4.
Hunt hatte damit gerechnet, dass es auf den Fluren und Gängen der Versicherungsgesellschaft jetzt vor aufgebrachten Vertretern nur so wimmeln würde; dass es wie in einem Bienenstock zuging und die Vertreter ihnen ans Leder wollten, doch selbst der Verlust eines der Ihren schien die uralten Wesen, die durch die Flure schlurften und in den Büroräumen arbeiteten, nicht im Mindesten zu beeinträchtigen. Nach wie vor bewegten sie sich quälend langsam durch das endlose Meer der Zeit.
»Wir müssen sämtliche Akten vernichten«, sagte Hunt. »Und den Direktor oder Geschäftsführer oder was immer es war, was ich im Zimmer hinter der roten Tür gesehen habe.«
»Hinter der roten Tür?« Joel legte die Stirn in Falten. »Du hast doch gesagt, da wäre nichts.«
»Ich habe gelogen.«
»Dann los«, sagte Jorge.
Joel lächelte. »Alle für einen.«
Sie kehrten ins Archiv zurück, rissen einen Aktenschrank nach dem anderen auf und warfen die Papiere in fieberhafter Eile in die Mitte des Raumes. Doch selbst wenn sie Tag und Nacht geschuftet hätten, wäre es ihnen nicht möglich gewesen, jeden einzelnen Aktenschrank auszuräumen. So mühten sich die drei Männer in den nächsten zehn oder fünfzehn Minuten, Hunderte der vermutlich neuesten Aktenmappen herauszureißen - so viele, wie sie für notwendig erachteten, um ein Feuer zu legen. Dann schoben sie die Papiere so zurecht, dass sie die einzelnen Aktenschränke in Flammen setzen würden, sobald sie brannten, und zündeten mit dem Feuerzeug die Kanten mehrerer Dokumente an. Sie hatten einen ganzen Berg an Akten aufgehäuft, und so griffen die Flammen schnell auf sämtliche Schriftstücke über. Rasch breitete das Feuer sich aus.
An der Stelle, an der die Papiere am dichtesten lagen, loderte bald darauf eine wahre Feuersbrunst zwischen den beiden Aktenschrankreihen. Ehe die Männer den Raum verließen, stieß Hunt noch die beiden Holzschränke um, die dem Eingang am nächsten standen, damit sie ebenfalls Feuer fingen und die Flammen zusätzlich nährten. Hunt vermeinte, außer brennendem Papier und Pergament auch brennendes Fleisch zu riechen, entfernte sich dann aber schnell. So genau wollte er es gar nicht wissen.
»Suchen wir die rote Tür«, entschied er.
»Ja«, sagte Jorge. »Suchen wir den Geschäftsführer und kündigen die Policen!«
Sie brauchten mehrere Minuten, um sich zu orientieren und den Flur zu finden, der zum Herzen dieser Abscheulichkeit führte, die sich Insurance Group nannte.
Kurz darauf waren sie am Ziel.
Hunt wusste, dass er kneifen würde, wenn er sich jetzt zu viel Zeit ließ, sodass er über die unbeschreiblichen Schrecken nachdenken konnte, die er in diesem Raum gesehen hatte. Also riss er kurz entschlossen die Tür auf, ging in die Knie und kroch hinein. Joel und Jorge hielten sich dicht hinter ihm.
Der Raum hatte sich verändert.
Sehr verändert.
Statt des festsaalgroßen Raumes sah er jetzt eine riesige Halle vor sich, deren Ausmaße sich nicht einmal abschätzen ließen. Vor ihnen war der Boden abschüssig, und so weit das Auge reichte, saßen dort Reihen um Reihen stämmiger Männer mit schlechter Haltung, die dunkle Mäntel und identische Hüte trugen.
In weiter Ferne war im Halbdunkel ein rötliches Glimmen zu sehen. Es wirkte fast kreisrund.
Das Tor zur Hölle, dachte Hunt bei diesem Anblick, und obwohl er nicht religiös war, erschien ihm dieser Gedanke durchaus plausibel: Das hier war der Ort, von dem die Armee von Geistern, Dämonen und agents provocateurs kamen - oder was immer sie sein mochten. Hunt fragte sich, was sonst noch in der entsetzlichen Hitze dieses diabolischen Glosens leben mochte.
