2.
Beth stieg aus, kaum dass Manuel gehalten hatte. Für die Pause waren sie zutiefst dankbar. Sie waren mehreren unbefestigten Straßen gefolgt und länger als eine Stunde durch eine völlig menschenleere Wildnis gefahren. Beths Oberschenkel waren taub, und ihr Hinterteil schmerzte. Der Wagen war heftig durchgeschüttelt worden, und in Beths Ohren klingelte es immer noch vom Dröhnen des Motors. Ihr Schädel fühlte sich wie angeschwollen an, wie in Watte gepackt, als hätte sie den ganzen Tag in einer Diskothek verbracht und die ganze Zeit ohrenbetäubende Musik gehört.
Sie streckte die Arme, krümmte den Rücken und machte ein paar Schritte, um die Verkrampfungen in den Beinen zu lockern.
Die Sonne stand tief am Himmel, der Nachmittag war fast vorbei. Ob diese »Hexe« nun Informationen für sie hatte oder nicht - bis zum morgigen Tag würden sie nichts unternehmen können. Hatten sie erst einmal wieder ihr Hotel erreicht, war es längst dunkel. Und sie war immer noch müde, obwohl sie erst gegen Mittag aufgestanden war. An den erschöpften Mienen von Hunt, Jorge und Joel konnte Beth ablesen, dass es ihren Freunden genauso erging. Vielleicht würden sie sich morgen, nach einer durchgeschlafenen Nacht, an das ungewohnte Klima und das fremde Land gewöhnt haben.
Hoffentlich.
Die Hexe war keine der modernen Wicca-Frauen, wie man sie aus Filmen kannte und die in modernen Wohnungen lebten und Straßenkleidung trugen. Diese Hexe war eine Frau wie aus dem Märchen: ein kleines, boshaft wirkendes altes Weib, das sich in der Welt von Hänsel und Gretel bestimmt sehr wohlgefühlt hätte.
Sie hauste in einer kleinen Hütte am Fuße einer schwarzen Klippe aus Vulkangestein. Die Hütte bestand aus Holz - aus Ästen und Zweigen, um genau zu sein, die jedoch sorgfältig zusammengefügt waren, sodass sie geschlossene Wände und eine ebensolche Decke bildeten. Die Behausung war bescheiden, besaß aber eine Aura von ungeheurer Macht - und von etwas abgrundtief Bösem.
Die Frau war alt und bucklig, ihr Gesicht war wettergegerbt und faltig, Haut kräuselte sich über der leeren rechten Augenhöhle; fast sah es aus, als würde sie beständig zwinkern. Sie roch nach Fäkalien und Gewürzen, doch Beth zwang sich, den aufsteigenden Würgereiz zu unterdrücken - sie hatte Angst davor, was geschehen könnte, wenn sie sich jetzt nicht beherrschte. Sie spürte, dass Hunt, der neben ihr stand, mit den gleichen Problemen kämpfte.
Die alte Frau schien Manuel nicht zu kennen, und sie begrüßte ihn misstrauisch, trotz seines geradezu unterwürfigen Auftretens. Doch er sprach deutlich und ernsthaft, und die Hexe hörte sich an, was er zu sagen hatte. Anders als Rodrigo schien sie weder an seinen Worten zu zweifeln noch seine ganze Geschichte einfach abzutun, sondern schien alles, was er von sich gab, zu akzeptieren.
»Was sagt er?«, fragte Hunt Jorge.
»Er erzählt ihr nur das, was du ihm erzählt hast. Jetzt beschreibt er gerade die Lebensversicherung, die dich unsterblich macht.«
Manuel streckte einen Finger aus, und die Hexe schaute Hunt geradewegs an.
Der Fremdenführer holte ein paar Münzen aus der Tasche und reichte sie respektvoll der alten Frau. Sie nickte, um anzuzeigen, dass sie seine Gabe akzeptierte. Dann sagte sie ein einziges Wort:
»Sí.«
»Sie weiß, wo die Versicherungsgesellschaft ihren Sitz hat«, erklärte Jorge ihnen.
Beth war unendlich erleichtert. Es war beinahe so, als hätte sie den Atem angehalten und auf diese Antwort gewartet. Sie griff nach Hunts Hand, drückte sie und war dankbar, als er die Geste erwiderte.
Manuel schaute Beth an und lächelte nervös, wobei er einmal mehr seine klaffenden Zahnlücken enthüllte. »Hexe möchte im Gegenzug auch etwas«, sagte er. »Sie will Haarsträhne von dir.«
Beth blieb fast das Herz stehen. Die Alte lächelte sie begierig an, und Beth wandte den Blick ab und drehte sich zur Seite, wo sie in einem selbstgemachten Drahtkäfig unglücklicherweise einen Kinderschädel liegen sah, von dessen Schädeldecke einige Stückchen abgetrennt waren.
