsurteilen schützt.«

»Was genau bedeutet das?«

»Ich glaube, das erklärt sich in Ihrer Situation von selbst.«

»Heißt das, ich werde nicht verurteilt?«

»Ganz genau. So weit geht diese Versicherungsleistung. Sie wurden wegen dieser Straftat angeklagt, aber die Anklage wird fallen gelassen, oder Sie werden für unschuldig befunden - abhängig davon, für welche Versicherungsleistung Sie sich entscheiden.«

»Das ist unmöglich.«

»Nein, ist es nicht. Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, sind wir ein angesehenes Unternehmen mit ausgezeichnetem Ruf. Unsere Policen, von denen einige deutlich und präzise auf ein äußerst spezielles Deckungskonzept ausgerichtet sind, bieten unseren Kunden immer genau die Leistungen, die darin auch formuliert sind.«

Er starrte Hunt an, und gegen seinen Willen spürte Hunt, wie Hoffnung in ihm aufkeimte. »Hoffnung« war eine äußerst gefährliche Emotion, die Menschen nur zu oft zu törichtem Handeln verführte und in Gefahr brachte - sie sogar dazu brachte, ihr Leben zu riskieren und ihre Ehefrauen zu verlieren und sich von Reichtümern zu trennen, die sie niemals wiedererlangen konnten. Hunt wusste, dass ihn das alles hier ganz persönlich betraf und ihm viel zu nahe ging, sodass er schlichtweg außerstande war, seine Lage objektiv zu beurteilen, doch er versuchte das Angebot zu analysieren und fand keine Nachteile. War das eine Art faustischer Pakt? Wurde er hier dazu gebracht, seine Seele zu verhökern, wenn er diese Versicherung abschloss? Er glaubte es nicht, doch er würde jede Police sorgfältig durchlesen, ehe er irgendetwas unterschrieb.

»Wie viel würde das denn zusätzlich kosten?«, fragte er.

Der Vertreter griff unter die Tischplatte und zog einen Taschenrechner und eine Versicherungsstatistik-Tabelle aus seinem Aktenkoffer, der offensichtlich vor ihm auf dem Fußboden stand. »Zwanzig Dollar im Monat für die Personenschadensversicherung, dazu zehn Dollar zusätzlich, um gegen eine Verurteilung geschützt zu sein. Insgesamt wären das dann dreihundertsechzig Dollar im Jahr, die Sie für Ihren Seelenfrieden würden zahlen müssen.« Er vollführte eine ausladende Handbewegung, die den gesamten Besucherraum einschloss, doch die Geste schien auch das ganze Gebäude zu umfassen. »Und Sie werden das Innere dieses Ortes niemals wiedersehen.«

»Und es ist ab sofort wirksam?«

»Unmittelbar nach der Unterzeichnung.« Der Vertreter hielt inne. »Natürlich müssen Sie sich qualifizieren.«

Es gab also doch einen Haken.

»Was genau bedeutet das?«

Er zuckte mit den Schultern. »Sie beantworten ein paar Fragen.«

»Das ist alles?«

»Das ist alles.«

Angestrengt dachte Hunt nach, versuchte das Angebot von allen möglichen Seiten zu betrachten. Er hatte keine Ahnung, wie man die Wirkungskraft des Unergründlichen einstufte oder den Wert eines Versprechens einzuschätzen hatte, das nach sämtlichen konventionellen Bewertungsmaßstäben unmöglich einzuhalten war.

Was würde sein Anwalt dazu sagen? Er wünschte, Jennings wäre jetzt hier. Diese »Zusatzversicherung« war zwar keine direkte Rechtsfrage - eigentlich war das alles hier total verrückt und abseitig -, doch Hunt vertraute darauf, dass der Anwalt sich um seine Interessen kümmerte, und er hätte gerne die unparteiische Meinung eines erfahrenen Außenstehenden gehört.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte der Vertreter leise: »Ich brauche Ihre Entscheidung jetzt. Das ist ein einmaliges Angebot. Nehmen Sie 's, oder lassen Sie 's. Ich habe keine Zeit, lange zu warten.«

Hunt wünschte sich, Beth wäre hier.

»Mr. Jackson?«

»Ich nehm's.«

Sofort war der Vertreter wieder ganz sachlich. Er zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche und drückte die Mine heraus. »Also gut. Ich muss Ihnen erst noch ein paar Fragen stellen, einige wichtige Informationen, die wir benötigen, damit wir entscheiden können, ob Sie für diese Leistung anspruchsberechtigt sind. Können wir anfangen?«

Hunt nickte.

»Frage eins: Wie groß ist die Möse Ihrer Frau?«

Hunt starrte ihn an. Das musste ein schlechter Scherz sein. Doch der Vertreter ließ es sich nicht anmerken, falls das hier etwas anderes als eine rein sachliche Frage sein sollte.

Zorn brandete in Hunt auf. »Was zum Teufel hat das denn mit meinem Problem zu tun?«

»Wir stellen die Fragen, Mr. Jackson. Und Sie werden sie beantworten.«

»Derartige Fragen werde ich nicht beantworten.«

»Doch, werden Sie.«

»Nächste Frage.«

»Sie haben die erste noch nicht beantwortet. Wie groß ist die Möse Ihrer Frau?«

»Nächste Frage!«

»Kommen Sie schon. Ist es eng da unten, oder müssen Sie aufpassen, da nicht reinzustürzen?« Der Vertreter kicherte.

Hunt knallte den Hörer auf die Gabel. Durch die Glasscheibe sah er, wie der Versicherungsvertreter mit übertrieben alberner Miene das stecknadelgroße Loch betrachtete, das er mit Daumen und Zeigefinger geformt hatte - und dann diese Öffnung immer größer machte, bis er beide Hände brauchte und seinen Kopf halb hindurchstreckte. Er grinste.

Hunt spuckte gegen die Scheibe, stieß seinen Stuhl um und ging davon.

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