Die Hölle, ging es ihm durch den Kopf, ist keine Höhle mit Feuer und Schwefel - sie ist ein Versicherungsbüro.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Jorge, und Hunt hörte in der Stimme seines Freundes nicht nur Angst, auch Ehrfurcht.
Hunt hatte keine Ahnung. Sich diesem Elementargeist, diesem Ungeheuer in der Grube zum Kampf zu stellen, wäre schon schlimm genug gewesen, doch es war schlichtweg unmöglich, dass sie es zu dritt, nur mit Küchenutensilien bewaffnet, mit den Legionen geisterhafter Schlägertypen aufnahmen und sich bis zu dem glosenden Schlund durchkämpften. Das Beste wäre, sofort dorthin zurückzukehren, woher sie gekommen waren, und sich damit zufriedenzugeben, was sie bis jetzt erreicht hatten. Selbst wenn sie nicht jene düstere Macht aufhalten konnten, die das Herz der Insurance Group verkörperte, so hatten sie zumindest deren Vertreter aus dem Weg geräumt und vielleicht auch die meisten der archivierten Policen vernichtet. Die Versicherungsgesellschaft würde lange brauchen, sich davon zu erholen, möglicherweise länger, als Hunt, Jorge und Joel noch zu leben hatten. Sie konnten guten Gewissens darauf warten, dass es irgendwann später jemand anders mit diesem schier übermächtigen Gegner aufnahm und die Aufgabe endgültig zu einem Abschluss brachte.
Jemand anders?
Nein. Sie mussten es tun.
»Ich habe eine Idee«, sagte Hunt unvermittelt. »Raus hier!«
Er scheuchte Joel und Jorge durch die kleine Tür auf den Gang; dann kroch er ihnen hinterher, schlug die Tür wieder zu, wartete einen Augenblick und öffnete die Tür erneut. Genau wie er gehofft hatte, war die gewaltige Halle mit ihrer riesigen Armee verschwunden, ebenso deren Quelle, der rot glühende Höllenschlund. Stattdessen sah Hunt nun wieder den leeren Raum mit den Wandgemälden, der umzäunten Grube und dem scheußlichen, sich schlangengleich windenden Ungeheuer vor sich.
Hunt schloss die Tür erneut, öffnete sie dann wieder und spähte noch einmal hinein. Dieses Mal erblickte er einen viel kleineren Raum, dessen Ausmaße genau zu der winzigen Tür passten. Die Wände waren schwarz, und in der Mitte, auf einem Gestell aus Metall, das aussah, als wäre es älter als die Erde selbst, lag eine Steintafel. Sie sah aus, wie Hunt sich immer die Steintafeln mit den Zehn Geboten vorgestellt hatte.
Hunt schlängelte sich durch die kleine Öffnung und hielt schließlich vor der Steintafel inne, immer noch auf Händen und Knien. Die Schriftzeichen, die in die Platte geritzt waren, vermochte er nicht zu entziffern, doch sie mussten immens machtvoll sein, denn alleine vom Hinschauen bekam er rasende Kopfschmerzen, und seine Haut fühlte sich trocken und heiß an und kribbelte wie bei einem Sonnenbrand.
Hunt war sich ganz sicher, dass er die Satzung der Insurance Group vor sich hatte.
Im Anfang war das Wort.
Der Raum war zu klein, als dass Hunts Freunde auch noch hätten hereinkommen können. Joel und Jorge standen immer noch auf dem Flur, hatten sich vor die Tür gekauert und konnten nichts sehen als Hunts Rücken.
»Was ist denn da?«, fragte Joel.
»Ich glaube, das ist deren Satzung«, erklärte Hunt. »Wir müssen sie vernichten.«
»Und wie?«, fragte Jorge.
Gute Frage. Manuels Messer würde hier nicht viel ausrichten. Nirgends hatten sie einen Hammer oder Meißel oder Ähnliches gesehen, womit sie die Steintafel hätten zertrümmern können.