Beth schauderte. Sie hatte keine Ahnung von Magie oder Hexerei, doch in Filmen und Romanen wurden Haare immer dazu benutzt, eine persönliche Bindung zu deren Eigentümer herzustellen, um Macht über ihn zu erlangen. Beth sah sich schon als eine Art Zombie, der wie ein Sklave für diese Alte schuften musste, sah sich Dinge gegen ihren Willen tun - allesamt Vorstellungen, die sie noch vor sechs Monaten als völlig lächerlich abgetan hatte. Doch jetzt erschienen sie ihr realistisch.
»Wie wäre es mit meinem Haar?«, bot Hunt an.
Manuel übersetzte die Frage, doch die Hexe schüttelte ärgerlich den Kopf, sagte irgendetwas und spuckte aus.
Beth wusste, warum Hunt das Angebot gemacht hatte. Die Lebensversicherung. Ihm konnte nichts geschehen. Sie hingegen war verwundbar, völlig ungeschützt - und das alles hier konnte durchaus Teil eines ausgeklügelten Plans der Versicherung sein, sie aus dem Weg zu räumen.
Dennoch - welche Wahl hatten sie?
»Also gut«, sagte Beth.
»Nein!«, lehnte Hunt entschieden ab.
Sie schauten einander an.
»Wir werden eine andere Möglichkeit finden, Beth«, sagte er.
»Genau«, mischte sich Joel ein, und Beth hörte die Furcht in seiner Stimme. »Tu das nicht.«
»Es gibt vielleicht keine andere Möglichkeit. Wir sind jetzt schon zwei Tage beschäftigt. Es werden mindestens drei. Ich muss es tun.« Beth trat vor, deutete auf ihren Kopf - und ehe sie bemerkte, wie ihr geschah, hatte die Hexe eine Schere in der Hand und schnitt oberhalb des rechten Ohres eine Strähne ab.
Sofort huschte die alte Frau zum hinteren Teil der Hütte und gab die Strähne in einen zerknitterten Papierbeutel; dann kam sie zurück und begann zu sprechen - zu schnell, als dass Manuel oder Jorge es simultan hätten übersetzen können. Die anderen konnten nichts tun als warten, bis die Alte fertig war, und dann der Zusammenfassung eines Dolmetschers lauschen.
Jorge versuchte sich als Erster daran. »Im Gebirge«, sagte er. »Sie meint, die Geschäftsstelle befinde sich in einem Canyon, der durch einen Stern in einer Klippe und einen Felsen in Gestalt eines Mannes gekennzeichnet ist.«
»Ja«, bestätigte Manuel.
Die Hexe sagte noch etwas, kurz und knapp, und das Gesicht des Fremdenführers hellte sich auf. »Sí«, sagte er. »Sí.« Lächelnd nickte er und erklärte den anderen: »Ich weiß, wo das ist.«
»Wie weit ist es von hier?«, fragte Hunt.
»Ein paar Stunden. Wir morgen fahren dorthin. Die Straße sehr schlecht.«
Dankbar, endlich diese faulig riechende Hütte verlassen zu können, folgte Beth Manuel durch den Eingang in die grelle Abendsonne und an die frische Luft. Kurz bevor sie die Tür hinter sich schlossen, sagte die alte Frau noch irgendetwas, wieder in dieser unglaublich schnellen Sprechweise. Manuel nickte und fiel ihr einmal kurz ins Wort; es klang fast wie eine Zustimmung. Doch er übersetzte ihre Worte nicht.
»Was hat sie gesagt?«, erkundigte sich Beth.
Manuel verzog das Gesicht. »Eine Warnung.«
»Vor der Versicherung?«
»Vor Babys«, antwortete Jorge und legte die Stirn in Falten.
»Babys?«, wiederholte Hunt. Dann schaute er peinlich berührt seinen Freund an und dachte an Jorges Kind, das so entsetzlich verstümmelt worden war.
Martina. Sie hatten ihn ... sie Martina genannt. Statt Martin.
Manuel ging über den staubigen Boden zum Pick-up. »Hier es gibt mehr ...«, er suchte das richtige Wort, »Geschehnisse als eure Versicherung. Das hier altes Land. Hier es gibt viele Religionen, viele Geister.«
»Aber was ist mit den Babys?«
»Sie hat gesagt, wir müssten uns davor hüten«, erklärte Jorge.
