2.
Joel stand auf der Veranda hinter dem Haus und schaute über die Dächer der Nachbarschaft hinweg zu den fast pyramidenförmigen Bergspitzen der Rincon Mountains; ihre braunen Abhänge glühten im Licht der untergehenden Sonne orange wie ein Höllenschlund. Kaum, dass das Tageslicht verblasst war, fiel die Temperatur rapide, doch Joel machte keine Anstalten, ins Haus zu gehen. Im Haus war Lilly, und wenn er jetzt hineinging, würde er mit seiner Tochter ein Gespräch führen müssen, das er nicht führen wollte. Es war besser, hier draußen zu bleiben, bis Stacy ihn rief.
Das war feige, das wusste Joel selbst, aber er konnte nichts dagegen tun.
Er blickte zum Abendhimmel hinauf. Noch hatte die Nacht den Tag nicht ganz abgelöst, doch Mond und Venus standen schon am Himmel und leuchteten kalt und klar, obwohl die Sonne noch nicht ganz untergegangen war. Joel erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem er gelernt hatte, dass dieser helle »Stern« in Wirklichkeit die Venus war. Er war zehn Jahre alt gewesen. Die ganze Familie hatte einen Camping-Ausflug zum Mount Lemmon gemacht, und zu diesem Ausflug hatten sie auch Hunt mitgenommen. Nach dem Abendessen, als die Sonne schon untergegangen war, hatten ihre Eltern sich ins Zelt zurückgezogen, doch Hunt und er, Joel, waren noch draußen geblieben und hatten sich auf zwei Felsbrocken gehockt. Hunt hatte eine Karte des Nachthimmels aus der Tasche gezogen, die er extra mitgenommen hatte. Dann schaltete er seine Taschenlampe ein, richtete kurz den Lichtkegel auf die runde Scheibe aus dünnem Plastik und knipste die Lampe wieder aus. Die Karte leuchtete im Dunkeln, und Hunt drehte die Scheibe so lange, bis er die Positionen der einzelnen Himmelskörper zuordnen konnte. Dann deutete er auf den leuchtenden Stern, der im Westen aufstieg. »Das ist die Venus«, sagte er.
»Das ist der Polarstern«, widersprach Joel. Das hatte sein Vater ihm erklärt.
»Der steht doch gar nicht über dem Nordpol«, erwiderte Hunt. »Und schau doch auf die Karte. Siehst du? Genau da - und da steht die Venus.«
Joel schaute hin. »Du hast recht«, gab er zu. Er war entsetzt, dass sein Freund etwas wusste, was sein Vater nicht gewusst hatte.
»Die Venus ist normalerweise der erste Stern, der am Himmel auftaucht«, fuhr Hunt sachlich fort. »Obwohl sie gar kein Stern ist, sondern ein Planet.«
Nun erinnerte Joel sich an diese Nacht. Er fragte sich, ob Hunts Zelle ein Fenster hatte und ob sein Freund wohl auch den Nachthimmel sehen konnte.
Joel schloss die Augen, so schlimm war der Verspannungs-Kopfschmerz, der schon den ganzen Tag seinen Schädel marterte. Es war völlig unmöglich, dass Hunt ein Kinderschänder war. Das wusste Joel so sicher wie seine eigene Telefonnummer. Verdammt, seit Hunt Beth kennen gelernt hatte, schien sogar sein Interesse daran, anderen schönen Frauen hinterherzuschauen, völlig eingeschlafen zu sein.
Joel würde vor Gericht aussagen, dass er Hunt niemals, keine Sekunde lang, mit Kate oder Lilly alleine angetroffen hatte, wenn er bei ihm gewesen war.
Hinter sich hörte er ein Klicken und ein zischendes Geräusch, als die gläserne Schiebetür geöffnet wurde. Er drehte sich um. »Sie ist aus ihrem Zimmer gekommen«, sagte Stacy. »Ich glaube, wir sollten mit ihr reden.«
Joel nickte und folgte seiner Frau ins Haus. Lilly hatte sich aufs Sofa fallen lassen und zappte von einem Sender zum nächsten. Stacy setzte sich neben sie und nahm ihr vorsichtig die Fernbedienung aus der Hand. »Wir müssen reden«, sagte sie.
Lilly schüttelte den Kopf. »Will ich nicht.«
»Ich weiß, Schätzchen, aber es ist wichtig. Wir müssen herausfinden, was wirklich passiert ist.«
»Ich weiß es nicht!«
Auch Joel setzte sich nun und schaute seine Tochter geradewegs an. »Du bist ihre beste Freundin. Hat sie dir jemals etwas davon erzählt?«
Lilly war anzumerken, dass sie sich sehr unwohl fühlte.
»Schätzchen?«, hakte Stacy nach.
Mit unglücklicher Miene sagte Lilly: »Ja.«
»Ja was?«, fragte Joel vorsichtig nach. »Sie hat dir davon erzählt?«
»Sie hat gesagt, es wäre Mr. Jackson, aber ich wusste, dass das nicht sein kann, weil sie einmal angerufen und mir davon erzählt hat, gleich nachdem es passiert war, und da war Mr. Jackson hier bei euch.« Der ganze Satz brach aus Lilly heraus wie ein Sturzbach. Dann schwieg sie, und ihr Gesicht war knallrot, so peinlich war ihr das Ganze.
Unterstützend legte Stacy ihr die Hand auf die Schulter. »Hat Kate dir sonst noch was erzählt? Hast du irgendwas gesehen, als ihr beide bei ihr zu Hause wart, oder im Park?«
»Einmal habe ich einen Mann gesehen«, gab sie zu. »Im Park. Wir waren mit dem Rad da, und Kate hat ihn auch gesehen und ist stehen geblieben und hat sich ganz schnell umgedreht. Ich dachte, sie kennt ihn vielleicht ... es war, als hätte sie den Mann schon mal irgendwo gesehen, aber als ich sie danach gefragt hab, hat sie nicht darüber reden wollen.«
Joels Puls raste. »Wie hat der Mann ausgesehen?«
»Ich hab sein Gesicht nicht gesehen. Er hat an einem Baum gestanden, und es war schon ganz dunkel. Ich konnte nur sehen, dass er groß war und so einen altmodischen Hut aufhatte.«
»Groß?«, fragte Joel, und allein schon das Wort beunruhigte ihn.
»Ja. Wie ein Football-Spieler ... na ja, vielleicht nicht ganz so groß. Und er ging irgendwie krumm.«
»Warum hast du uns nichts davon erzählt, als das passiert ist?«
Unglücklich zuckte Lilly mit den Schultern.
»Hast du gedacht, wir würden dich dann nicht mehr in den Park fahren lassen?«
Lilly nickte.
Joel stand auf. »Das müssen wir der Polizei erzählen.«
Stacy legte ihm die Hand auf den Arm und zog ihn wieder zu sich aufs Sofa. »Das beweist gar nichts. Es hilft Hunt vielleicht, aber es beweist doch überhaupt nicht, dass er in Wirklichkeit gar nichts getan hat.«
Lilly schaute ihre Mutter an. »Hat Onkel Hunt so was ... wirklich gemacht?«
»Nein, Schätzchen. Wir glauben nicht, dass er so etwas getan hat.«
»Ich auch nicht«, sagte Lilly mit fester Stimme. »Aber«, fügte sie dann leise hinzu, »Kate glaubt das.«