Hunt stöhnte vor Anstrengung, als er die unerwartet schwere Tafel kurz entschlossen vom Ständer hob und auf den Boden fallen ließ. Doch sie zerbrach nicht, so sehr er es auch gehofft hatte. Er versuchte, die Platte über den Boden zu schieben, doch sie bewegte sich keinen Millimeter. Mit aller Kraft, die ihm verblieben war, hob er die Platte erneut an und stellte sie hochkant, während er auf den Knien in Richtung Ausgang rutschte, bis er wieder den Türrahmen erreicht hatte; dann stieß er die Tafel mit den Füßen hindurch und schlüpfte hinterher.
Im gleichen Augenblick, da Hunt und die Steintafel draußen auf dem Gang waren, schlug die rote Tür zu.
Nur war sie jetzt nicht mehr rot. Sie war pechschwarz.
»Sieh dir das an«, sagte Jorge und streckte den Arm aus. Immer noch schwang Furcht in seiner Stimme mit.
Hunt stand auf, hob die Steinplatte so hoch, wie er nur konnte, und ließ sie fallen. Obwohl sie mit lautem Knall auf dem Fußboden des Korridors aufschlug, zerbarst sie nicht.
Aber nun hatte sie einen Riss.
Ängstlich öffnete Joel erneut die Tür. Wieder sah er die endlose Halle, doch dieses Mal war das orangefarbene Leuchten deutlich intensiver, und die Heerscharen stämmiger Männer mit Hüten hoben die Köpfe ... und schauten sie geradewegs an. Durch die Tür hindurch konnte Hunt ihre Gesichter sehen.
Und ihre Zähne.
Jetzt wusste er, warum Edward solche Angst vor ihren Zähnen hatte.
»Mach die Tür zu!«, schrie er. Joel tat hastig, wie ihm geheißen.
Auf dem Gang roch es jetzt nach Rauch. Irgendwo brannten immer noch die Akten. Hunt wusste, dass sie nicht darauf vertrauen konnten, dass das gesamte Gebäude abbrannte - schließlich bestand es größtenteils aus Stein, nicht aus Holz -, doch wenn sie Glück hatten, würde hier noch deutlich mehr Schaden entstehen.
»Helft mir!«, sagte Hunt und mühte sich ab, die Steinplatte erneut hochzuwuchten. Er hatte kaum noch Kraft in den Armen, und seine Muskeln schmerzten, doch gemeinsam gelang es ihnen, die Platte bis über ihre Köpfe zu stemmen.
»Auf drei«, sagte Hunt. »Eins ... zwei ... drei!«
Diesmal ließen sie die Platte nicht einfach fallen, sondern stießen sie regelrecht zu Boden. Es war dieser zusätzliche Schwung, davon war Hunt überzeugt, der endlich dazu führte, dass die Platte in drei ungleichmäßige Stücke zerbrach. Der Rauchgeruch wurde intensiver. Es fiel den Männern zunehmend schwer, zu atmen; wenn sie noch lange hierblieben, würden sie bald in dichten Rauch gehüllt sein und auf dem Weg zur Lobby die Orientierung verlieren, was ihren sicheren Tod bedeutete. Dennoch hoben sie die Bruchstücke der Steinplatte auf und schleuderten sie mit aller Kraft immer wieder auf den Boden und gegen die Wände, bis diese Schriftzeichen nicht mehr zu erkennen waren. Schließlich nahm Hunt das letzte Stück und schleuderte es den Gang hinunter, so weit weg, wie er nur konnte.
Die Satzung war vernichtet.
Die Insurance Group gab es nicht mehr.
»Kommt!«, rief Hunt. »Nichts wie weg!«
Der Geruch des Rauchs war jetzt überall, und die ersten schwarzen Rußschwaden zogen bereits durch mehrere Korridore und nahmen ihnen fast die Sicht. Dennoch waren die Gänge größtenteils leer; nur noch gelegentlich schlurften die mumienhaften Angestellten an ihnen vorbei. Sie schienen gleichgültig zu sein gegenüber dem, was hier vor sich ging. Doch Hunt und seine Freunde eilten durch die Gänge, am Labyrinth der Büroräume vorbei, ließen den verwitterten, steinalten Sekretär am Empfang hinter sich und erreichten schließlich die Lobby.