Beth hörte die Furcht in Hunts Stimme, als er nachfragte: »Und was bedeutet das?«
Manuel schüttelte den Kopf. »Das ich erkläre euch bei Rückfahrt. Wir jetzt müssen los. Sie nicht möchte, dass wir bei Einbruch der Dunkelheit noch hier.«
Auf der Rückfahrt erklärte Manuel den anderen, was es mit den Babys auf sich hatte; er musste ihnen die Geschichte geradewegs zuschreien, um das Dröhnen des Motors zu übertönen. Es war eine sonderbare und erschreckende Geschichte. Beth hatte das Gefühl, als wären sie alle einem Ungeheuer über den Kontinent gefolgt - nur um erfahren zu müssen, dass es aus dem Land der Ungeheuer stammte.
Manuel zufolge war es so, dass Babys, die in Chiapas starben, nicht in den Himmel kamen oder sonst irgendein Leben nach dem Tod hatten. Stattdessen blieben sie fest mit der Erde verbunden - und damit auch mit dem Dorf oder der Stadt, in der sie gestorben waren. Und sie waren zornig. Es wurde zum alleinigen Ziel ihrer unheiligen Existenz, die Lebenden zu plagen, sie vom Schlaf abzuhalten und sie in der Nacht zu ängstigen. Sie waren harmlos, solange man sie nicht ins Schlafzimmer ließ. Ob im eigenen Zuhause oder in einem Hotel: Sie konnten über Flure und durch Zimmer streifen, machten Lärm und erschreckten die Leute, doch sie konnten keinen physischen Schaden anrichten. Sobald sie aber in ein Schlafzimmer kamen, durch eine offene Tür oder ein Fenster, wurden sie stark, konnten angreifen und verletzen.
Und töten.
»Sie wollen strafen ihre Eltern, die sie haben sterben lassen. Doch ist ihnen jeder Erwachsene recht. Sie sehr listig«, warnte ihr Fremdenführer sie. »Sie so tun, als hätte man sie auf Türschwelle abgelegt, oder sie jaulen wie Katze, die ins Haus will, aber glaubt ihnen nicht! Sie wollen euch dazu bringen, sie in euer Zimmer zu lassen. Was immer ihr tut, öffnet keine Türen und keine Fenster. Bleibt im Bett. Geht wieder schlafen.« Manuel hielt inne. »Die Hexe euch gewarnt, ihr sollt vorsichtig sein. Sie sagt, sie würden zu euch kommen heute Nacht.«
Vor ihren Erlebnissen mit der Versicherung hätte Beth derartige Geschichten als Humbug abgetan. Doch jetzt versprach sie Manuel, bis zum Morgen keine Türen und keine Fenster zu öffnen.
Tatsächlich erwachte Beth mitten in der Nacht, als sie ein Baby schreien hörte. Und dann war da das Klopfen einer winzigen Hand, die oben gegen die Tür ihres Hotelzimmers hämmerte.
Das Baby muss in der Luft schweben!, schoss es Beth durch den Kopf.
Sie setzte sich im Bett auf und sah, dass Hunt ebenfalls wach war. Rasch schloss er die Augen wieder und tat so, als würde er schlafen, doch als Beth ihm mit dem Ellenbogen in die Rippen stieß, setzte er sich neben sie.
»Ich hör's«, gab er zu, ohne dass sie ihn hatte fragen müssen. Sie hörte die Furcht in seiner Stimme.
»Verdammt«, fluchte Beth. »Das macht mir Angst. Es ist wie eine Drohung. Als ob man uns sagen wolle: Verschwindet, solange ihr noch könnt.«
»Das glaubst du doch nicht wirklich?«
Sie zuckte mit den Achseln.
»Ich habe für eine Deluxe-Lebensversicherung unterschrieben«, sagte Hunt. »Wir müssen die Versicherungsgesellschaft finden - und die Police des Vertreters. Wir müssen ihn aufhalten, und zwar schnell. Sonst steht meine erste Beitragszahlung an, und die kann ich nicht bezahlen. Und dann ...« Er führte den Gedanken nicht zu Ende.
»Lebensversicherung. Vielleicht haben die Verbrecher dir deswegen nichts tun können«, meinte Beth. »An dir prallen jetzt Kugeln ab wie an Superman.« Eigentlich hatte sie ihn nur aufziehen wollen, doch so, wie sie es aussprach, klang es viel ernsthafter als beabsichtigt - und genauso fasste Hunt es auch auf.
»Vielleicht«, stimmte er zu.
Vor der Tür schrie wieder ein Baby. Hinter dem Vorhang hörte man, dass leise an die Fensterscheibe geklopft wurde. Unter der Decke kuschelten Hunt und Beth sich aneinander.
»Meinst du, Jorge hört das auch?«, fragte Beth und dachte an sein Kind.
»Ich hoffe nicht«, antwortete Hunt.