In der Beth und Manuel soeben auf dem kreisförmigen Bodenausschnitt in die Tiefe geschwebt kamen, den auch Hunt und seine Gefährten benutzt hatten, um diese Räumlichkeiten zu erreichen.
»Was macht ihr denn hier?«, rief Hunt ihnen zu. »Nichts wie raus! Hier stürzt bald alles in sich zusammen!«
Der Kreis setzte auf dem Boden auf, und Beth lief auf Hunt zu. »Dieser Wächter oben vor dem Eingang«, stieß sie hervor, schlang die Arme um Hunt und schauderte. »Er ist einfach ... geschmolzen. Hat sich in einen dampfenden Haufen Schleim verwandelt. Und dann sind wir euch hinterhergekommen. Wir dachten, ihr würdet Hilfe brauchen.«
Flüchtig erwiderte Hunt Beths Umarmung, während er fieberhaft nachdachte, wie sie am schnellsten fliehen konnten.
Fünf weitere Kreise kamen aus der Decke herabgesunken. Auf vieren stand jeweils ein Versicherungsvertreter in verschiedenen Stadien des körperlichen Zerfalls. Einer von ihnen, in einen grauen, chinesischen Geschäftsanzug gekleidet, stand aufrecht und schien noch am Leben zu sein, doch auch er schmolz, genau wie Beth es von dem Zwerg am Eingang berichtet hatte. Die rechte Hälfte seines Schädels tropfte auf seine Schulter, und sein linkes Bein zuckte, als führe er einen krampfartigen Tanz auf.
Hunt deutete auf den leeren Kreis. »Das da«, sagte er, »ist unsere Rückfahrkarte.«
Beth wirkte unsicher. »Lass uns lieber so zurückgehen, wie wir hergekommen sind.«
Jorge nickte. »Ja, das ist sicherer. Wir ...«
Ein Stück der Decke brach herunter, ein riesiger Felsbrocken. Er krachte ein paar Meter hinter ihnen auf den Gang. Rauch quoll aus dem Durchgang, aus dem sie gerade eben gekommen waren - mit solcher Wucht, dass der Windstoß ihnen die Haare zerzauste und Rußflecken auf ihren Gesichtern hinterließ.
»Schnell!«, sagte Joel und hustete. »Wir müssen verschwinden, sonst werden wir lebendig begraben!«
»Sí!«, rief Manuel, und auf seiner Miene spiegelte sich Entsetzen.
»Okay.« Hunt führte Beth zu dem Kreis und betrachtete die Konstruktion. Vier Personen mochte sie tragen, aber nicht fünf. »Ihr fahrt alle mit«, sagte er. »Ich komme nach.«
»Nein!«, rief Beth verzweifelt.
Hunt grinste. »Ich habe eine Lebensversicherung der Insurance Group.«
»Jetzt nicht mehr«, warf Joel ein.
»Geht!«
Doch der Kreis wollte nicht wieder aufsteigen, und keiner von ihnen wusste, wie man ihn in Bewegung setzte.
Jorge trat von dem Kreis herunter. »Versuch du 's«, sagte er zu Hunt.
Donnern und Krachen waren zu hören, als ein Teil der gegenüberliegenden Wand einbrach.
Hunt nickte und nahm den Platz ein, auf dem eben noch Jorge gestanden hatte. Nichts geschah. Der Kreis unter seinen Füßen zitterte nicht einmal.
»Es ist kaputt!«, heulte Manuel auf.
»Der andere«, sagte Hunt und zog Beth hinter sich her. »Selbst wenn es nicht unserer ist, muss er irgendwo hinführen.« Er lief zu dem leeren Kreis hinüber und stellte sich darauf. Sofort spürte er, wie ein kräftiges Zittern seinen ganzen Körper durchfuhr. »Kommt schon!«, rief er.
Beth drängte sich an ihn, stellte sich auf seine Füße wie ein Kind, das mit dem Vater spielte, während Manuel sich gegen Hunts Rücken presste. So schafften sie es doch noch alle fünf, auf dem Kreis Platz zu finden.
Und er begann aufzusteigen.
Aus den Tiefen unter ihnen war ein entsetzlicher Schrei zu hören, so laut, dass Hunt beinahe das Trommelfell platzte. Hätte er nicht schreckliche Angst gehabt, das Gleichgewicht zu verlieren und in die Tiefe zu stürzen, hätte er sich die Ohren zugehalten. Unweigerlich musste er an das fürchterliche, sich windende Ungeheuer in der Grube denken, das Maul für alle Zeiten in einem lautlosen Schrei aufgerissen - der jetzt nicht mehr lautlos war.
Der Schrei löste Hektik und Chaos bei allem und jedem aus, was nun tief unter Hunt und den anderen zurückblieb. All die schlurfenden, uralten Wesen strömten jetzt in die Lobby, wild entschlossen, die Eindringlinge zu vernichten. Doch deren Kreis war schon zu weit aufgestiegen, als dass sie ihn noch hätten erreichen können, und die Angestellten ...
Ex-Angestellten
... der Versicherung konnten nichts mehr ausrichten, sprangen in hilfloser Wut auf und ab und ruderten wild mit den Armen. Ein weiterer riesiger Brocken brach aus der Decke und verfehlte den aufsteigenden Kreis nur um wenige Zentimeter. Beth klammerte sich fester an Hunt. Der Felsbrocken landete auf einer Gruppe der mumienhaften Wesen und zermalmte sie, doch ehe sie reglos liegen blieben, zuckten noch einmal ihre widernatürlich dürren Arme.
Der Kreis stieg weiter empor.
Und kam ins Freie.
Wasser tropfte auf die Gefährten hinunter. Sie befanden sich im »Knast«. Hunt erkannte ihn sofort wieder, und seine Emotionen hätten ihn beinahe überwältigt: Sie waren wieder zu Hause! Sie hatten die Versicherungsgesellschaft besiegt, hatten diesem Schrecken ein für alle Mal ein Ende bereitet - dem Schrecken, der ihnen das Leben so lange zur Hölle gemacht hatte.
Wortlos trat Hunt von dem Kreis herunter, der jetzt aussah wie eine normale Schachtabdeckung; dann schloss er Beth fest in die Arme. Er hatte keine Ahnung, wie es möglich war, dass sie die Hauptgeschäftsstelle in Chiapas in Mexiko betreten hatten und nun hier in Tucson, Tausende von Meilen entfernt, wieder herausgekommen waren. Und doch war es so, und Hunt nahm es nur zu gerne hin.
Sie zwängten sich durch die halb offene, verrostete Tür ins Freie. Es war kurz nach Mittag, und die Sonne stand hoch am Himmel. Es war warm, die Luft klar und erfrischend. Verzweifelt versuchten die Gefährten, so schnell und so weit wie möglich von der Zerstörung und dem Inferno in der Tiefe fortzukommen, und rannten über den Sand auf den Südhang der Senke zu.
»¿Dónde estamos?«, fragte Manuel, und Jorge antwortete: »Tucson.«
»Das gibt dem Ausdruck multinationaler Konzern‹ eine ganz neue Bedeutung«, merkte Joel an.
Es war kein allzu guter Scherz, doch sie alle lachten, während sie weiterrannten; sie lachten vor Stolz und Erleichterung. Beth wischte sich Tränen aus den Augen. Sie konnte noch immer nicht fassen, wie knapp sie gerade dem Tod entronnen waren.
Am Rande der Senke blieben sie kurz stehen, ehe sie sich daranmachten, den Hang hinaufzuklettern.
»Seht!«, sagte Beth.
Hunt drehte sich um und sah, wie Rauch aus dem kleinen Gebäude drang. Deutlich zeichneten sich die Schwaden vor der Mittagssonne ab.
»Ihr habt es geschafft!«, rief Beth. »Ihr habt es wirklich geschafft!«
»Ja. Wir haben seine Police und die aller anderen Vertreter verbrannt. Dazu noch jede Menge Akten, die hoffentlich die neuesten Versicherungsabschlüsse enthielten - und hoffentlich waren unsere dabei.«
»Und wir haben ihre Satzung zu Klump geschlagen«, ergänzte Joel. »Das dürfte bedeuten, dass sie erledigt sind und dass ihre schwachsinnigen Geschäftsbedingungen keine Gültigkeit mehr besitzen. Schluss, aus, vorbei.«
Nervös schaute Beth zu dem kleinen Gebäude. »Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen. Vielleicht fliegt das Ding in die Luft!«
So müde und erschöpft sie auch waren, körperlich und geistig, so reichte das Adrenalin doch noch aus, sie den sandigen Hang erklimmen zu lassen. Oben angekommen, blieben sie stehen und warteten. Doch es gab keine Explosion und keine Implosion. Der Boden unter dem »Knast« tat sich nicht plötzlich auf und verschlang das kleine Gebäude.
Wieder rief Hunt sich ins Gedächtnis, dass der »Knast« nichts anderes war als ein Portal - und dass die Versicherungsgesellschaft sich in Wirklichkeit gar nicht hier befand.
Vielleicht war sie gar nicht in Mexiko gewesen.
Doch wo immer die Versicherung tatsächlich gewesen war, sie existierte nicht mehr. Mit der Vernichtung der Satzung der Insurance Group hatten sie die Gesellschaft zerstört - und damit auch die Versicherungspolicen, an die Hunt und die anderen gebunden waren.
Jorge setzte sich unter einen Grünholzbaum und schaute mit zusammengekniffenen Augen zu Hunt auf. »Und was machen wir jetzt mit unseren Versicherungen?« Er grinste. »Wohl doch wieder das Angebot des County annehmen, was?«
»Ich wünschte, wir würden nie mehr eine Versicherung benötigen«, sagte Beth.
»Aber wir brauchen sie«, gab Hunt zurück. »Und genau da liegt das Problem. Dem werden wir niemals entkommen können.«
Er dachte an all die Namen im Versicherungshandbuch, das sie im Aktenkoffer des Vertreters entdeckt hatten. Die Insurance Group hatte viele Fangarme.
Wie ein Krake.
Vielleicht waren sämtliche Versicherungsgesellschaften auf der ganzen Erde Teil der gleichen Firmengruppe. Vielleicht waren sie auf geheimnisvolle Art und Weise miteinander verbunden, waren Tochtergesellschaften des gleichen Mutterkonzerns. Vielleicht gehörte der Insurance Group ja schlichtweg alles. Vielleicht war sie der letztendliche Ursprung sämtlicher Versicherungen, die es seit Anbeginn der Zeit auf der Welt gegeben hatte, von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen.
Und vielleicht hatten sie dem ein Ende bereitet.
Ja, vielleicht.
Aber darüber wollte Hunt nicht mehr nachdenken. Irgendwann in der Zukunft würde vielleicht wieder ein Versicherungsvertreter zu ihnen kommen, um sie vor den Schicksalsschlägen des Alltagslebens zu beschützen, doch vorerst hatten sie die Versicherung besiegt, und Hunt hatte das Gefühl, dass es lange, sehr lange dauern würde, bis man sie wieder belästigte.
»¿Qué ... Wie spät ist es?«, fragte Manuel. »Hat jemand eine Uhr?«
»Will wirklich jemand wissen, wie spät es ist?«, fragte Jorge, zog sein Handy und versuchte, Ynez anzurufen.
»Interessiert das jemanden?« Joel holte ebenfalls sein Handy hervor, um Stacy anzurufen.
»Ich weiß auf jeden Fall, wie spät es nicht ist.« Müde lächelte Hunt und schaute zu Beth hinüber. »Halb Affenarsch, viertel vor Hodensack.«
Manuel blickte ihn verwirrt an, doch Beth lachte befreit, während Hunt dankbar zum blauen Himmel aufblickte und tief die klare, köstliche Wüstenluft atmete.